Fortgang des Verfahrens bei Unwirksamkeit des Prozeßvergleichs ("Doppelnatur") 

BGH, Urteil v. 29.9.1958, VII ZR 198/57


Amtlicher Leitsatz

Ob ein Prozeßvergleich aus sachlichrechtlichen Gründen nichtig oder anfechtbar ist, kann, sofern die Geltendmachung der Nichtigkeit oder der Anfechtbarkeit die Beendigung des Rechtsstreits durch den Vergleich in Frage gestellt wird, durch Fortsetzung des bisherigen Rechtsstreits geklärt werden.


Fundstellen:

BGHZ 28 , 171
NJW 1958, 1970
MDR 1958, 915
JZ 1959, 129
BB 1958, 1107
WM 1958, 1394
LM § 779 BGB Nr. 13
Vgl. auch BGHZ 41, 310; BGH NJW 1999, 2903; BGH NJW 2002, 1503


Sachverhalt:

Das Landgericht hat den Beklagten durch Teilurteil zur Zahlung von 23 799,22 DM nebst Zinsen verurteilt. In der Berufungsinstanz kam es zu einem gerichtlichen Vergleich. Darin verpflichtete sich der Beklagte zum Ausgleich aller gegenseitigen Ansprüche der Parteien aus dem Rechtsstreit ohne Anerkennung einer Rechtspflicht, 30 000 DM nebst 5% Zinsen ab 1. März 1954 an die Klägerin zu zahlen.
Mit Schriftsatz vom 24. März 1956 machte der Beklagte geltend, der Vergleich sei nichtig und wegen arglistiger Täuschung anfechtbar.
Das Oberlandesgericht hat die Berufung zurückgewiesen. I) Die Revision des Beklagten hatte keinen Erfolg.

Aus den Gründen:

