Kognitionsbefugnis des Gerichts bei Zuständigkeitsbegründung nach § 32 ZPO - Gerichtsstand des Tatorts und des Sachzusammenhangs


BayObLG, Beschl. v. 31.8.1995


Fundstelle:

NJW-RR 1996, 508
MDR 1995, 1260
s. auch BGH NJW 2002, 1425 sowie nunmehr BGH NJW 2003, 828



Amtl. Leitsatz:

Im Hinblick auf die Neufassung des  § 17 II GVG ist  § 32 ZPO dahin auszulegen, daß im Gerichtsstand der unerlaubten Handlung über Schadensersatzansprüche aus Verschulden bei Vertragsschluß jedenfalls dann mitzuentscheiden ist, wenn diese aus demselben Lebenssachverhalt hergeleitet werden.



Der Ast. beabsichtigt, den im Bezirk des AG Ebersberg wohnhaften Ag. zu 1, die im Bezirk des AG Mühldorf ansässigen Ag. zu 2 bis 4 sowie die im Bezirk des AG Weisen i.d. OPf. wohnhafte Ag. zu 5 als Gesamtschuldner auf Schadensersatz in Höhe von 10000 DM zu verklagen. Hierzu trägt er vor, er habe im Jahr 1994 bei den Ag., die Kapitalanlagen einer Investment-Corporation vertreiben, im Vertrauen auf schriftliche und mündliche Zusicherungen eine Investmentanlage getätigt, diese jedoch im Jahr 1995 aus Anlaß rückbelasteter Schecks gekündigt. Inzwischen habe er erfahren, daß er Opfer eines Anlagebetrugs geworden sei. Die Ag. hätten ihn in schuldhaftem Zusammenwirken durch Vorspiegelung falscher Tatsachen mit schriftlichen und mündlichen Zusicherungen veranlaßt, die Anlage zu tätigen, wobei die von den Ag. zu 1 bis 3 gegründete GmbH (Ag. zu 4) als Mittel zum Anlagebetrug gedient habe. Die Ag. zu 5 habe als Vermittlerin den Betrag von 10000 DM entgegengenommen, den die Ag. zu 1 bis 3 unterschlagen bzw. veruntreut hätten. Der Schwerpunkt der betrügerischen Handlungen liege in Weiden i.d.OPf. Die Ag. zu 1 und 2 befänden sich in Untersuchungshaft; der Ag. zu 3 werde mit internationalem Haftbefehl gesucht. Der Ast. stützt seine Ansprüche auf unerlaubte Handlung ( §§ 823 I, II BGB i.V. mit  § 263 StGB,  § 826 BGB) sowie auf Verschulden bei Vertragsschluß. Er hat beim BayObLGbeantragt, das zuständige Gericht gem.  § 36 Nr. 3 ZPO zu bestimmen und hierfür das AG Weiden i.d.OPf. vorgeschlagen, in dessen Bezirk er seinen Wohnsitz hat. Die Bestimmung des zuständigen Gerichts wurde abgelehnt.
 
