Wolfgang Vogelsang, LL.M (London)
wissenschaftlicher Assistent
Lehrstuhl Prof. Dr Stephan Lorenz


Arbeitsgemeinschaft Zivilrecht IV

ZPO-Erkenntnisverfahren

5. Arbeitsgemeinschaft

Parteiverhalten I
Klageänderung; Erledigungserklärung; Veräußerung des Streitgegenstands;
Parteiänderung; Vergleich; Widerklage


Fall 1:          "Ruinen schaffen ohne Waffen"

(vgl. BGH NJW 1996, 2869)

K beauftragt die B-AG (B) als Generalunternehmerin mit Vertrag von 20.3.1997 mit der schlüsselfertigen Bebauung eines Grundstücks zum Pauschalpreis von DM 2,4 Mio. Vertragsgemäß übergibt K der B eine selbstschuldnerische Bürgschaft auf erste schriftliche Anforderung bis zum Höchstbetrag von DM 240.000. Am 11.2.1998 übersendet die B dem K eine Rechnung für Erdarbeiten in Höhe von DM 260.000. K bezahlt jedoch nicht, sondern kündigt den Generalunternehmervertrag am 18.2.1998 aus wichtigem Grund; ihrer Aufforderung zur Rückgabe der Bürgschaftsurkunde kommt B nicht nach. Um eine Inanspruchnahme der Bürgin zu vermeiden, erhebt die K Klage vor dem zuständigen LG Klage auf Herausgabe der Bürgschaftsurkunde. B erwirkt indessen gegen die Bürgin ein rechtskräftiges Urteil, durch das ihr der Bürgschaftsbetrag in Höhe von DM 240.000 zugesprochen wird. Nachdem die Bürgin gezahlt hat, ändert die K ihren Antrag und verlangt statt Herausgabe der Bürgschaftsurkunde die Rückzahlung der Bürgschaftssumme sowie DM 200.000 Schadensersatz, insgesamt also DM 440.000. Zur Begründung der Schadensersatzforderung führt sie aus, daß nach der von B zu vertretenden Kündigung des Generalunternehmervertrags die Bauausführung Mehrkosten in dieser Höhe verursacht habe. Im ersten mündlichen Termin widerspricht B dem geänderten Antrag.

Prüfen sie in einem Gutachten die Zulässigkeit der Zahlungsklage.


Lösung:

  1. Fraglich ist zunächst, ob die Zahlungsklage, genauer: die Rückzahlungs- und Schadensersatzklage ordnungsgemäß erhoben wurde.

    1. K hat gem. §§ 253 Abs, 1, 261 Abs. 2 ZPO zunächst einen Antrag auf Herausgabe der Bürgschaftsurkunde rechtshängig gemacht.
    2. Sein nunmehriges Begehren auf Zahlung (Rückzahlung bzw. Schadensersatz) stellt einen neuen Klageantrag dar, wenn es einen anderen Streitgegenstand als das ursprüngliche Begehren hat. Das ist nach dem sog. herrschenden zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff dann der Fall, wenn das neue Begehren einen anderen Antrag hat und bzw. oder auf einem anderen Lebenssachverhalt beruht.
      Die Zahlungsklage hat einen anderen Antrag als die Herausgabeklage und somit einen anderen Streitgegenstand. Folglich muß dieser Antrag rechtshängig geworden sein. Das ist gem. § 261 Abs. 2 ZPO der Fall.
  2. Zulässigkeit der Klageänderung
    Nach ganz h.M. ist die Einführung eines neuen Streitgegenstands in den Prozeß eine Klageänderung. Zu prüfen ist daher, ob die besondere Sachurteilsvoraussetzung der Zulässigkeit der Klageänderung (vgl. §§ 263 bis 268 ZPO) gegeben ist.

    1. Rückzahlungsanspruch
      Die Änderung der Herausgabeklage in die Klage auf Rückzahlung der Bürgschaftssumme von DM 240.000 könnte gem. § 264 Nr. 3 ZPO zulässig sein.
      Nach § 264 Nr. 3 ZPO ist es nicht als eine Änderung der Klage anzusehen, wenn statt des ursprünglich geforderten Gegenstandes wegen einer später eingetretenen Veränderung ein anderer Gegenstand oder das Interesse gefordert wird.