Das Oberlandesgericht hat über den Antrag des Beklagten, mit dem dieser die Nichtigkeit des Prozeßvergleichs vom 5. März 1954 geltend gemacht und die Vergleichsabreden wegen arglistiger Täuschung angefochten hat, in Fortsetzung des durch den Vergleich abgeschlossenen Rechtsstreits entschieden. Dieses Verfahren ist nicht zu beanstanden.
Der gerichtliche Vergleich ist eine Prozeßhandlung, deren Wirksamkeit sich nach den Grundsätzen des Verfahrensrechts bestimmt, zugleich aber auch ein privatrechtlicher Vertrag, auf den die Regeln des materiellen Rechts anwendbar sind (BGHZ 16, 388, 390). Die den Prozeß beendigende Wirkung des gerichtlichen Vergleichs entfällt nicht nur dann, wenn dem Vergleich als Prozeßhandlung nicht behebbare Mängel anhaften, sondern regelmäßig auch dann, wenn ein sachlichrechtlich wirksamer Vertrag zwischen den Vergleichspartnern nicht zustande gekommen, wenn er von vornherein nichtig gewesen oder durch Anfechtung nichtig geworden ist. Denn in aller Regel muß davon ausgegangen werden, daß nur eine sachlichrechtlich wirksame Vereinbarung dem Vergleich die Wirkung einer den Rechtsstreit erledigenden Prozeßhandlung verleihen soll.
Die Erkenntnis der Doppelnatur des Prozeßvergleichs und dessen von der Rechtsbeständigkeit seiner formellen und materiellen Grundlagen gleichermaßen abhängigen Wirksamkeit als Prozeßhandlung sowie Erwägungen vornehmlich prozeßwirtschaftlicher Art haben in der Rechtslühre mehr und mehr zu der Auffassung geführt, daß auch der Streit um die Wirksamkeit des Vergleichsvertrages, sofern dadurch die Beendigung des Rechtsstreits in Frage gestellt wird, in Fortsetzung des bisherigen und nicht durch Anstrengung eines neuen Prozesses ausgetragen werden sollte (vgl. namentlich Rosenberg, Lehrbuch 7. Aufl. § 128 III 3; Stein/Jonas/Schönke 18. Aufl. Bem. II 3 a, Seuffert/Walsmann, Bem. II k zu § 794 ZPO; Lehmann, Prozeßvergleich (1911) S. 232 ff).
Das Reichsgericht hat im Gegensatz hierzu, wenn auch mit gelegentlichen Abweichungen, die Ansicht vertreten, grundsätzlich müsse der Streit um die Wirksamkeit der Anfechtung eines gerichtlichen Vergleichs wegen Irrtums oder arglistiger Täuschung ebenso wie der Streit um die aus einem anderen Grunde, z. B. wegen Sittenwidrigkeit oder wegen Geschäftsunfähigkeit eines Vergleichspartners, geltend gemachte Nichtigkeit eines Prozeßvergleichs in einem besonderen Rechtsstreit durchgeführt werden (RGZ 65, 420; 78, 286, 288; 106, 312, 314 f; 141, 104, 106 f). Ausnahmsweise hat es die Fortsetzung des bisherigen Prozesses dann zugelassen, wenn sich der Streit über die Gültigkeit des Vergleichs in einer Rechtsfrage erschöpft oder wenn die Entscheidung darüber von unstreitigen oder sonst keiner besonderen Beweiserhebung bedürftigen Tatsachen abhängt (RGZ 65, 420; RG bei Gruchot 50, 425, 428; vgl. auch RGZ 162, 198, 199 f). Diesen Standpunkt hat das Reichsgericht damit begründet, daß einem Prozeßvergleich gemäß § 794 ZPO die gleichen Vollstreckungswirkungen beigelegt seien wie einem vollstreckbaren Urteil. Dem durch gerichtlichen Vergleich abgeschlossenen Rechtsstreit könne daher so lange kein Fortgang gegeben werden, als die Wirkungen des Prozeßvergleichs nicht in einem anderen Verfahren beseitigt seien. Die durch den Vergleichsabschluß gewonnene klare Prozeßlage solle nicht zugunsten einer ihrer Berechtigung nach zweifelhaften, einseitigen Anfechtung aufgegeben werden (so RG Gruchot 50, 428; RGZ 78, 289). Das Vorbringen der den Vergleich anfechtenden Partei könne sich auch als unschlüssig oder unzutreffend erweisen. Dann aber würde das nachträgliche Verfahren zugelassen worden sein, obwohl auch die entgegengesetzte Ansicht nicht bestreiten könne, daß der Rechtsstreit durch den Prozeßvergleich bereits beendigt sei (so RG Gruchot aaO; RGZ 106, 313 f).