1. Die gesetzlichen Voraussetzungen einer Zuständigkeitsbestimmung ( § 36 Nr. 3 ZPO) durch das BayObLG (vgl. BayObLGZ 1993, 170 m.w.Nachw.; Stein/Jonas/Schumann, ZPO, 21. Aufl., § 36 Rdnr. 4) liegen nicht vor, weil die Klage im gemeinschaftlichen besonderen Gerichtsstand der unerlaubten Handlung ( § 32 ZPO) erhoben werden kann.
a) Nach dem maßgeblichen Vorbringen des Ast. ( § 37 ZPO; vgl. BayObLGZ 1985, 314 (316) = NJW 1986, 389 ) sollen die Ag., deren allgemeine Gerichtsstände in verschiedenen bayerischen OLG-Bezirken liegen, als Gesamtschuldner ( § 421 BGB), somit als Streitgenossen i.S. von  § 59 Alt. 1 ZPO (vgl. Thomas/Putzo, ZPO, 19. Aufl., §§ 59, 60 Rdnr. 2), auf Schadensersatz wegen unerlaubter Handlung, (§ 823 I, II i.V. mit  § 263 StGB), sittenwidriger Schädigung ( § 826 BGB) sowie wegen Verschuldens bei Vertragsschluß verklagt werden.
b) Für die Ansprüche aus unerlaubter Handlung ist der gemeinschaftliche besondere Gerichtsstand der unerlaubten Handlung ( § 32 ZPO) beim AG Weiden i.d. OPf. begründet.
aa) Die Zuständigkeit gem.  § 32 ZPO setzt voraus, daß der Handlungs- oder Erfolgsort im Bezirk des angerufenen Gerichts liegt. Hierfür ist es nach herrschender Auffassung genügend, aber auch erforderlich, daß der Ast. schlüssig Tatsachen behauptet, aus denen sich eine im Gerichtsbezirk begangene unerlaubte Handlung ergibt (BGH, NJW 1987, 592 (594) und 1994 1413 (1414); Zöller/Vollkommer, ZPO, 19. Aufl., § 32 Rdnr. 19; Thomas/Putzo, § 32 Rdnr. 8). Diese Voraussetzung liegt hier vor.
bb) Als Ort einer unerlaubten Handlung i.S. des  § 32 ZPO kommt jeder Ort in Betracht, an dem eines der wesentlichen Tatbestandsmerkmale verwirklicht worden ist, somit sowohl der Ort, an dem die unerlaubte Handlung begangen ist (Tatort/Handlungsort) als auch der Ort, an dem sich die unerlaubte Handlung in einem Verletzungserfolg niederschlägt (Erfolgsort; vgl. Zöller/Vollkommer, § 32 Rdnr. 16). Da hier mehrere Personen arbeitsteilig zusammen gehandelt und den Schaden verursacht haben sollen ( § 830 BGB), ist die Begehung für jeden selbständig zu beurteilen (Stein/Jonas/Schumann, § 32 Rdnr. 32 a.E.). Da der Gerichtsstand des  § 32 ZPO sowohl Täter und Mittäter als auch Anstifter oder Gehilfen sowie solche Personen erfaßt, die kraft Gesetzes für andere haften ( §§ 31, 831 BGB), kommen hier mehrere Begehungsorte und damit mehrere Gerichtsstände in Betracht (vgl.Zöller/Vollkommer, § 32 Rdnr. 18), unter denen der Ast. die Wahl hat ( § 35 ZPO).
cc) Im Bezirk des AG Weiden i.d.OPf. sollen nach dem Vortrag des Ast. nicht nur die Vermittlung und Geldübergabe mit damit verbundenen Täuschungshandlungen der Ag. zu 5 verwirklicht worden sein. Vielmehr liegt dort für alle Ag. auch der Ort, an dem in das geschützte Rechtsgut eingegriffen wurde (vgl. BGH,NJW 1994, 1413 (1414)), da der Ort des Schadenseintritts hier als Verletzungs- und damit Begehungsort anzusehen ist (vgl.BGHZ 52, 108 (111) = NJW 1969, 1532; BGH, NJW 1990, 1533; OLG Koblenz, WM 1989, 622; Zöller/Vollkommer, § 32 Rdnr. 16; Stein/Jonas/Schumann, § 32 Rdnr. 29; Thomas/Putzo, § 32 Rdnr. 7). Deshalb kann der Ast. die auf unerlaubte Handlungen gestützte Klage gegen alle Ag. im Bezirk des AG Weiden i.d.OPf. erheben.
c) Eine Gerichtsstandsbestimmung ist nicht deshalb erforderlich, weil der Ast. mit der unerlaubten Handlung zusammentreffende Ansprüche aus culpa in contrahendo geltend machen will, für welche kein gemeinsamer Leistungs- und Erfüllungsort ( § 29 I ZPO i.V. mit  § 269 BGB) begründet ist. Über diese Ansprüche kann im Gerichtsstand der unerlaubten Handlung mitentschieden werden.
