Berechtigter Besitz als absolutes Recht i.S.v. § 823 II BGB

BGH, Urt. v.21. Januar 1981, VIII ZR 41/80

Fundstelle:

BGHZ 79, 232

Vgl. auch BGHZ 73, 355



Amtl. Leitsatz:

Ist der Untermieter von Gewerberaum infolge wirksamer fristloser Kündigung des Hauptmietvertrages zum Besitz nicht mehr berechtigt, so kann er Ersatz des Nutzungsschadens, der in der Beeinträchtigung der Möglichkeit liegt, die Sache zu gebrauchen, vom (Haupt-) Vermieter auch dann nicht verlangen, wenn dieser ihm den Besitz durch verbotene Eigenmacht entzogen hat (Bestätigung von BGHZ 73,355).



Zum Sachverhalt:

Die Klägerin vermietete mit Vertrag vom 29. März 1972 einen ca. 4000 qm großen abgetrennten Teil einer Halle mit dazugehöriger Laderampe auf ihrem Grundstück M. Straße 36-38 in B. an die Firma A. GmbH & Co. KG (= A. = Hauptmieterin). Den größten Teil des Mietobjekts vermietete die Firma A. für die Zeit vom 5. November 1973 bis 31. Dezember 1975 an die Beklagte zu einem monatlichen Mietzins von 16 800,11 DM einschließlich Mehrwertsteuer weiter.
Mit Anwaltsschreiben vom 24. Mai 1974 kündigte die Klägerin den Hauptmietvertrag wegen Mietrückstands fristlos. Mit gleicher, bei der Beklagten am 29. Mai 1974 eingegangener Post forderte die Klägerin diese auf, den Untermietzins ab Juni 1974 nicht mehr an die Firma A., sondern an sie, die Klägerin, zu zahlen. Die Klägerin forderte die Beklagte gleichzeitig auf, mit ihr einen Mietvertrag abzuschließen oder unverzüglich zu räumen. Bei einem Telefongespräch am 29. Mai 1974 verlangte der Geschäftsführer der Klägerin von dem Vertreter des verreisten Inhabers der Beklagten, der Mietzins für Juni müsse bis zum 4. Juni 1974 in seinen Händen sein, andernfalls werde er die Beklagte »aussperren«. Zahlung erfolgte nicht. Darauf ließ die Klägerin am 4. Juni 1974 Hallen- und Rampenzugänge versperren. Den Arbeitnehmern der Beklagten verweigerte sie den Zutritt. Mit Hilfe einer einstweiligen Verfügung gelangte die Beklagte am 19. Juni 1974 wieder in den Besitz des Mietobjekts.
Die Klägerin hat die Beklagte auf Zahlung von 384 316,16 DM in Anspruch genommen. Dieser Betrag setzt sich aus 23 Einzelpositionen (u. a. Untermietzins, Strom-, Heiz-, Be- und Entwässerungskosten, Reparaturkosten u. ä.) zusammen. Die Firma A. hat der Klägerin Ende November 1974 ihre Ansprüche aus dem Untermietvertrag abgetreten.
Die Beklagte hat die Untermietzinsforderung dem Grunde nach nicht bestritten, jedoch Minderung für die Dauer der Vorenthaltung geltend gemacht und demgemäß rechnerisch 108 640,77 DM anerkannt. Im übrigen ist sie den Ansprüchen entgegengetreten. Ihr zustehende Gegenansprüche hat sie auf insgesamt 480 069,82 DM beziffert. Sie hat sie zur Aufrechnung gegenüber der Klageforderung gestellt und im Betrag von 117 259,23 DM widerklagend geltend gemacht.
Das Landgericht hat die Beklagte unter Klageabweisung im übrigen verurteilt, an die Klägerin 18 085,15 DM und Zinsen zu zahlen. Die Widerklage hat es abgewiesen.
Gegen diese Entscheidung haben beide Parteien Berufung eingelegt.
Durch Teilurteil ist die Beklagte im zweiten Rechtszug verurteilt worden, an die Klägerin 94 880,94 DM und Zinsen zu zahlen. Unter teilweiser Zurückweisung beider Berufungen ist die Klage wegen eines 108 751,58 DM übersteigenden Betrages, die Widerklage in Höhe von 109 140,17 DM abgewiesen worden.
Die Revision der Beklagten ist erfolglos geblieben.