Der Bundesgerichtshof hat die hier erörterte Frage, soweit ersichtlich, noch nicht entschieden (vgl. BGHZ 14, 381, 386; 16, 388, 391; Urteil des erkennenden Senats vom 27. März 1958 - VII ZR 197/57-). Immerhin ist in den zuerst angeführten beiden Entscheidungen ebenso wie in dem diese Frage zuletzt berühr6nden Urteil des Reichsgerichts (RGZ 162, 198) die Neigung erkennbar, den Streit über die materiellrechtliche Wirksamkeit eines Prozeßvergleichs möglichst in dem Rechtsstreit austragen zu lassen, den der Vergleich beendigen sollte.
Bei Abwägung aller Umstände ist dieser in der Rechtslehre ganz überwiegend, auch von zahlreichen Oberlandesgerichten (z. B. Breslau HRR 1940, 1316; Düsseldorf JMBI NRW 1950, 116; Hamburg JZ 1952, 313 f) und in dem angefochtenen Urteil vertretenen Ansicht der Vorzug zu geben.
Es entspricht schon dem natürlichen Rechtsempfinden, die Frage, ob ein gerichtlicher Vergleich aus sachlichrechtlichen Gründen nichtig oder anfechtbar ist und ob er den Prozeß erledigt hat, nicht in einem besonderen Verfahren, sondern in dem bisherigen Rechtsstreit zu entscheiden. Das hat einmal den Vorzug, daß ein zweiter Prozeß um die Wirksamkeit des Vergleichs mit allen Kosten- und Verzögerungsfolgen vermieden wird und daß bereits erhobene Beweise alsbald benutzt werden können. Ein solches Verfahren führt aber auch dazu, daß in der Mehrzahl der Fälle die Richter, die den Prozeßstoff kennen und an dem Vergleich mitgewirkt haben, also auf Grund ihrer Sachkenntnis hierzu besonders geeignet sind, über den Bestand des Vergleichs entscheiden. Würde man die Frage, ob der durch den Vergleich beendigte Prozeß fortzusetzen ist, von der Entscheidung in einem besonderen Rechtsstreit abhängig machen so müßte für den Fall, daß sich die Berufung eines Beteiligten auf die Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit des Vergleichs als gerechtfertigt erwiese, das Gericht, unter dessen Mitwirkung der Vergleich zustande gekommen ist, den früheren Rechtsstreit fortsetzen und in der Sache selbst entscheiden. Das wäre ein höchst umständliches, durch die Sache nicht gerechtfertigtes insbesondere nicht erfordertes Verfahren. Der Hinweis des Reichsgerichts, im umgekehrten Falle sei das Gericht, das den Rechtsstreit fortgesetzt habe, in eineni in Wahrheit tatsächlich erledigten Verfahren tätig geworden, spricht nicht entscheidend gegen die Zulässigkeit der Fortsetzung eines Rechtsstreits nach dem Abschluß eines Vergleichs. Wie schon Lehmann (aaO S. 233) und ihm folgend Rosenberg (aaO S. 608) mit Recht hervorheben, kommt das Gericht, ohne daß hiergegen Einwände erhoben worden sind, auch aus anderen Anlässen in die gleiche Lage, z. B. bei einem Streit über die Zulässigkeit oder Wirksamkeit einer Klagerücknahme, wenn diese zugleich einen Verzicht auf den Klageanspruch enthält.
Den Grundsatz, daß über die Rechtsgültigkeit eines Vergleichs, dessen Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit geltend gemacht ist, in einem besonderen Rechtsstreit zu entscheiden sei, hat das Reichsgericht im übrigen selbst durchbrochen; denn es hat die Fortsetzung des bisherigen Verfahrens trotz Abschlusses eines Vergleichs für zulässig erklärt, wenn sich die Entscheidung in einer Rechtsfrage erschöpfe oder wenn sie von unstreitigen oder sonst keiner besonderen Beweiserhebung bedürftigen Tatsachen abhänge (RGZ 65, 420, 422; 78, 286, 289; 106, 312, 315 f). Wäre die Fortsetzung eines durch gerichtlichen Vergleich abgeschlossenen Rechtsstreits in dem bisherigen Verfahren schlechthin undenkbar, so müßte dies für alle Sachen dieser Art gelten. Es wäre nicht angängig, für den Fall, daß die Entscheidung nur eine Rechtsfrage betrifft oder das Gericht ohne weitere Beweiserhebung entscheiden kann, Ausnahmen zuzulassen.
Tatsächlich sind die vom Reichsgericht für seine grundsätzliche Auffassung angeführten Gründe nicht durchschlagend. Die durch den Vergleich erzielte klare Rechtsposition wird dadurch, daß die Prüfung seiner Rechtswirksamkeit in dem alten Prozeß zugelassen wird, nicht in höherem Maße in Frage gestellt, als wenn dessen Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit in einem neuen Rechtsstreit geltend gemacht wird. In beiden Fällen kann die Partei, die den Vergleich anficht, im Falle gehöriger Glaubhaftmachung ihres Vorbringens in entsprechender Anwendung der §§ 707, 719, 769 ZPO die Vollstreckung aus dem Vergleich einstweilen abwenden lassen.
