Anfechtung einer letztwilligen Verfügung wegen Irrtums: Irrtum über zukünftige Umstände, Motivirrtum bei "unbewußten Vorstellungen"


BGH, Urteil vom 27.05.1987 - IVa ZR 30/86 (Hamm)


Fundstelle:

NJW-RR 1987, 1412


(Eigener) Leitsatz:

Voraussetzungen der Anfechtung einer letztwilligen Verfügung wegen Motivirrtums des Erblassers bei Fehlen einer positiven Fehlvorstellungen (Nichtzutreffen "selbstverständlicher Vorstellungen").


Tatbestand:
 

Der Kl. verlangt von der Bekl. das ihm ausgesetzte Vermächtnis. Die Erblasserin, eine deutsche Staatsangehörige, hat die Bekl., eine nach dem Erbfall in der Schweiz konstituierte Stiftung, zu ihrer Alleinerbin eingesetzt. Bis zur Konstituierung der Bekl. war der jetzige Stiftungsrat Rechtsanwalt S von der Erblasserin zum Testamentsvollstrecker bestimmt. Rechtsanwalt S hat das dem Kl., einem Sohn der Schwester der Erblasserin, in Höhe von 50000 DM ausgesetzte Barvermächtnis sowohl als Testamentsvollstrecker als auch als Stiftungsrat angefochten. Dem liegt folgendes Geschehen zugrunde: Die Erblasserin befürchtete, die deutschen Finanzbehörden würden wegen ihrer erheblichen Steuerschulden auf ihr Vermögen in der Schweiz zurückgreifen, wo sie ihren Wohnsitz begründet hatte. Im Oktober 1982 ließ sie ein Wertschriftendepot und den Mietvertrag über einen Banksafe mit wertvollem Schmuck, beide bei einer Bankgesellschaft an ihrem Wohnsitz, auf den Namen der Mutter des Kl. umschreiben. Sie behielt jedoch Vollmachten bis zu ihrem Tod am 30. 3. 1984. Die Mutter der Kl. beanspruchte Wertpapiere und Schmuck für sich. Sie und der Kl. behaupten, die Umschreibung sei eine schenkweise Zuwendung seitens der Erblasserin gewesen. Das bestreitet die Bekl. wie früher der Testamentsvollstrecker: Die Erblasserin habe nur nach außen den Anschein einer Rechtsübertragung auf die Mutter des Kl. schaffen wollen, um den befürchteten Zugriff der deutschen Finanzbehörden auf diesen Vermögensteil zu vereiteln. Deshalb sind in der Schweiz Straf- und Zivilverfahren anhängig. Nach ihrer Konstituierung führt die Bekl. den Rechtsstreit an Stelle des Testamentsvollstreckers fort. Sie bringt vor, der Kl. habe seine Mutter dazu veranlaßt, der Wahrheit zuwider Schenkung zu behaupten und so die Alleinerbin geschädigt. Hätte die Erblasserin dieses spätere Verhalten des Kl. gekannt, dann würde sie ihm das Vermächtnis nicht zugewendet haben. Die Anfechtung wegen Motivirrtums sei weiter deshalb gerechtfertigt, weil davon auszugehen sei, daß der Kl. und seine Mutter sich widerrechtlich mehr als 55000 DM von dem Geld angeeignet hätten, das die Erblasserin im Krankenhaus gehabt habe.

Das LG und das OLG haben den Vermächtnisanspruch bejaht. Die Revision der Bekl. hatte keinen Erfolg.

Aus den Gründen:
 

Die Revision, die die Frage berührt, unter welchen Voraussetzungen der Erblasser zu seiner Verfügung durch die irrige Annahme oder Erwartung des Eintritts oder Nichteintritts eines Umstandes bestimmt worden ist (§ 2078 II BGB), bleibt erfolglos.

I. Mit Recht führt das BerGer. aus, die Anfechtung könne nicht mehr an Förmlichkeiten scheitern, nachdem die bekl. Stiftung als Alleinerbin den Rechtsstreit fortgeführt und damit die vorangegangenen Erklärungen des Testamentsvollstreckers uneingeschränkt genehmigt habe. Bedenken nach §§ 50 , 51 ZPO wegen der Rechtsfähigkeit und der gesetzlichen Vertretung der Bekl. sind ebenfalls nicht gegeben. Die Bekl. hat einen Registerauszug vorgelegt. Danach ist sie im Handelsregister des Stadtgerichts L als Stiftung eingetragen.

