Pflicht zur Ermittlung ausländischen Rechts, Verletzung von § 293 ZPO

BGH, Urteil v. 23.6.2003, II ZR 305/01


Fundstelle:

noch nicht bekannt


Zentrale Probleme:

Ausländisches Recht ist nach § 549 Abs. 2 ZPO nicht revisibel. Nach § 293 ZPO hat aber der Tatrichter ausländisches Recht von Amts wegen zu ermitteln (s. dazu etwa BGH NJW 1991, 1418 = IPRax 1992, 324 mit Anm. Kronke ebd. S. 303 ff). Die Art und Weise der Ermittlung unterliegt dem Ermessen des Richters. Wenn er aber den Inhalt des ausländischen Rechts nicht ausreichend ermittelt, weil er etwa nur dessen Normen, nicht aber die konkrete Ausgestaltung in der Rechtspraxis berücksichtigt, liegt eine (revisible) Verletzung von § 293 ZPO vor.
Die Entscheidung liegt auf der Linie der bisherigen, sehr strengen und kaum praktikable Maßstäbe aufstellenden Rechtsprechung, die ihren Anfang in der zitierten Entscheidung BGH NJW 1991, 1418 (zum venezolanischen Schiffspfandrecht) genommen hat. S. auch
BGH v. 14.1.2014 - II ZR 192/13.


Amtl. Leitsatz:

Bei der Ermittlung ausländischen Rechts darf sich der Tatrichter nicht auf die Heranziehung der Rechtsquellen beschränken, sondern muss unter Ausschöpfung der ihm zugänglichen Erkenntnismöglichkeiten auch die konkrete Ausgestaltung des Rechts in der ausländischen Rechtspraxis, insbesondere die ausländische Rechtsprechung, berücksichtigen.


Tatbestand:

Die Kl. nehmen den Bekl. auf Schadensersatz wegen eines Unfalls in Anspruch, bei dem ihre damals 25-jährige Tochter am 2. 2. 1990 in P., Thailand, getötet wurde. Der Bekl. und die Tochter der Kl. waren mit gemieteten Jet-Ski auf dem Meer vor P. zusammengestoßen. Der Bekl. ist der Auffassung, dass nicht ein Fahrfehler seinerseits, sondern die Fahrweise der Tochter der Kl. den Unfall verursacht habe, etwaige Ansprüche der Kl. im übrigen aber verjährt seien. Die Kl. verlangen, soweit es für das Revisionsverfahren noch von Bedeutung ist, Ersatz aufgewendeter Bestattungskosten (5.044,00 DM) sowie eine monatliche Unterhaltsrente von 970,00 DM für die Zeit vom 1. 3. 1990 bis einschließlich Juli 1995 (63.050,00 DM). Das LG hat die Klage nach Einholung von Gutachten zum thailändischen Recht hinsichtlich beider Forderungen wegen Verjährung abgewiesen. Die Berufung der Kl. blieb ohne Erfolg. Mit ihrer Revision verfolgen die Kl. ihr Begehren auf Erstattung der Beerdigungskosten und Zahlung der Unterhaltsrente weiter.

Entscheidungsgründe:

Die Revision ist begründet und führt zur Zurückverweisung der Sache an das BerGer..

I.

Das BerGer. geht auf der Grundlage der schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. W. vom 10. 3. 1997 und 13. 8. 1999 davon aus, dass sich der Ersatzanspruch der Kl. hinsichtlich der Bestattungskosten und der Unterhaltsrente nach thailändischem Recht beurteile und nach diesem Recht verjährt sei. Für die Verjährungsfrist sei die Vorschrift des Art. 308 thail. SchiffahrtsG maßgebend, wonach Ansprüche aus einem Zusammenstoß von Wasserfahrzeugen, zu denen Jet-Ski zu rechnen seien, in sechs Monaten ab Kenntnis von dem Zusammenstoß verjährten. Es handele sich bei Art. 308 thail. SchiffahrtsG um eine Spezialvorschrift, die andere Verjährungsregelungen verdränge. Die Verjährung sei nicht unterbrochen worden. Zur Unterbrechung habe es des Anhängigmachens eines Strafverfahrens bedurft, was neben der von den Kl. behaupteten Einreichung einer Anklageschrift gegen den Bekl. bei Gericht am 19. 3. 1990 die Annahme dieser Anklage durch das Gericht vorausgesetzt hätte. Die Kl. hätten die Annahme der Anklageschrift jedoch nicht dargelegt. Das hält revisionsrechtlicher Prüfung nur teilweise stand.

II.