aa) Beim Zusammentreffen einer unerlaubten Handlung mit der Verletzung von Vertragspflichten ging die Rechtsprechung in der Zeit vor der Neufassung der Vorschriften über die Rechtswegverweisung durch das 4. VWGOÄndG vom 17. 12. 1990 (BGBl I, 2809) davon aus, daß ein im Gerichtsstand des  § 32 ZPO angegangenes Gericht nur über die Ansprüche aus unerlaubter Handlung zu entscheiden habe, dagegen nicht über konkurrierende vertragliche Ansprüche (BGH, NJW 1974, 410 (411) m. krit. Anm. Geimer, S. 1045f.; NJW 1986, 2436 (2437) und NJW 1988, 1466 (1467)). Der Streitgegenstand wurde i.S. einer gespaltenen Zuständigkeit auf die den besonderen Gerichtsstand begründende unerlaubte Handlung begrenzt (vgl. Zöller/Vollkommer, Einl. Rdnr. 85 m.w.Nachw., § 12 Rdnr. 20 und § 32 Rdnr. 20).
bb) Seit dem Inkrafttreten des  § 17 II GVG (1. 1. 1991), wonach ein im zulässigen Rechtsweg angegangenes Gericht den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten entscheidet, wird im Schrifttum zunehmend die Auffassung vertreten, daß ein zulässigerweise im Gerichtsstand der unerlaubten Handlung ( § 32 ZPO) angerufenes Gericht über konkurrierende vertragliche Ansprüche mitzuentscheiden habe (vgl. Zöller/Vollkommer, § 32 Rdnr. 20 a.E. sowie § 12 Rdnr. 21 und Einleitung Rdnr. 85; Wieczorek/Schütze/Hausmann, ZPO, 3. Aufl., § 32 Rdnr. 28; Lüke, in: MünchKomm-ZPO, Vorb. § 253 Rdnr. 39 und § 261 Rdnr. 59; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 36 VI; Hoffmann, ZZP 107, 3 (26f.); Geimer, IZPR Rdnr. 1523; offen Thomas/Putzo, Vorb. § 12 Rdnr. 8, § 32 Rdnr. 6).
Der Senat schließt sich dieser Auffassung jedenfalls für solche Fälle an, in denen der Kl. - wie hier - seine Schadensersatzansprüche aufgrund eines einheitlichen Lebenssachverhaltes sowohl auf unerlaubte Handlung ( § 823 II BGB i.V. mit  § 263 StGB,  § 826 BGB) als auch auf Verschulden bei Vertragsschluß stützt. Da der Gesetzgeber durch  § 17 II GVG sogar über die Rechtsweggrenzen hinaus eine umfassende Entscheidungsbefugnis des angegangenen Gerichts anerkannt hat, hält der Senat es für angezeigt, diesen auf Gründen der Zweckmäßigkeit der Verfahrensgestaltung beruhenden Rechtsgedanken auf das Verhältnis des Gerichtsstands der unerlaubten Handlung ( § 32 ZPO) zum allgemeinen Gerichtsstand ( §§ 12, 13 ZPO) anzuwenden. Dadurch wird die Entscheidungsbefugnis bei einem zulässigerweise angerufenen Gericht konzentriert und ein wirtschaftlicher Verfahrensablauf ermöglicht.
cc) Den gegenteiligen Auffassungen (vgl. Patzina, in: MünchKomm-ZPO, § 32 Rdnr. 16; Stein/Jonas/Schumann, § 32 Rdnrn. 17 und 25; Zimmermann, ZPO, 3. Aufl., § 32 Rdnr. 5; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 53. Aufl., § 32 Rdnr. 14; Würthwein, ZZP 106, 51 (76f.)) kann der Senat jedenfalls für Fälle der vorliegenden Art nicht folgen. Zwar enthält der besondere Gerichtsstand des  § 32 ZPO eine Ausnahmeregelung zum allgemeinen Gerichtsstand ( §§ 12, 13 ZPO), die aufgrund des besonderen Sachbezugs zur unerlaubten Handlung gerechtfertigt ist (Würthwein, S. 74). Liegt aber wie hier den Ansprüchen aus unerlaubter Handlung einerseits und den Ansprüchen aus Verschulden bei Vertragsschluß andererseits ein einheitlicher Lebenssachverhalt zugrunde, so läßt es sich im Hinblick auf die Regelung des  § 17 II GVG nicht mehr rechtfertigen, einen rechtlichen Gesichtspunkt und damit einen Teil des Streitgegenstandes abzuspalten.