Verbot der Überraschungsentscheidung: Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG)

BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), Beschluß vom 25. 10. 2001 - 1 BvR 1079/96


(Eigener) Leitsatz:

Zur Verletzung von Art. 103 I GG durch eine zivilgerichtliche Überraschungsentscheidung


Fundstelle:

NJW 2002, 1334


Anmerkung:

Die Entscheidung legt lehrbuchmäßig die Anforderungen an das rechtliche Gehör im Zivilverfahren dar. S. dazu aus prozessualer Sicht (Entlastung des BVerfG!) nunmehr die Möglichkeit der Gehörsrüge in § 321a ZPO n.F.


Zum Sachverhalt:

Die Bf. war von August 1994 bis Ende 1995 Eigentümerin eines mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks. In diesem Haus befand sich zuvor die Ehewohnung des Voreigentümers und seiner Ehefrau. Durch Urteil des AG wurde die Ehe des Voreigentümers 1994 geschieden und diesem die Ehewohnung zur alleinigen Nutzung zugewiesen. Ein Räumungsverlangen gegenüber seiner geschiedenen Ehefrau sollte jedoch erst ab dem Zeitpunkt geltend gemacht werden können, ab dem er ihr eine Wohnung zur Verfügung stellen würde oder seiner geschiedenen Ehefrau das Alleineigentum an einem im gemeinsamen Eigentum der Eheleute stehenden Sechsfamilienhauses eingeräumt bzw. eingetragen worden sei. Bis dahin, längstens aber bis zum 31. 5. 1997, stehe der Ehefrau die Ehewohnung zur alleinigen Nutzung zu. Ende 1994 wurde das mit dem Sechsfamilienhaus bebaute Grundstück zwangsversteigert. Im von beiden Eheleuten angestrengten Berufungsverfahren benachrichtigte das OLG unter dem 20. 2. 1995 die Bf. von dem Verhandlungstermin am 8. 3. 1995 und wies sie auf ihr Recht hin, sich als Eigentümerin des fraglichen Grundstücks zu dem Wohnungszuweisungsbegehren zu äußern und in dem Termin anwesend zu sein. Ferner wurden ihr das amtsgerichtliche Urteil sowie die Berufungsschriftsätze zugestellt. Die Bf. gab keine Stellungnahme ab und erschien nicht in der mündlichen Verhandlung. Mit Urteil vom 22. 3. 1995 änderte das OLG das erstinstanzliche Urteil hinsichtlich der Regelung zur Ehewohnung dahin gehend ab, dass die Ehewohnung der ehemaligen Ehefrau des Voreigentümers unter Begründung eines entgelt- und lastenfreien Nutzungsverhältnisses mit der Bf. zugewiesen wurde und zwar bis zur lastenfreien Übertragung des inzwischen zwangsversteigerten Sechsfamilienhauses durch den Voreigentümer auf dessen geschiedene Ehefrau. Die zwischenzeitlich erfolgte Veräußerung des Hausgrundstücks an die Bf. könne eine andere Entscheidung nicht rechtfertigen. Die Zuweisung der Ehewohnung an einen Ehegatten setze die Eigentümerstellung eines der Ehegatten nicht voraus. Auch ohne Mietvertrag komme die Zuweisung der Ehewohnung in Betracht, wobei vom Richter ein Mietverhältnis oder gem. § 2 HausratsVO auch ein Nutzungsverhältnis zu begründen sei.

Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.

Aus den Gründen:

II. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 I BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93a II lit. b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c I 1 BVerfGG sind gegeben. Die angegriffene Entscheidung verletzt die Bf. in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG).

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Durch den zwischenzeitlichen Verkauf des Hausgrundstücks sind weder die Beschwerdebefugnis der Bf. noch ihr Rechtsschutzinteresse entfallen, da andernfalls das unbillige Ergebnis einträte, dass das Urteil überhaupt nicht mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden könnte (vgl. BVerfGE 25, 256 [262f.] = NJW 1969, 1161; BVerfGE 56, 296 [297] = NJW 1981, 1360).

2. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das BVerfG bereits entschieden (vgl. BVerfGE 9, 89 [95] = NJW 1959, 427; BVerfGE 60, 175 [210ff.] = NJW 1982, 1579; BVerfGE 64, 135 [143] = NJW 1983, 2762; BVerfGE 65 227 [233f.] = NJW 1983, 2762; BVerfGE 84, 188 [189f.] = NJW 1991, 2823; BVerfGE 86, 133 [144] = DtZ 1992, 327; BVerfGE 101, 397 [405] = NJW 2000, 1709).