1. Zutreffend geht das BerGer. davon aus, dass sich die Forderungen der Kl. auf Unterhalt und Ersatz der Beerdigungskosten nach thailändischem Recht beurteilen. Für Ansprüche aus unerlaubter Handlung, wie sie die Kl. gegen den Bekl. geltend machen, ist nach dem zur Tatzeit gewohnheitsrechtlich geltenden, nunmehr in Art. 40 I Satz 1 EGBGB kodifizierten Tatortgrundsatz das Recht des Staates maßgebend, in dem der Ersatzpflichtige gehandelt hat. Der nach der Behauptung der Kl. vom Bekl. verschuldete Unfall ihrer Tochter hat sich in Thailand ereignet. Dort trat als Folge des Unfalls der Tod der Tochter ein.

2. Das BerGer. ist der ihm nach § 293 ZPO obliegenden Pflicht zur Ermittlung des anzuwendenden thailändischen Rechts jedoch nur unzureichend nachgekommen, wie die Revision mit Recht rügt.

a) Die Frage, ob das BerGer. das thailändische Recht zutreffend angewandt und ausgelegt hat, ist revisionsrechtlicher Nachprüfung entzogen, da ausländisches Recht nach §§ 549 I, 562 ZPO a.F. nicht revisibel ist. Einer Überprüfung zugänglich ist jedoch das Verfahren des BerGer., das als deutsches Gericht deutsches Verfahrensrecht anzuwenden hatte. Nach § 293 ZPO hat der Tatrichter das ausländische Recht von Amts wegen zu ermitteln (st.Rspr., vgl. Sen.Urt. v. 29. 6. 1987 - II ZR 6/87, NJW 1988, 647 m.w. Nachw.). Wie er sich diese Kenntnis verschafft, liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen, jedoch darf sich die Ermittlung des fremden Rechts nicht auf die Heranziehung der Rechtsquellen beschränken, sondern muss auch die konkrete Ausgestaltung des Rechts in der ausländischen Rechtspraxis, insbesondere die ausländische Rechtsprechung, berücksichtigen (BGH, Urt. v. 24. 3. 1987 - VI ZR 112/86, NJW 1988, 648): der Tatrichter ist gehalten, das Recht als Ganzes zu ermitteln, wie es sich in Lehre und Rechtsprechung entwickelt hat, er muss dabei die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausschöpfen (vgl. Sen.Urt. v. 21. 1. 1991 - II ZR 49/90, NJW-RR 1991, 1211, 1212).

b) Mit der Beschränkung auf die Gutachten des Sachverständigen Dr. W. vom 10. 3. 1997 und 13. 8. 1999 ist das OLG seinen Pflichten aus § 293 ZPO nicht gerecht geworden. Beide Gutachten stützen sich hinsichtlich der Verjährungsfrage sowohl, was die maßgebliche Frist angeht, als auch hinsichtlich der Voraussetzungen ihrer Unterbrechung allein auf die gesetzlichen Vorschriften; sie beziehen weder Rechtslehre noch Rechtsprechung Thailands ein. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 13. 8. 1999, das sich vertieft mit der Verjährungsproblematik auseinandersetzt, sogar ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er von Deutschland aus keine Aussagen zur praktischen Handhabung des Verhältnisses der Verjährungsvorschrift des Art. 308 thail. SchiffahrtsG (sechs Monate) zu den entsprechenden Bestimmungen des Art. 448 thail. ZHGB (ein Jahr ab Kenntnis von Handlung und Ersatzpflicht oder 10 Jahre von der Begehung der unerlaubten Handlung an, im Falle fahrlässiger Tötung sogar 15 Jahre) in der thailändischen Rechtsprechung und Rechtsliteratur machen könne. Unter diesen Umständen hätten die Ausführungen Dr. W. das BerGer. veranlassen müssen, von Amts wegen weitere Ermittlungen in bezug auf die tatsächliche Handhabung der von dem Sachverständigen geschilderten Verjährungsvorschriften anzustellen. Weitere Ermittlungen waren außerdem auch deshalb geboten, weil die Kl., worauf die Revision mit Recht hinweist, unter Beweisantritt vorgetragen hatten, dass die von dem Sachverständigen Dr. W. aus den einschlägigen Gesetzen abgeleitete Rechtsauffassung zur Verjährungsproblematik unrichtig sei: Art. 308 thail. SchiffahrtsG sei gegenüber Art. 448 thail. ZHGB nicht lex specialis; die Einreichung einer Anklageschrift durch den Staatsanwalt führe nach thailändischem Recht automatisch zur Eröffnung des Strafverfahrens, einer Annahme der Anklage durch das Gericht bedürfe es entgegen der Ansicht des Sachverständigen nicht.

Bei sachgerechter Ausübung des ihm eingeräumten Ermessens hätte das BerGer. daher das Gutachten eines anderen Sachverständigen, der Zugang zur thailändischen Rechtslehre und Rechtspraxis hat, einholen müssen. Da nicht auszuschließen ist, dass es dann zu einer den Kl. günstigen Entscheidung gelangt wäre, kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben.