Versäunisverfahren und Präklusion: "Flucht in die Säumnis" und Anwaltsverschulden bei unterlassenem Einspruch
BGH, Urteil vom 25. Oktober 2001 - IX ZR 19/99 - OLG Hamm - LG Arnsberg

Fundstelle:

NJW 2002, 290


Amtl. Leitsatz:

Nach einer "Flucht in die Säumnis" ist der Anwalt grundsätzlich verpflichtet, auch ohne ausdrückliche Weisung des Mandanten Einspruch gegen das Versäumnisurteil einzulegen. Hält er jedoch nach eingehender Prüfung der Erfolgsaussichten eine Fortsetzung des Verfahrens für aussichtslos, hat er rechtzeitig vor Fristablauf mit dem Mandanten Rücksprache zu halten und dessen Entscheidung einzuholen.
Tatbestand:

Der Kläger nimmt die verklagten Rechtsanwälte auf Schadenersatz wegen Schlechterfüllung eines Anwaltsvertrages in Anspruch.

Die Beklagten vertraten den Kläger in dessen Scheidungsverfahren; Teil des Mandats war die Abwehr von nachehelichen Unterhaltsansprüchen der geschiedenen Ehefrau des Klägers. In dieser Folgesache wies das Amtsgericht - Familiengericht - B. mit Verfügung vom 21. Juni 1994 darauf hin, daß es den Vortrag des Klägers zu den von ihm geltend gemachten unterhaltsrechtlichen Belastungen für nicht ausreichend erachte. Das Gericht konkretisierte diesen Hinweis in der mündlichen Verhandlung am 26. September 1994 unter Bezugnahme auf die von dem Kläger behaupteten Darlehensverbindlichkeiten I. und P. Mit Schreiben vom 10. November 1994 übersandten die Beklagten dem Kläger einen Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten der Ehefrau. Unter Hinweis auf eine vom Gericht gesetzte zweiwöchige Frist zur Stellungnahme endete das Schreiben mit den Worten: "Die Sache eilt also." Der Kläger übergab den Beklagten daraufhin am 13. Dezember 1994 mehrere Bestätigungen über die Ausreichung von Darlehen, welche diese mit Schriftsatz vom selben Tage, eingegangen am 15. Dezember 1994, beim Amtsgericht einreichten.

Im Verhandlungstermin vom 19. Dezember 1994 wies das Amtsgericht das Vorbringen des Klägers im Schriftsatz vom 13. Dezember 1994 durch Beschluß als verspätet zurück. Die Beklagte zu 2, welche den Termin zusammen mit dem Kläger wahrgenommen hatte, stellte daraufhin keinen Antrag. Es erging sodann ein Versäumnisurteil, durch das der Kläger zu monatlichen Unterhaltszahlungen in Höhe von 1.000 DM verurteilt wurde. Die Beklagten haben dieses ihnen am 23. Dezember 1994 zugestellte Urteil dem Kläger mit Schreiben vom 27. Dezember 1994 unter Angabe einer unzutreffenden, um einen Monat zu langen Einspruchsfrist übersandt. Gegen das Versäumnisurteil haben die Beklagten erst nach Fristablauf Einspruch eingelegt. Ein damit verbundener Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand blieb erfolglos.

Der Kläger hat den Beklagten vorgeworfen, ihn nicht über die prozessualen Nachteile verspäteten Vorbringens aufgeklärt, nicht rechtzeitig vor Ablauf der Einspruchsfrist eine Weisung zur Einspruchseinlegung eingeholt und nicht von sich aus rechtzeitig Einspruch eingelegt zu haben. Er hält die materiell-rechtlichen Voraussetzungen einer Unterhaltsverpflichtung gegenüber seiner früheren Ehefrau nicht für gegeben und nimmt die Beklagten wegen behaupteter Unterhaltszahlungen in Höhe von 28.161,30 DM auf Schadenersatz in Anspruch; darüber hinaus begehrt er die Feststellung, daß die Beklagten zum Ersatz des durch die Versäumung der Einspruchsfrist entstandenen und noch entstehenden Schadens verpflichtet sind. Land- und Oberlandesgericht haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger den Klageanspruch weiter.

Entscheidungsgründe:

Die Revision führt zur Aufhebung und Zurückverweisung.

