Keine Gutglaubenswirkung bei sich widersprechenden Erbscheinen; kein Erfordernis der Erbscheinsvorlage bei § 2365 BGB


BGH v. 23.11.1960 - V ZR 142/59


Fundstelle:

BGHZ 33, 314


Amtl. Leitsatz:

Bei mehreren einander widersprechenden Erbscheinen entfällt für jeden Erbschein, soweit ein Widerspruch besteht, nicht nur die Vermutung für seine Richtigkeit, sondern auch die Wirkung des öffentlichen Glaubens.


Zum Sachverhalt:

Die Eltern der Parteien hatten in einem gemeinschaftlichen Testament sich gegenseitig als "alleinige Erben" eingesetzt, zu "Nacherben" ihre drei Kinder berufen und weiter bestimmt, daß die Nacherben dasjenige erhalten sollten, was beim Tode des Überlebenden von der Erbschaft noch übrig sein werde. Der Überlebende solle als Vorerbe zur freien Verfügung über die Erbschaft berechtigt sein.
Nach dem Tode des Vaters der Parteien war der Mutter, Witwe L., am 11. Juli 1939 auf ihren Antrag ein Erbschein dahin erteilt worden, daß sie befreite Vorerbin und ihre drei Kinder Nacherben seien. Im Jahre 1947 beantragte die Witwe L. erneut einen Erbschein als befreite Vorerbin, ohne dabei die Tatsache, daß schon im Jahre 1939 ein gleichlautender Erbschein ausgestellt worden war, zu erwähnen. Entgegen dem Antrag erteilte das Amtsgericht am 31. August 1947 einen Erbschein, in dem die Witwe L. als Alleinerbin aufgeführt war. Auf Vorstellungen des mit dem Erbscheinsantrag befaßten Notars wurde am 14. Januar 1949 der Erbschein vom 31. August 1947 eingezogen und ein neuer Erbschein des Inhalts erteilt, daß die Witwe L. befreite Vorerbin und ihre Kinder Nacherben seien. Auch dieser Erbschein wurde am 15. Dezember 1949 eingezogen und am 30. Januar 1950 durch einen Erbschein ersetzt, der die Witwe L. wieder als Alleinerbin bezeichnete. Nachdem das Beschwerdegericht die Einziehung des Erbscheins vom 30. Januar 1950 angeordnet hatte, da Vor- und Nacherbschaft anzunehmen sei, hat schließlich nach dem Tode der Witwe L. das Amtsgericht einen Erbschein erteilt, nach dem der Vater der Parteien von seiner Witwe als befreiter Vorerbin und seinen drei Kindern als Nacherben und die Mutter von ihren Kindern als gesetzlichen Erben beerbt worden seien.
Als der Erbschein vom 30. Januar 1950 noch im Umlauf war, übertrug die Witwe L. den gesamten zum Nachlaß ihres Ehemannes gehörenden Grundbesitz auf den Beklagten, der auch als Eigentümer im Grundbuch eingetragen wurde.
Der Kläger verlangt im Wege der Klage Berichtigung des Grundbuchs mit der Begründung, daß die Übertragung der Grundstücke als unentgeltliche Verfügung der Vorerbin unwirksam sei.
Die Klage hatte in allen Instanzen Erfolg.

Aus den Gründen:

I. Die Übertragung des Grundbesitzes auf den Beklagten stellt sich als eine das Nacherbenrecht des Klägers und seiner Schwester beeinträchtigende unentgeltliche und deshalb nach § 2113 Abs. 2 BGB unwirksame Verfügung dar (wird ausgeführt).