II. Die Erblasserin hat in ihrem vierseitigen, handschriftlichen Testament die Bekl. und ihre Organe beschrieben und als Erbin eingesetzt. Daneben hat sie mehrere Vermächtnisse, vor allem in Gestalt von lebenslangen Renten ausgesetzt. Die für den Kl. und seine beiden Geschwister bestimmten Barvermächtnisse werden erst an letzter Stelle genannt. Die Bekl. behauptet nicht etwa, die Erblasserin habe in diesem Zusammenhang bestimmte Erwartungen hinsichtlich des zukünftigen Verhaltens dieser Vermächtnisnehmer gehabt oder gar geäußert. Demgemäß ist - das sieht das BerGer. richtig - entscheidend, ob eine Anfechtung wegen eines Motivirrtums auch in den Fällen in Betracht kommen kann, in denen der Erblasser sich über die zur Anfechtung herangezogenen Umstände keine konkreten Gedanken gemacht hat. Das gilt in erster Linie für nicht (weiter) bedachte, zukünftige Umstände, die von dem gem. § 2080 BGB zur Anfechtung Berechtigten nach dem Erbfall zur Rechtfertigung seiner Anfechtung herangezogen werden.

1. Das Schrifttum (z. B. Schubert-Czub, JA 1980, 259 ff., und Leipold, in: MünchKomm, § 2078 Rdnr. 29) steht überwiegend auf dem Standpunkt, als Irrtum solle in offener Weise auch das Nichtbedenken von Umständen zugelassen werden, § 2078 II BGB müsse zumindest analog auch bei Fehlen jeglicher Vorstellungen angewendet werden. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zu dieser Frage wurde mehrfach geändert (vgl. Johannsen, WM 1972, 642 (645 f.); vor allem Pohl, Unbewußte Vorstellungen als erbrechtlicher Anfechtungsgrund, 1976).

a) Nachdem das RG zunächst ohne nähere Erörterung eine positive irrige Vorstellung gefordert hatte (RGZ 50, 240 und RGZ 59, 38), hielt es in RGZ 77, 165 gerade das Nichtbedenken des dennoch später eingetretenen Umstandes für den Irrtum, kehrte 1915 aber wieder zur früheren Rechtsprechung unter ausführlicher Erörterung der Gesetzesmaterialien zurück (RGZ 86, 206). Diese Forderung nach einer positiven Vorstellung konnte aber angesichts der offensichtlich häufig nicht bedachten grundlegenden Änderung der bisherigen Wertverhältnisse in der Zeit der Inflation später nur noch äußerlich aufrechterhalten werden (RG, Recht 1923 Nr. 1359 und 1926 Nr. 2146; vgl. auch Recht 1924 Nr. 649 und JW 1925, 356). 1930 bezog das RG dann zum Erwartungsbegriff eine zwischen den Alternativen "positive Vorstellung" und "Nichtwissen" vermittelnde Stellung. Eine auf die Zukunft gerichtete Erwartung könne auch unbewußt bestehen, wenn sie zu den Vorstellungen gehöre, die dem Erblasser als selbstverständlich erschienen (RG, HRR 1931 Nr. 744 = WarnR 1931 Nr. 50).

b) Diese Mittelposition hat auch der BGH eingenommen (BGH, LM § 2078 BGB Nr. 3 und 4; BGH, NJW 1962, 1058 = LM § 2205 BGB Nr. 8 und BGH, NJW 1963, 246 = LM § 2078 BGB Nr. 8; BGH, WM 1971, 1153; zuletzt Senat, WM 1983, 567 = FamRZ 1983, 898 unter 2 d). Er hat auch den damit erstmals 1930 in die Rechtspraxis eingeführten Begriff der "unbewußten Vorstellung" übernommen. Dieser Begriff sollte angesichts seiner Widersprüchlichkeit vermieden werden (dazu näher Pohl, im zweiten Teil seiner Arbeit; zu Pohl Jung, ACP 177, 269). Die Rechtsprechung meint Umstände, die in der Vorstellungswelt dessen, der seinen Willen bildet und äußert, ohne nähere Überlegung so selbstverständlich sind, daß er sie zwar nicht konkret im Bewußtsein hat, aber doch jederzeit abrufen und in sein Bewußtsein holen kann. Demgegenüber bezeichnet die Psychologie als "unbewußt" das, was für das Bewußtsein nicht erfaßbar ist.

2. Unstreitig hat die Erblasserin sich nicht von einer positiv vorhandenen unrichtigen Vorstellung über das zukünftige Verhalten des Kl. - ihres Neffen - bestimmen lassen, als sie ihm wie seinen Geschwistern ein im Verhältnis zum Gesamtwert des Nachlasses kaum ins Gewicht fallendes Vermächtnis aussetzte. Deshalb muß für einen Erfolg der Anfechtung bewiesen werden, daß das Vermächtnis auf der - im oben dargelegten Sinne - selbstverständlichen Vorstellung beruhte, der Kl. werde niemals die Vermögensinteressen seiner Mutter denen der bekl. Stiftung vorziehen, zum Beispiel hinsichtlich der auf seine Mutter übertragenen Wertpapiere und Schmuckstücke.

Das BerGer. meint, bereits nach dem Vortrag der Bekl. lasse sich kein zur Anfechtung berechtigendes Fehlverhalten des Kl. feststellen. Die von der Bekl. behaupteten Verhaltensweisen des Kl. lägen sämtlich erst nach dem Tode der Erblasserin. In Fällen der enttäuschten Wohlverhaltenserwartung müsse es sich aber stets um ein Fehlverhalten handeln, das zwar nach Errichtung des Testaments offenbar geworden sei, sich aber noch gegen den Erblasser selbst gerichtet habe.