I.

Das Berufungsgericht meint, eine verzögerte Bearbeitung des Verfahrens sei den Beklagten nicht anzulasten. Der Hinweis im Schreiben vom 10. November 1994, "die Sache eilt also", sei ausreichend gewesen; er habe von dem Kläger als Aufforderung zu einer kurzfristigen Rücksprache verstanden werden müssen. Eine weitergehende Belehrungspflicht der Beklagten über die prozessualen Nachteile verspäteten Vorbringens habe angesichts der Erfahrung des Klägers als Verwaltungsangestellten im Umgang mit Behörden und Gerichten nicht bestanden.

Daß die Beklagten die Entscheidung über die Einspruchseinlegung nicht ohne Rücksprache mit dem Kläger eigenmächtig hätten treffen wollen, sei wegen der dadurch verursachten weiteren Kosten und der Notwendigkeit, sämtliche Angriffs- und Verteidigungsmittel in der Einspruchsschrift vorzutragen, ebenfalls nicht zu beanstanden. Ein Verweis auf das bisherige schriftsätzliche Vorbringen sei wegen des für den Kläger eindeutig ungünstigen Verlaufs der Beweisaufnahme am 19. Dezember 1994 nicht sinnvoll gewesen.

Schließlich sei die fehlerhafte Belehrung über den Fristablauf für die unterbliebene Einspruchseinlegung nicht kausal gewesen, da der Kläger erst nach Ablauf der Einspruchsfrist das Schreiben der Beklagten vom 27. Dezember 1994 geöffnet und die Belehrung zur Kenntnis genommen habe.

II.

Diese Begründung hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

1. Die Beklagten haben ihre Pflichten aus dem Anwaltsvertrag (§§ 611, 675 BGB) schuldhaft verletzt. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts waren sie auch ohne ausdrückliche Anweisung des Klägers verpflichtet, gegen das Versäumnisurteil vom 19. Dezember 1994 Einspruch einzulegen.

a) Grundsätzlich braucht der Anwalt, der seine Partei durch einfachen Brief über den Inhalt einer gerichtlichen Entscheidung sowie über Rechtsmittelmöglichkeiten einschließlich der einzuhaltenden Fristen unterrichtet hat, trotz Schweigens des Mandanten keine Nachfrage zu halten. Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen ist eine Verpflichtung zur Nachfrage zu bejahen, etwa wenn der Anwalt den Verlust seiner Mitteilung befürchten mußte oder wenn ihm der Standpunkt seines Mandanten, unter allen Umständen ein Rechtsmittel einlegen und durchführen zu wollen, aus bestimmten Umständen bekannt war (vgl. BGH, Beschl. v. 23. Januar 1963 - VIII ZB 19/62, VersR 1963, 435, 436; v. 5. Mai 1986 - II ZR 102/86, VersR 1986, 966, 967; v. 13. November 1991 - VIII ZB 29/91, VersR 1992, 898, 899). Eine Verpflichtung zur Nachfrage besteht beispielsweise dann, wenn der Mandant in einem Parallelrechtsstreit mit dem gleichen Sachverhalt, in dem am selben Tag ein Urteil verkündet wurde, bereits Berufung hat einlegen lassen (BGH, Beschl. v. 14. Mai 1981 - VI ZB 39/80, VersR 1981, 834 f.), aber wohl nicht, wenn die Berufungseinlegung in dem Parallelverfahren bereits dreieinhalb Jahre zurückliegt (BGH, Beschl. v. 4. Oktober 1990 - V ZB 7/90, VersR 1991, 124).