      • § 264 Nr. 3 ZPO setzt zunächst voraus, daß sich die Forderung eines anderen Gegenstandes oder des Interesses auf eine nach Erhebung der ursprünglichen Klage eingetretene Veränderung stützt, d.h. die Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse muß nach Erhebung der ursprünglichen Klage eingetreten oder dem Kläger bekannt geworden sein (1). Der Begriff Gegenstand bedeutet hier nicht Streitgegenstand, sondern das Objekt, das gefordert wird. Der andere Gegenstand oder das Interesse muß statt des ursprünglich geforderten Gegenstands gefordert werden. Daraus folgt, daß § 264. Nr. 3 ZPO nur eingreift, wenn der ursprüngliche (prozessuale) Anspruch noch rechtshängig ist.
        Durch die im Laufe des Verfahrens erfolgte Auszahlung des Bürgschaftsbetrags an die B ist eine Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten. Der ursprüngliche prozessuale Anspruch, die Klage auf Herausgabe der Bürgschaftsurkunde, ist noch rechtshängig. Statt dieser fordert K die Rückzahlung der Bürgschaftssumme, also deren Surrogat, und somit einen anderen Gegenstand.
      • Des weiteren setzt § 264 Nr. 3 ZPO - wie sämtliche Fallgruppen des § 264 ZPO - voraus, daß, abgesehen von der tatsächlichen Veränderung, der Klagegrund, also der zur Begründung des Klageantrags vorgetragene Lebenssachverhalt unverändert bleibt (2). Durch die Umstellung vom Herausgabeanspruch auf den Rückzahlungsanspruch ändert sich der Klagegrund nicht, vgl. BGH NJW 1996, 2869:

        Sowohl der Anspruch auf Herausgabe der Bürgschaftsurkunde, der sich grundsätzlich aus der Sicherungsabrede im Generalunternehmervertrag ergeben konnte (vgl. BGH, NJW 1989, 1482 = LM § 765 BGB Nr. 64 = WM 1989, 521 (524) m.w.Nachw.), als auch der Anspruch auf Rückzahlung der Bürgschaftssumme wegen ungerechtfertigter Bereicherung (vgl. BGH, NJW 1992, 1881 = LM H. 8/1992 § 765 BGB Nr. 80 = WM 1992, 773 (776)) setzten voraus, daß die Bekl. nach der Kündigung des Generalunternehmervertrags keine durch die Bürgschaft gesicherten Forderungen hatte; dann hatte die Bekl. kein Recht mehr zum Besitz der Bürgschaftsurkunde und keinen Anspruch auf den Bürgschaftsbetrag. Dementsprechend bezog sich die Kl. zur Begründung des Rückzahlungsanspruchs im wesentlichen auf den Vortrag, auf den sie bereits den Herausgabeanspruch gestützt hatte.

      • Somit ist die Änderung der Herausgabeklage in die Klage auf Rückzahlung der Bürgschaftssumme gem. § 264 Nr. 3 ZPO zulässig.
    2. Schadensersatzanspruch
      • Die Einführung des Schadensersatzanspruchs kann nur dann auf § 264 Nr. 3 ZPO gestützt werden, wenn er auf dem gleiche Klagegrund beruht. Den Schadensersatzanspruch stützt K darauf, daß sie infolge der Pflichtverletzungen der B Dritte mit der Ausführung der Bauvorhaben habe beauftragen müssen, wodurch ihr beträchtliche Mehrkosten entstanden seien. Das ist ein anderer Lebenssachverhalt. Mit der Schadensersatzforderung führt K somit einen neuen prozessualen Anspruch ein.
      • Bei der Umstellung der Klage vom Herausgabe- auf den Schadensersatzanspruch könnte es sich aber um eine zulässige Klageerweiterung im Sinne von § 264 Nr. 2 ZPO handelt. Diese Vorschrift setzt jedoch wie sämtliche Fallgruppen des § 264 ZPO voraus, daß der Klagegrund, also der zur Begründung des Klageantrags vorgetragene Lebenssachverhalt unverändert bleibt; dies ist aber wie unter aa dargelegt gerade nicht der Fall.
      • Zulässigkeit gem. § 263 ZPO
        Auch wenn die Einführung eines weiteren, selbständigen Streitgegenstands nicht unter § 264 ZPO subsumiert werden kann, so wird diese sog. nachträgliche objektive Klagehäufung doch von der ganz h.M. (3) als ein Fall der Klageänderung aufgefaßt, deren Zulässigkeit sich nach § 263 ZPO direkt oder analog bestimmt.

        • Folglich ist die Umstellung des Herausgabeklage auf die Schadensersatzklage eine zulässige Klageänderung, wenn B

          • in diese Umstellung eingewilligt hat (§ 263, 2. Halbsatz, 1. Alt. ZPO) oder
          • sich auf die Schadensersatzklage einläßt, ohne der Umstellung zu widersprechen. In diesem Fall wird seine Einwilligung unwiderlegbar vermutet, § 267 ZPO.
            Da B im ersten mündlichen Termin der Umstellung von der Herausgabe- auf die Zahlungsklage widersprochen hat, ist beides nicht der Fall.