Ebensowenig bildet die grundsätzliche Gleichstellung des Prozeßvergleichs mit dem Urteil in vollstreckungsrechtlicher Hinsicht einen genügenden Anlaß, derartige Vergleiche auch sonst wie Urteile zu behandeln und dem Gericht, unter dessen Mitwirkung der Vergleich zustande gekommen ist, die Prüfung seiner Rechtswirksamkeit in demselben Rechtsstreit zu versagen. Allerdings bleibt die Vollstreckbarkeit eines rechtskräftigen Urteils bestehen, bis dieses auf Grund einer in einem besonderen Verfahren ergangenen Entscheidung aufgehoben oder die Zwangsvollstreckung aus ihm für unzulässig erklärt wird. Aus dieser für ein gerichtliches Erkenntnis geltenden Regelung lassen sich aber keine maßgebenden Gesichtspunkte dafür gewinnen, in welchem Verfahren die Wirksamkeit eines Prozeßvergleichs nachzuprüfen ist; denn im Unterschied zum Urteil stellt dieser keinen Akt der Staatsgewalt dar, sondern verdankt seine Entstehung einer - unter bestimmten Voraussetzungen gerichtlich sanktionierten und mit besonderen Wirkungen ausgestatteten - privatrechtlichen Parteivereinbarung. Es liegt auf der Hand, daß ein auf diese Weise zustande gekommener vollstreckbarer Titel mehr Angriffspunkte bietet und daher stärkeren Einwendungen ausgesetzt ist, als ein nach einem prozeßrechtlich bis in alle Einzelheiten geregelten Verfahren ergangenes Urteil der staatlichen Gerichte. Die zu deren Nachprüfung erlassenen Vorschriften können daher für das entsprechende Verfahren bei Prozeßvergleichen regelmäßig nicht als Richtschnur dienen.
Richtig ist, daß den Parteien eine Instanz verloren geht, wenn der Vergleich, wie hier, erst in der Berufungsinstanz geschlossen ist und die Wirksamkeit des Vergleichs im selben Verfahren angegriffen wird. Aber auch dieser Gesichtspunkt spricht nicht entscheidend gegen die Zulässigkeit eines solchen Verfahreqs. Denn die Gründe, die gegen die sachlichrechtliche Wirksamkeit eines Vergleichs anzuführen sind, werden sich meistens mit dem in zwei Rechtszügen vorgetragenen Prozeßstoff decken oder doch eng mit ihm zusammenhängen, so daß sich eine Prüfung der gegen den Vergleich gerichteten Angriffe in zwei weiteren Tatsacheninstanzen erübrigt. Soweit aber die Rechtswirksamkeit eines Vergleichs aus prozessualen Gründen bezweifelt wird, hält auch das Reichsgericht die Prüfung in dem bisherigen Rechtsstreit für zulässig (RGZ 106, 314). Gerade hier aber werden häufig Gesichtspunkte auftauchen, die in dem dem Vergleichsabschluß vorangegangenen Verfahren noch nicht erörtert worden sind.
Angesichts der eingangs hervorgehobenen, moderner Prozeßauffassung entsprechenden allgemeinen Gesichtspunkte kann die Rechtsprechung des Reichsgerichts somit nicht als ein Hindernis angesehen werden, die Rechtswirksamkeit eines gerichtlichen Vergleichs auch dann in Fortsetzung des bisherigen Rechtsstreits nachzuprüfen, wenn seine Nichtigkeit - sei es auf Grund einer Anfechtung, sei es als von vornherein bestehende - geltend gemacht wird (vgl. auch BAG NJW 1957, 1127 Nr. 31; BAG JZ 1956, 660. Soweit in diesen Entscheidungen im Gegensatz zu dem Urteil vom 10. März 1955 (BGHZ 16, 388) die Fortsetzung des Rechtsstreits auch für den Fall zulässig gehalten wird, daß eine Partei von dem Vergleich zurücktritt oder Schadensersatz wegen Nichterfüllung fordert, braucht auf sie nicht eingegangen zu werden, da es sich hier nur um die Wirksamkeit des Vergleichs, nicht um die Folgen eines an sich rechtswirksam zustande gekommenen Vergleichs handelt).
Das Berufungsgericht hat hiernach ohne Verfahrensverstoß in Fortsetzung des ursprünglichen Rechtsstreits über die Wirksamkeit des Vergleichs vom 5. März 1954 entschieden.