a) Der in Art. 103 I GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das gerichtliche Verfahren. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und dessen Ergebnis nehmen zu können (BVerfGE 9, 89 [95] = NJW 1959, 427; BVerfGE 84, 188 [189f.] = NJW 1991, 2823; BVerfGE 86, 133 [144] = DtZ 1992, 317). Dies gilt für jeden, der an einem gerichtlichen Verfahren als Partei oder in ähnlicher Stellung beteiligt ist oder unmittelbar rechtlich von dem Verfahren betroffen wird (vgl. BVerfGE 65, 227 [233] = NJW 1984, 719; BVerfGE 101, 397 [404] = NJW 2000, 1709). Da eine Einflussnahme nicht nur durch tatsächliches Vorbringen, sondern auch durch Rechtsausführungen geschehen kann, gewährleistet Art. 103 I GG dem Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern (vgl. BVerfGE 60, 175 [210ff.] = NJW 1982, 1579; BVerfGE 64, 135 [143] = NJW 1983, 2762; BVerfGE 65, 227 [234] = NJW 1984, 719; BVerfGE 86, 133 [144] = DtZ 1992, 327). Dies setzt voraus, dass der Betroffene von dem Sachverhalt und dem Verfahren, in dem dieser verwertet werden soll, Kenntnis erhält (BVerfGE 101, 397 [405] = NJW 2000, 1709). Dabei kann es in besonderen Fällen auch geboten sein, den Verfahrensbeteiligten auf eine Rechtsauffassung hinzuweisen, die das Gericht der Entscheidung zu Grunde legen will, damit sie bei Anwendung der von ihnen zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermögen, auf welche Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommen kann. Es kann im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtslage gleichkommen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (BVerfGE 86, 133 [144] = DtZ 1992, 327).

Will ein Gericht eine erstinstanzliche Entscheidung abändern und greift es dadurch in die Rechtsstellung des durch diese Entscheidung Begünstigten ein, muss dieser außerdem Gelegenheit erhalten, sich in Kenntnis der dem Gericht vorliegenden Stellungnahmen und Anträge zumindest einmal umfassend zur Sach- und Rechtslage zu äußern. Der Umfang des Äußerungsanspruchs entspricht in diesem Fall dem eines vom Gericht noch nicht angehörten Beteiligten in erster Instanz (BVerfGE 65, 227 [234] = NJW 1984, 719).

b) Nach diesen Maßstäben ist die angegriffene Entscheidung des OLG mit Art. 103 I GG nicht vereinbar. Sie verletzt den Anspruch der Bf. auf rechtliches Gehör. Allein mit der Übersendung des amtsgerichtlichen Urteils und der Berufungsschriftsätze sowie dem gerichtlichen Hinweis auf ihr Recht zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung ist die Bf. nicht in verfassungsrechtlich erforderlichem Maße angehört worden. Auf Grund dieser Unterlagen war der Bf. zwar zur Kenntnis gelangt, dass die Ehefrau des Voreigentümers - wenn auch nur hilfsweise - ein unbefristetes Nutzungsverhältnis beantragt hatte. Den Unterlagen hat sie hingegen nicht entnehmen können, dass darüber hinaus ein unentgeltliches Nutzungsverhältnis begehrt und im Berufungsverfahren erstmals begründet werden könnte. Damit musste die Bf. auch nicht rechnen. Gemäß § 5 II HausratsVO begründet das Gericht bei entsprechender Sachlage ein Mietverhältnis und setzt einen entsprechenden Mietzins fest. Dafür, dass das OLG unter Heranziehung der in § 2 HausratsVO normierten Grundsätze für die rechtsgestaltende Entscheidung ein unentgeltliches und unbefristetes Nutzungsverhältnis begründen würde, hat es für die Bf. keine erkennbaren Anhaltspunkte gegeben. Insofern hatte sie auch keinen Anlass, Rechtsausführungen zur Frage der Begründung eines solchen Nutzungsverhältnisses zu machen und sich zu einer etwaigen Verletzung ihrer (Eigentums-)Rechte aus Art. 14 GG zu äußern. Damit ist ihr die Gelegenheit genommen worden, ihre Rechte im Verfahren geltend zu machen und auf die gerichtliche Entscheidungsfindung in den maßgeblichen Punkten Einfluss zu nehmen. Dies wiegt umso schwerer, als sie am erstinstanzlichen Verfahren nicht beteiligt war, ihr insofern gegen die dort ergangene Entscheidung kein Rechtsmittel zur Verfügung gestanden hat und sie deshalb zur Wahrung ihrer Rechte im Berufungsverfahren allein darauf angewiesen gewesen war, zu allen die Entscheidung tragenden tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen des Gerichts Stellung nehmen zu können.

c) Die angegriffene Entscheidung beruht auf der festgestellten Verletzung des Prozessgrundrechts aus Art. 103 I GG. Es lässt sich nicht ausschließen, dass das Gericht von der Begründung des fraglichen Nutzungsverhältnisses abgesehen hätte, wenn die Bf. ihre Auffassungen zu den tatsächlichen sowie rechtlichen Fragen bereits im Berufungsverfahren vorgetragen und das OLG diese geprüft hätte.