        • Die Umstellung auf den Schadensersatzanspruch könnte aber wegen Sachdienlichkeit zulässig sein (§263, 2. Halbsatz, 2. Alt. ZPO).
          Die Sachdienlichkeit ist objektiv nach der Prozeßwirtschaftlichkeit zu beurteilen. Sie ist zu bejahen, wenn der bereits gewonnene bzw. noch zu gewinnender Prozeßstoff, insbes. Beweiserhebungen, auch für die geänderte Klage verwertbare Entscheidungsgrundlagen liefert. Sie ist dagegen zu verneinen, wenn der Kläger einen völlig neuen Prozeßstoff vorträgt, für den das Ergebnis der bisherigen bzw. parallelen Prozeßführung nicht verwertet werden kann.
          Zur Begründung der Schadensersatzforderung muß K völlig neuen Prozeßstoff einführen, für den der Prozeßstoff des Rückforderungsprozesses nicht verwertet werden kann. Im letzteren geht es darum, ob B bis zu Kündigung gem. § 649 BGB einen durch Bürgschaft gesicherten Werklohnanspruch gehabt hat, im ersteren darum, ob infolge der Kündigung des Werkvertrags gem. § 649 BGB Mehraufwendungen entstanden sind. Beide Klagen stehen daher ziemlich isoliert nebeneinander Der Gedanke der Prozeßwirtschaftlichkeit spricht folglich gegen die Sachdienlichkeit der Klageänderung.
      • Die Umstellung der Herausgabeklage auf die Schadenersatzklage ist daher eine unzulässige Klageänderung.
    3. Fraglich ist schließlich, ob die Umstellung des Klageantrags vom Herausgabe- auf eine den Rückzahlungs- und Schadensersatzanspruch kombinierende Zahlungsklage prozessual einheitlich beurteilt werden muß. Das verneint der BGH zu Recht, vgl. NJW 1996, 2869 f:

      Die gesetzliche Regelung der eingeschränkten Zulässigkeit der Klageänderung in den §§ 263ff. ZPO dient zunächst dem Schutz des Bekl.; er hat grundsätzlich einen Anspruch auf eine sachliche Entscheidung über den ursprünglichen Antrag des Kl. und soll sich in einem lau-(Seite 2870) fenden Verfahren nicht gegen einen geänderten Angriff verteidigen müssen. Andererseits haben der Kl. und das Gericht ein berechtigtes Interesse an einer alsbaldigen, prozeßwirtschaftlichen Erledigung des Streitstoffs. Den sich daraus ergebenden Konflikt entscheidet § 264 ZPO für die dort geregelten Fälle zugunsten des Kl. Er soll berechtigt sein, unter bestimmten Voraussetzungen seinen Antrag zu ändern, sofern nur der Klagegrund unverändert bleibt. Diese Entscheidung des Gesetzgebers ist auch dann zu respektieren, wenn der Kl. zusätzlich einen neuen prozessualen Anspruch erhebt. Über ihn kann, wie auch sonst bei Klagehäufungen nach § 260 ZPO, unabhängig vom anderen Anspruch entschieden werden, auch wenn die verschiedenen Ansprüche zu einem einheitlichen Antrag zusammengefaßt sind. An der Interessenlage ändert eine solche Zusammenfassung nichts. Es besteht kein Grund, dem Kl. die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit, die Klage nach § 264 ZPO umzustellen, zu nehmen, nur weil er neben dieser Umstellung einen zusätzlichen Streitgegenstand in den Prozeß einführt.

  3. Folglich ist die Zahlungsklage nur bezüglich des Rückzahlungsanspruchs zulässig (vom Vorliegen der übrigen Sachurteilsvoraussetzungen ist mangels Angaben im Sachverhalt auszugehen). Bezüglich des Schadensersatzanspruches ist die Klageänderung durch Prozeßurteil als unzulässig abzuweisen.


FN 1: st. Rspr., vgl. Stein-Jonas/Schumann, § 264 Rdnr. 75 (Fn. 126) (zurück).

FN 2: BGH NJW 1992, 117; BGH, NJW 1994, 460;Stein-Jonas/Schumann, § 264 Rdnr. 51 m.w.N. (zurück).

FN 3: BGH NJW 1985, 1841; Thomas-Putzo/Thomas, § 263 Rdnr. 1; Zöller/Greger, § 263 Rdnr. 2; Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 99 I 2 b; a.A. Stein-Jonas/Schumann, § 264 Rdnr. 11 (zurück).