Aus den Gründen:

A.
I. Es besteht kein Streit mehr darüber, daß eine Forderung der Klägerin in Höhe von 108 640,77 DM gegen die Beklagte aufgelaufen ist. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Untermietzins. Für die fragliche Zeit von Juni bis Dezember 1974 stand der Firma A. gegen die Beklagte ein Anspruch auf Untermietzins, den sie der Klägerin hätte abtreten können, nicht mehr zu; denn aufgrund der unstreitig wirksamen fristlosen Kündigung des Hauptmietvertrages war die Firma A. wegen des Räumungsverlangens der Klägerin (§ 556 Abs. 3 BGB) nicht mehr in der Lage, der beklagten Untermieterin den vertragsgemäßen Gebrauch des Mietobjekts zu gewähren (Senatsurteil BGHZ 63,132,137 ff). Auf den Betrag von 108 640,77 DM hat die Klägerin indessen Anspruch aus eigenem Recht als Nutzungsentschädigung.
II. Von sämtlichen anderen mit der Klage noch geltend gemachten Forderungen hat das Berufungsgericht der Klägerin lediglich 110,81 DM Wassergeld zuerkannt. Das greift die Beklagte mit der Revision nicht an.
III. Da die Klägerin kein Rechtsmittel eingelegt hat, steht somit rechnerisch eine Klageforderung von 108 751,58 DM fest.
II. In der Revisionsinstanz war die Verneinung von Ersatzansprüchen der Beklagten aus den Komplexen L. und Schl. zu überprüfen.
1. Im Schriftsatz vom 20. August 1978 hat die Beklagte die Aufrechnung mit diesen Ersatzansprüchen erklärt, die sie damit rechtfertigt daß sie infolge der Aussperrung Lieferaufträge nicht habe erfüllen können und ihrerseits an die Firma L. 70 000 DM Schadensersatz zuzüglich 7700 DM Mehrwertsteuer und an die Firma Sch. 156 000 DM Schadensersatz und 17 160 DM Mehrwertsteuer habe zahlen müssen.
2. Dazu hat das Berufungsgericht ausgeführt, diese Ansprüche seien nicht begründet. Zwar könnten wegen der Entziehung des Besitzes an der Mietsache im Juni 1974 Ersatzansprüche aus unerlaubter Handlung gegen die Klägerin (§ 823 Abs. 1,823 Abs. 2 in Verbindung mit § 858 BGB) erwachsen sein. Die Klägerin habe die Ansprüche jedoch - auch nach der Erörterung in der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz - nicht ausreichend substantiiert (wird ausgeführt).
3. Dagegen wendet sich die Revision und macht geltend, das Berufungsgericht habe die Darlegungslast erheblich überspannt.
4. Auf die Berechtigung dieser Rüge käme es allerdings dann nicht an, wenn die Frage, ob ein nichtberechtigter Besitzer (hier: ein wirksam ,,gekündigter« Mieter, Untermieter) Schadensersatz für die vereitelte Nutzungsmöglichkeit der Mietsache vom Berechtigten (Eigentümer, Vermieter) verlangen kann, selbst dann verneint werden müßte, wenn dieser eine verbotene Besitzstörung begangen hat.
a) Die von der Klägerin am 24. Mai 1974 ausgesprochene fristlose Kündigung hat unstreitig das Mietverhältnis zwischen ihr und der Firma A. im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung bei der Mieterin - spätestens am 29. Mai 1974 - beendet. Von diesem Zeitpunkt an hatte die Klägerin gegenüber der Beklagten Anspruch auf Herausgabe der Mietsache gemäß §§ 556 Abs. 3,985 BGB. Das Gesetz bestimmt, daß der Untermieter, ohne daß zwischen ihm und dem (Haupt-) Vermieter vertragliche Beziehungen begründet werden, der vertraglichen Herausgabeschuld des (Haupt-)Mieters beitritt (vgl. Soergel/Siebert/Mezger, BGB 10. Aufl. § 556 Rdn. 16 m. w. Nachw.; BGB-RGRK 12. Aufl. § 556 Rdn. 17). Mit dem Entstehen der Rückgabepflicht aus dem Hauptmietvertrag die auch den Untermieter trifft, erlischt sein Recht zum Besitz und seine Befugnis, die Mietsache im eigenen Interesse weiter zu nutzen. Festzuhalten ist im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage bereits an dieser Stelle, daß das Recht zur Benutzung einer Mietsache über das - bloße - Recht zum Besitz hinausgeht. So hat der zur Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts an einer (beweglichen) Mietsache Befugte ein Recht zum Besitz, darf sie aber nicht benutzen (vgl. Senatsurteil BGHZ 65,56).
