Haftungsausfüllende Kausalität und Schutzzweck der Norm
BGH, Urt. v. 7.6.1968 - VI ZR 1/67 (Oldenburg)
Fundstelle:

NJW 1968, 2287 f
Vgl. dazu auch Köhler, PdW SchuldR AT Fall 141


Amtl. Leitsatz:

Das Verbot, den Körper und die Gesundheit eines anderen zu verletzen, soll nicht davor schützen, daß bei einem Unfallverletzten eine bis dahin verborgene Krankheit (hier: Hirnarteriosklerose) entdeckt wird und der Verletzte deshalb früher in den Ruhestand versetzt wird, als es sonst geschehen wäre. Der Schaden, den der Verletzte durch die frühere Pensionierung erleidet, liegt nicht im Schutzbereich des § 823 Abs. 1 BGB und ist daher nicht von dem Schädiger zu ersetzen (Fortbildung von BGHZ 27, 137 = NJW 1958, 1041).


Aus den Gründen:

....Das Berufungsgericht hat den Beklagten dafür verantwortlich gemacht, daß die mit dem Unfall nicht zusammenhängende Erkrankung des Klägers (Hirnarteriosklerose) infolge des Unfalls früher entdeckt wurde, als es sonst der Fall gewesen wäre, und daß der Kläger deshalb schon am 1.5.1963 wegen dieser schicksalsbedingten Erkrankung in den Ruhestand versetzt wurde.
Nun ist es zwar richtig, daß der Kläger ohne den Unfall zu einem späteren Zeitpunkt in den Ruhestand versetzt worden wäre. Daher kann nicht zweifelhaft sein, daß die unerlaubte Handlung des Beklagten eine conditio sine qua non für die Pensionierung zum 1.5. 1963 und den damit verbundenen Schaden des Klägers war. Sie war auch eine adäquate Bedingung für diesen Schaden, den es liegt nicht außerhalb der Erfahrung, daß eine Kopfverletzung, wie sie der Kläger bei dem Unfall erlitten hat, zu ärztlichen Untersuchungen und dazu führt, daß die Voraussetzungen für eine Pensionierung des Verletzten früher entdeckt werden, als es sonst der Fall gewesen wäre.
Das allein kann indes in einem Falle wie dem vorliegenden nicht ausreichen, um die Ersatzpflicht des Beklagten für diesen Schaden zu bejahen. Der erkennende Senat hat schon in seinem Urteil BGHZ 27, 137 = NJW 58, 1041 im Anschluß an die Rechtslehre und an frühere Entscheidungen des BGH darauf hingewiesen, daß der Gesichtspunkt der adäquaten Kausalität nicht in allen Fällen geeignet ist, das Problem einer gerechten Begrenzung der Haftung in geeigneter Weise zu lösen. Vielmehr ist daneben auch zu fragen, ob die Tatfolge, für die Ersatz begehrt wird, innerhalb des Schutzbereichs der verletzten Norm liegt. Diese Frage ist nicht nur in Fällen der Haftung aus der Verletzung eines Schutzgesetzes (§ 823 Abs. 2 BGB) zu stellen (vgl. BGHZ 12, 213, 217 = NJW 54, 865 und BGHZ 19, 114, 126 = NJW 56, 217). Sie ist vielmehr, wie der BGH in dem schon erwähnten Urteil BGHZ 27, 137 = NJW 58, 1041 entschieden hat, nicht minder von Bedeutung, wenn wie hier Ersatzansprüche aus § 823 Abs. 1 BGB hergeleitet werden. Auch im Rahmen dieser Bestimmung ist zu prüfen, ob der geltend gemachte Schaden innerhalb des Schutzzweckes der Vorschrift liegt, m.a.W., ob es sich dabei um Folgen handelt, die in den Bereich der Gefahren fallen, um deretwillen die Rechtsnorm erlassen wurde.
Die Forderung Essers, neben der Kausalität den “Rechtswidrigkeitszusammenhang” zu prüfen, läuft im Ergebnis auf das Gleiche hinaus. Auch nach seiner These sollen dem Täter nur solche Folgen zugerechnet werden, die durch den Gebots- und Verbotszweck der Norm verhindert werden sollen. Er ist ebenfalls der Meinung, daß die Haftungsnorm nicht alle Schadensfolgen erfassen will, sondern nur, die, welche gerade durch das übertretene Verbot hintangehalten werden sollen (ESSER, Schuldrecht, 1960, § 61). Hiernach sind Sinn und Tragweite der verletzten Norm zu untersuchen, um zu klären, ob der geltend gemachte Schaden durch diese Norm verhütet werden sollte. § 823 Abs. 1 BGB, auf den sich der Kläger in erster Linie stützt, schützt in dem hier in Betracht kommenden Teil die Unversehrtheit des Körpers und die Gesundheit. Diese Bestimmung will durch das Verbot, diese Rechtsgüter anderer zu verletzen, und durch die Pflicht zur Wiedergutmachung, die an die schuldhafte Verletzung des Körpers und der Gesundheit geknüpft ist, gegen die Gefahren zu schützen, die sich aus einer Verletzung dieser Rechtgüter ergeben.
Wird jemand, wie im vorliegenden Falle der Kläger, bei einem Unfall verletzt, so kann nicht zweifelhaft sein, daß nicht nur die Heilungskosten, sondern auch der Ersatz des Verdienstausfalls, den der Verletzte erleidet, weil er wegen der Unfallverletzungen seinem Beruf oder seinem Erwerb nicht mehr nachgehen kann, innerhalb des Schutzzweckes liegen, dem § 3 823 Abs. 1 BGB dient. Das gleiche gilt für den Ausgleich der Nachteile, die der Verletzte dadurch erleidet, daß wegen der beim Unfall erlittenen Gesundheitsschäden vorzeitig in den Ruhestand versetzt wird. All das sind Folgen der Körperverletzung, die § 823 Abs. 1 BGB hintanhalten will. Sie fallen also in den Schutzbereich des Gesetzes.
Anders verhält es sich aber mit dem Schaden, dessen Ersatz der Kläger begehrt. Das Verbot der Körperverletzung soll nicht davor schützen, daß bis dahin verborgen gebliebene Erkrankungen entdeckt werden und dann zur Pensionierung führen. Insoweit sind durch den Unfall keine Gefahren verwirklicht worden, die das Gesetz verhüten will. Daß eine Krankheit erkannt wird, ist ein Geschick, das dem Menschen jederzeit widerfahren kann. Es gehört zu den allgemeinen Lebensrisiken, fällt aber nicht in den Gefahrenbereich, den § 823 Abs. 1 BGB schützen will.
Die gleichen Erwägungen gelten, soweit § 7 StVG als Anspruchsgrundlage in Betracht kommt. Auch hier liegt die Tatfolge, für die der Kläger Ersatz begehrt, außerhalb des Schutzbereiches der gesetzlichen Bestimmung.


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