Dem Berufungsurteil ist darin zu folgen, daß der Vortrag der Bekl. nicht ausreicht, um die genannte selbstverständliche Vorstellung und deren Maßgeblichkeit für das Vermächtnis bejahen zu können.

a) Obwohl § 2078 II BGB die Anfechtbarkeit wegen Motivirrtums gegenüber der Regelung in § 119 II BGB erweitert, ist dem Wortlaut dieser Bestimmung die Absicht zu entnehmen, Schranken zu setzen. Nur besonders schwerwiegende Umstände, die gerade diesen Erblasser auch unter Berücksichtigung seiner ihm eigenen Vorstellungen mit Sicherheit dazu gebracht hätten, anders zu testieren, sollen eine Anfechtung begründen können (vgl. BGH, NJW 1962, 1058 = LM § 2205 BGB Nr. 8; BGH, NJW 1963, 246 = LM § 2078 BGB Nr. 8). Als Anfechtungsgrund reicht keinesfalls, daß möglicherweise Vertrauen bestand und enttäuscht wurde (BGH, LM § 2078 BGB Nr. 11).

§ 2078 II BGB verlangt, daß der die Fehlvorstellung des Erblassers ausmachende und zur Anfechtung berechtigende Umstand nicht nur eine Ursache, sondern der bewegende Grund für seinen letzten Willen war; nur mit dem erheblichen Gewicht des Beweggrundes kann ein Umstand den Verfügenden zu seiner Verfügung i. S. von § 2078 II BGB bestimmt haben (BGH, WM 1971, 1153 (1154) unter II 1). Nicht jede Ursache hat das Gewicht des Beweggrundes. Offensichtlich will das Gesetz mit diesem Wortlaut der Anfechtbarkeit letztwilliger Verfügungen Schranken setzen. Der Erblasserwillen selbst soll maßgeblich sein, nicht eine nachträgliche Spekulation über ihn.

b) Die Revision rügt in diesem Zusammenhang lediglich, das BerGer. sei nicht auf den Vortrag der Bekl. eingegangen, die Erblasserin würde in Kenntnis der Sachlage nach ihrer subjektiven Denk- und Anschauungsweise ohne jeden Zweifel dem Kl. und seiner Mutter nichts zugewendet haben. Dieser Vortrag ist zu allgemein gehalten, um den dargelegten besonderen Anforderungen genügen zu können. Es ist kein konkreter Umstand dafür behauptet, daß die Erblasserin ihre Schwester und gerade den Kl. - eines der drei Kinder ihrer Schwester - auf eine solche Weise einheitlich gesehen und behandelt haben würde. Nähere Anhaltspunkte dafür, wann, wem gegenüber und bei welchen Gelegenheiten die Erblasserin Äußerungen getan oder ein Verhalten gezeigt hat, die den von der Bekl. lediglich mit dürren Worten behaupteten Schluß auf ihre innere, selbstverständliche Einstellung zulassen, sind dem als übergangen gerügten Vortrag der Bekl. nicht zu entnehmen. Unter Beweis gestellt hat die Bekl. nur die Vorstellung anderer Vermächtnisnehmer über eine mögliche Reaktion der Erblasserin, falls sie das behauptete Verhalten des Kl. gekannt hätte. Maßgeblich ist aber nicht, was Dritte nach ihrer Einschätzung der Persönlichkeit und Eigenheiten des Erblassers - "so, wie sie ihn kennen" - von diesem annehmen. Maßgeblich kann nur sein, was hinsichtlich der selbstverständlichen Einstellung des Erblassers nach dessen eigenen, objektiv feststellbaren Äußerungen und Verhaltensweisen zweifelsfrei feststeht. Hier kommt hinzu, daß nach dem eigenen Vortrag der Bekl. gerade die Erblasserin bei der Durchsetzung von Vermögensinteressen vor Scheingeschäften oder sogar vor Steuerhinterziehung nicht zurückschreckte.

c) Die vom BerGer. aufgeworfene Frage, ob Umstände, die erst nach dem Erbfall eingetreten sind, als Anfechtungsgrund überhaupt herangezogen werden können (grundsätzlich verneinend Leipold, in: MünchKomm, § 2078 Rdnr. 35 und Johannsen, WM 1972, 646) braucht der Senat danach nicht zu entscheiden. Auch kommt es auf die Hilfsbegründung des Berufungsurteils nicht an, ein Anfechtungsrecht könne nicht durchgreifen, weil das etwaige spätere Verhalten des Kl. durch ein nach Treu und Glauben zu mißbilligendes Verhalten der Erblasserin mitverursacht worden sei, die in sittenwidriger Weise ihr Vermögen weitgehend dem Zugriff des Fiskus habe entziehen wollen.