b) Gegenüber der verbotenen eigenmächtigen Besitzentziehung, die sich die Klägerin durch ihr Verhalten zwischen dem 4. und 19. Juni 1974 hat zuschulden kommen lassen, hat die Beklagte zwar im einstweiligen Verfügungsverfahren Besitzschutzrechte mit Erfolg geltend gemacht. Diese Rechte erschöpfen sich indessen darin, verbotene Übergriffe rückgängig zu machen und den eigenmächtig Handelnden in die Bahnen des justizförmlichen Verfahrens zur Durchsetzung seines Rechts auf Herausgabe - hier der Mietsache - zu zwingen. Der Beschluß des Amtsgerichts vom 10. Juni 1974 im einstweiligen Verfügungsverfahren, in welchem der Antragsgegnerin (= Klägerin) aufgegeben worden ist, die Mieträume herauszugeben und dem Antragsteller (der Beklagten) und seinen Angestellten den Besitz daran einzuräumen, hat weder ein Recht zum Besitz noch gar ein Recht zur Nutzung der Halle geschaffen. Die Rechtsordnung schützt auch den materiell nichtberechtigten Besitzer gegen verbotenes eigenmächtiges Handeln des Berechtigten.
c) Die Frage, ob nur der berechtigte Besitzer im Falle verbotener Besitzentziehung oder Besitzbeeinträchtigung Anspruch auf Ersatz daraus entstandenen Schadens hat oder ob in solchen Fällen auch der nicht berechtigte Besitzer einen Ausgleich verlangen kann, ist umstritten (BGH Urteile vom 29. September 1958 - VII ZR 121/57 = WM 1958,1481 und vom 9. März 1976 - VI ZR 137/74 = WM 19%, 583 m. Nachw. über den Stand der Meinungen), braucht jedoch im vorliegenden ebensowenig wie in dem am 9. März 1976 entschiedenen Falle beantwortet zu werden. Hier wie dort wird Nutzungsschaden, also die Einbuße geltend gemacht, die in der Beeinträchtigung der Möglichkeit liegt, die Sache zu gebrauchen (BGH Urteil vom 9. März 1976 aaO S. 584). Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auch diese Frage offen lassen können. In dem zitierten Urteil heißt es immerhin, es spreche vieles für die Annahme, daß der Besitz beeinträchtigte Ersatz des Nutzungsschadens nur dann fordern könne, »wenn ihm ein Recht zur Nutzung zustand«. Besonders großen Zweifeln unterliege es, ob der nichtberechtigte Besitzbeeinträchtigte vom Nutzungsberechtigten Ersatz von Nutzungsschaden verlangen könne (aaO S. 584).
Der erkennende Senat hat im Urteil BGHZ 73, 355, 362 den in jener Sache vom Oberlandesgericht eingenommenen Standpunkt gebilligt, der damalige Kläger habe zu dem Zeitpunkt, von dem ab er Nutzungsausfall verlangt habe, kein Recht zum Besitz des ihm eigenmächtig weggenommenen Pferdes und daher auch kein Recht auf Nutzung mehr gehabt. Als Anspruchsgrundlage kamen für diese Entscheidung nur § 823 Abs. 1 BGB, sowie § 823 Abs. 2 in Verbindung mit § 858 BGB (Verletzung des unmittelbaren Besitzes durch verbotene Eigenmacht) in Betracht. Ersatz wegen der Beeinträchtigung der Möglichkeit, die Sache zu gebrauchen (das Pferd zu reiten), könne derjenige, dem ein Recht auf Nutzung nicht zugestanden habe, von dem zur Nutzung Berechtigten nicht verlangen, auch wenn dieser ihm den Besitz im Wege verbotener Eigenmacht entzogen habe. In einem solchen Fall sei der Besitzer verpflichtet, die Nutzung zu unterlassen und dem Berechtigten die Nutzungsmöglichkeit einzuräumen. Aus den Besitzschutzvorschriften, die - wie schon gesagt - nur verhindern sollen, daß der Berechtigte den Zustand, auf den er Anspruch hat, eigen mächtig herbei- führt, lasse