II. Die Vorschrift des § 2113 Abs. 2 BGB könnte allerdings dann keine Anwendung finden, wenn der Beklagte auf Grund des Erbscheins vom 30. Januar 1950, der die Witwe L. als unbeschränkte Erbin auswies, Eigentümer der Grundstücke geworden wäre. Im Zeitpunkt des Abschlusses der Verträge wie auch zur Zeit der Umschreibung im Grundbuch war außer dem Erbschein vom 30. Januar 1950 noch der Erbschein vom 11. Juli 1939 in Kraft, in dem die Witwe L. als Vorerbin und ihre drei Kinder als Nacherben bezeichnet waren. Nach § 2365 BGB wird vermutet, daß demjenigen, welcher in dem Erbschein als Erbe bezeichnet ist, das in dem Erbschein angegebene Erbrecht zustehe und daß er nicht durch andere als die angegebenen Anordnungen beschränkt sei. Erwirbt jemand von demjenigen, welcher in einem Erbschein als Erbe bezeichnet ist, durch Rechtsgeschäft einen Erbschaftsgegenstand, so gilt zu seinen Gunsten der Inhalt des Erbscheins, soweit die Vermutung des § 2365 BGB reicht, als richtig, es sei denn, daß er die Unrichtigkeit kennt oder weiß, daß das Nachlaßgericht die Rückgabe des Erbscheins wegen Unrichtigkeit verlangt hat (§ 2366 BGB). Daß diese Voraussetzungen vorgelegen hätten oder der Beklagte von dem Erbschein vom 11. Juli 1939 Kenntnis gehabt habe, ist nicht festgestellt. Gleichwohl kann der Beklagte sich nicht darauf berufen, daß er auf die Richtigkeit des Erbscheins vom 30. Januar 1950 vertraut habe.
Die Frage, welche Bedeutung dem Vorhandensein von Erbscheinen mit widersprechendem Inhalt im Rahmen eines rechtsgeschäftlichen Erwerbs zukommt, ist streitig. Nach der einen Auffassung (vgl. Crome, Erbrecht § 679 S. 288 unter 2, 293 unter 4; Palandt, BGB 19. Aufl. § 2365 Anm. 1, § 2366 Anm. 2; Planck, BGB 4. Aufl. § 2365 Bem. 7 b, § 2366 Bem. VII; BGB-RGRK 10. Aufl. § 2365 Anm. 1, § 2366 Anm. 6 letzter Absatz; Soergel, BGB 8. Aufl. § 2366 Anm. 1) entfällt bei zwei voneinander abweichenden Erbscheinen nicht nur die Vermutung des § 2365, sondern auch die Schutzwirkung des § 2366 BGB. Auch Bartholomeyczik (Erbeinsetzung S. 285 sowie Erbrecht, 4. Aufl. S. 179), Erman (BGB 2. Aufl. § 2365 Anm. 2, § 2366 Anm. 4), Krafft (SeuffBl 64, 293), Staudinger (BGB 9. Aufl. Bem. II 3 vorletzter Absatz, III E zu §§ 2365 bis 2367) und Leonhard (BGB 2. Aufl. § 2365 Bem. IV B, § 2366 Bem. IV B) sind der Ansicht, daß bei zwei sich widersprechenden Erbscheinen die Vermutungen des § 2365 BGB sich gegenseitig aufheben, bis der eine Erbschein eingezogen oder für kraftlos erklärt ist. Sie bejahen aber ebenso wie Kretzschmar (ZBlFG 8, 589, 606), Strohal (Das Deutsche Erbrecht 3. Aufl. § 6 V) und Weißler (Das Nachlaßverfahren I 351) trotz Fortfalles der Vermutung des § 2365 BGB die Schutzwirkung des § 2366 BGB, die entweder für den ersten Erwerber oder dann gelten soll, wenn der Erwerber nicht wußte, daß ein anderslautender Erbschein vorhanden war.
Bei der Entscheidung der Streitfrage ist davon auszugehen, daß die Vermutung des § 2365 BGB, die mit der Erteilung des Erbscheins beginnt und bis zu seiner Einziehung, Kraftloserklärung oder Herausgabe an das Nachlaßgericht fortdauert, unabhängig davon besteht, ob der Erbschein vorgelegt wird oder einem Beteiligten überhaupt bekannt ist. Wenn zwei einander widersprechende Erbscheine erteilt sind, so kann nach der überwiegend im Schrifttum vertretenen und auch vom Senat gebilligten Auffassung keinem der Erbscheine die Vermutung des § 2365 BGB zur Seite stehen. Dies hat zwangsläufig auch den Fortfall der Schutzwirkungen des § 2366 BGB zur Folge. Da der Schutz des § 2366 nicht weiter reicht als die Vermutung des § 2365 BGB, muß, wie Planck (aaO) zutreffend ausführt, angenommen werden, daß auch Verfügungen, für die der Widerspruch zwischen beiden Erbscheinen von Bedeutung ist und die zu einer Zeit getroffen werden, zu der beide Erbscheine nebeneinander bestehen, nicht durch den öffentlichen Glauben gedeckt werden. Es kommt dabei lediglich auf das Vorhandensein der beiden Erbscheine im Zeitpunkt des Vertragsschlusses an (vgl. Crome aaO). Unerheblich ist auch, ob nur auf Grund eines Erbscheines oder auf Grund beider Erbscheine Verfügungen getroffen worden sind und ob im letzteren Fall die Verfügungen einander entgegenstehen oder nicht. Daß, wie die Revision meint, mit der Einziehung des Erbscheins vom 14. Januar 1949 auch der Erbschein vom Jahre 1939 vernichtet sei, trifft nicht zu. Der Beklagte kann deshalb einen Eigentumserwerb nicht auf den Erbschein vom 30. Januar 1950 stützen.