b) Im Streitfall waren die Beklagten von sich aus zur Einlegung des Einspruchs verpflichtet. Nach ihrer eigenen Darstellung hat die Beklagte zu 2 in der mündlichen Verhandlung am 19. Dezember 1994 allein deshalb die Antragstellung unterlassen und den Erlass eines dem Kläger nachteiligen Versäumnisurteils in Kauf genommen, weil sie durch die "Flucht in die Säumnis" eine Zurückweisung des Vorbringens zu den unterhaltsrechtlich relevanten Darlehensbelastungen des Klägers vermeiden wollte. In dieser Situation ist - im Gegensatz zur Rechtsmitteleinlegung nach Abschluß der Instanz - die Frage der Einlegung eines Rechtsbehelfs regelmäßig nicht offen. Denn Sinn und Zweck der "Flucht in die Säumnis" ist es gerade, durch die Einlegung eines Einspruchs den Weg für eine Fortsetzung des Verfahrens frei zu machen (vgl. Prütting/Weth ZZP 98 [1985], 131, 134 ff.; Stein/Jonas/Leipold, ZPO 21. Aufl. § 296 Rn. 79 f.; MünchKomm-ZPO/Prütting, 2. Aufl. § 296 Rn. 112). Der Mandant nimmt hier allein aus taktischen Erwägungen eine aus seiner Sicht nachteilige - weil seine Einwendungen nicht berücksichtigende - Säumnisentscheidung hin mit der klaren Zielsetzung, diese nach einem Einspruch durch Wiederholung des andernfalls präkludierten Vortrags zu korrigieren. Aufgrund dessen muß der Anwalt, solange er keine gegenteilige Weisung erhalten hat, davon ausgehen, daß der Mandat eine Fortsetzung des Verfahrens wünscht. Er ist deshalb verpflichtet, auch ohne ausdrückliche Weisung des Mandanten Einspruch gegen das Versäumnisurteil einzulegen oder, wenn er nach eingehender Prüfung der Erfolgsaussichten eine Fortsetzung des Verfahrens für aussichtslos erachtet, rechtzeitig vor Fristablauf mit dem Mandanten Rücksprache zu halten und dessen Entscheidung einzuholen.

c) Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts durften die Beklagten auf eine Einspruchseinlegung ohne vorherige Befragung des Klägers nicht deshalb verzichten, weil ein Verweis auf das bisherige schriftsätzliche Vorbringen wegen des für den Kläger ungünstigen Verlaufs der Beweisaufnahme am 19. Dezember 1994 nicht sinnvoll gewesen wäre oder die Beklagten ohne weitere Informationen durch den Kläger den Einspruch in der Einspruchsschrift nicht umfassend hätten begründen können (vgl. § 340 Abs. 3 Satz 1 ZPO).

Den Beklagten wäre es möglich gewesen, in der Einspruchsschrift zu den Darlehen P. und I. auch ohne zusätzliche Angaben des Klägers vorzutragen. Insoweit hatten die Beklagten im Schriftsatz vom 13. Dezember 1994 zum Beweis des Bestehens der behaupteten Darlehensverbindlichkeiten aussagekräftige Urkunden vorgelegt; zudem hätten die Darlehensgeber G. und Gü. P. sowie T. I. als Zeugen benannt werden können. Dies gilt umso mehr, als die Beklagten die beiden Letztgenannten bereits in ihrem Schriftsatz vom 7. September 1994 als Zeugen für die Behauptung des Klägers angeboten hatten, ihre Darlehen würden nach wie vor bedient.

2. Sollte das weitere Verfahren ergeben, daß dem Kläger ein Schaden entstanden ist, weil er auf Grund des Versäumnisurteils ohne materiell-rechtliche Grundlage Unterhaltszahlungen zu leisten und geleistet hat - das Berufungsgericht hat hierzu, von seinem Standpunkt aus konsequent, keine Feststellungen getroffen -, so ist der Pflichtverstoß der Beklagten für diesen Schaden auch ursächlich; denn im Falle eines rechtzeitigen Einspruchs hätte eine Beweisaufnahme zu den von dem Kläger vorgetragenen Darlehensverbindlichkeiten durchgeführt werden müssen (siehe unten zu III.).