sich nichts Gegenteiliges herleiten (aaO S. 362). An dieser Ansicht wird festgehalten. Sie hat ihre Berechtigung nicht nur für den seinerzeit entschiedenen Sachverhalt des vereinbarten Nutzungsrechts (Reiten des Pferdes, um es zu testen) im Rahmen eines Kaufvertrages mit Umtauschbefugnis, sondern gilt auch im Mietrecht, und zwar ab dem Zeitpunkt, in dem die Mietsache gemäß § 556 BGB zurückzugeben ist. Aus der Sanktionsregelung des § 557 BGB für den Fall und die Dauer der Vorenthaltung der Mietsache folgt, daß das Gesetz unberechtigten Besitz und unberechtigte Nutzung der Mietsache mißbilligt. Deshalb wäre es, worauf Wieser (NJW 1971,597) zutreffend hingewiesen hat, geradezu widersprüchlich, wenn der unberechtigte Besitzer einen Ausgleich für seinen Nutzungsschaden vom berechtigten Vermieter sollte verlangen können.
Auch aus den Vorschriften der §§ 987 ff BGB über das Verhältnis zwischen Eigentümer und Besitzer kann nicht, wie Pieper (Festschrift zum 150jährigen Bestehen des Oberlandesgerichts Zweibrücken 1969,254 ff) offenbar meint, ein Nutzungsrecht des nichtberechtigten Besitzers hergeleitet werden. Die Wohltat, daß das Gesetz dem redlichen nichtberechtigten Besitzer gezogene Nutzungen beläßt, bedeutet nicht, daß er einen Anspruch auf Nutzung hätte, dessen Beeinträchtigung den Eigentümer ihm gegenüber verpflichtete, Schadensersatz zu leisten. Einer abschließenden Beurteilung dieser Frage bedurfte es hier indessen nicht, weil die Beklagte bösgläubig war, und zwar spätestens ab 29. Mai 1974.
d) Da es im vorliegenden Fall nur um den Ersatz von Schäden geht, die der Beklagten im Juni 1974 infolge der verbotenen Eigenmacht entstanden sein sollen, braucht nicht auf die Frage eingegangen zu werden, welche Bedeutung dem Umstand zukommt, daß der Beklagten im Räumungsprozeß eine Räumungsfrist von zwei Wochen ab Rechtskraft des Urteils vom 26. Juli 1974, welche mit Zurückweisung ihrer Berufung gegen die Entscheidung des Amtsgerichts am 27. November 1974 eingetreten ist, zugebilligt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war der angebliche Schaden bereits eingetreten. Davon abgesehen hätte das Prozeßgericht eine Räumungsfrist nach § 721 ZPO überhaupt nicht bewilligen dürfen, weil nicht auf Räumung von Wohnraum erkannt worden ist. Für eine Entscheidung nach § 765a ZPO war es unzuständig. Sie ist dem Vollstreckungsgericht vorbehalten. Schließlich dürfte selbst aus einer nach den Regeln des Verfahrensrechts zulässigen Räumungsfrist nach § 765a ZPO, die zur Räumung bewilligt wird und aus diesem Grunde die Zwangsvollstreckung hinausschiebt, kein materielles Besitzrecht und erst recht keine Nutzungsbefugnis bezüglich des herauszugebenden Gewerberaumes herzuleiten sein. Nach Lage der Sache braucht indessen auf hiervon abweichende Standpunkte in der Literatur (Pieper aaO; Wieser aaO; Medicus AcP 165,120 ff) nicht näher eingegangen zu werden.
e) Die zur Aufrechnung gestellten Gegenforderungen von 70 000 DM zuzüglich Mehrwertsteuer und von 156 000 DM zuzüglich Mehrwertsteuer (= angeblicher Schaden der Beklagten aufgrund aussperrungsbedingter Nichterfüllung von Lieferungsaufträgen der Firmen L. und Sch.) sind deshalb bereits mangels eines Nutzungsrechts der Beklagten unbegründet.
5. Ersatz für entgangenen Gewinn aus den Aufträgen L. und Sch. steht der Beklagten aus den unter 4. dargestellten Gründen ebenfalls nicht zu.
6. Aus denselben Gründen scheidet schließlich auch eine Ersatzpflicht der Klägerin aus dem Gesichtspunkt eines unerlaubten Eingriffs in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb der Beklagten aus.



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