a) Durch den zulässigen Einspruch wird der Prozess in die Lage zurückversetzt, in der er sich vor Eintritt der Säumnis in der mündlichen Verhandlung befand, § 342 ZPO. Das einmal verspätete Vorbringen bleibt damit verspätet (vgl. BGHZ 76, 173, 177; BGH, Urt. v. 23. Oktober 1980 - VII ZR 307/79, NJW 1981, 286). Jedoch fehlt es an der nach § 296 Abs. 2 ZPO für eine Zurückweisung erforderlichen Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits, wenn in dem auf den Einspruch anzuberaumenden Termin zur mündlichen Verhandlung - § 341a ZPO - die verspätet vorgebrachten Verteidigungsmittel berücksichtigt werden können (vgl. BGHZ 75, 138, 142 f.; 76, 173, 178 f.). Dabei obliegt es dem Gericht, im Rahmen einer umfassenden Terminsvorbereitung alles Zumutbare zu unternehmen, um die Folgen der Fristversäumung auszugleichen (st. Rspr., BGH aaO; BGH, Urt. v. 22. Oktober 1998 - VII ZR 82/97, NJW 1999, 585; vgl. auch BVerfG, NJW 1990, 2373 f.; NJW-RR 1995, 377 f.; NJW-RR 1999, 1079). Allerdings ist das Gericht nicht verpflichtet, die Verhandlung so weit hinauszuschieben, daß alle nach dem verspäteten Vorbringen in Betracht kommenden Beweise erhoben werden können (BGH, Urt. v. 23. Oktober 1980 aaO). Zumutbar sind vorbereitende Anordnungen gemäß § 273 ZPO aber jedenfalls dann, wenn es sich um einfache und klar abgrenzbare Streitpunkte handelt, die ohne unangemessenen Zeitaufwand geklärt werden können (BGHZ 91, 293, 304; BGH, Urt. v. 22. November 1995 - VIII ZR 195/94, NJW 1996, 528, 529). Unter diesen Voraussetzungen ist eine Beweisaufnahme mit vier oder sogar sechs Zeugen stets zumutbar (BGH, Urt. v. 7. Oktober 1986 - VI ZR 262/85, VersR 1987, 259; v. 21. März 1991 - III ZR 118/89, NJW 1991, 2759, 2760 f.; v. 22. November 1995 aaO).

b) Im Streitfall ging es um ein einfaches und klar abgegrenztes Beweisthema, nämlich die Gewährung von zwei Darlehen an den Kläger durch die Eheleute P. und T. I. sowie deren Rückführung in monatlichen Raten. Hierzu waren die drei Darlehensgeber als Zeugen zu vernehmen. Es ist nicht ersichtlich, da eine derartige Beweisaufnahme - auch bei Berücksichtigung etwaiger Gegenzeugen der früheren Ehefrau des Klägers - die Grenzen des Zumutbaren gesprengt hätte.

c) Die Beklagten waren an einer Wiederholung des Vortrags zu den Darlehen P. und I. auch nicht dadurch gehindert, daß das Familiengericht bereits in der mündlichen Verhandlung vom 19. Dezember 1994 den entsprechenden Vortrag durch Beschluß zurückgewiesen hatte.

Dies war wirkungslos, weil eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens nur im Rahmen eines Endurteils erfolgen kann (allg. Meinung, vgl. Stein/Jonas/Leipold aaO § 296 Rn 124) und eingehend zu begründen ist (BGH, Urt. v. 22. Oktober 1998 - VII ZR 82/97, NJW 1999, 585; vgl. BVerfG MDR 1987, 904 Nr. 6). Auch diesem Erfordernis hat das Familiengericht nicht Genüge getan. Es hat zur Begründung seiner Entscheidung lediglich formelhaft den Wortlaut des § 296 Abs. 2 ZPO wiederholt.

3. Das Berufungsurteil ist somit aufzuheben (§ 564 Abs. 1 ZPO) und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 565 Abs. 1 S. 1 ZPO), weil sie noch nicht zur Endentscheidung reif ist.

III.

Im weiteren Verfahren wird das Berufungsgericht zu prüfen haben, wie der Unterhaltsrechtstreit zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau richtigerweise zu entscheiden gewesen wäre, wenn die Beklagten fristgerecht Einspruch gegen das Versäumnisurteil vom 19. Dezember 1994 eingelegt hätten (st. Rspr., vgl. BGHZ 124, 86, 96; 133, 110, 111; BGH, Urt. v. 6. Juli 2000 - IX ZR 198/99, NJW 2001, 673, 674). Insoweit handelt es sich um Fragen der haftungsausfüllenden Kausalität, zu deren Beurteilung die Beweismaßstäbe des § 287 Abs. 1 Satz 1 ZPO heranzuziehen sind (st. Rspr., vgl. BGHZ 4, 192, 196; 133, 110, 113).