Bestimmtheit des Klageantrags (§ 253 II Nr. 2 ZPO, § 287 ZPO): Erfordernis der Angabe einer Größenordnung bei unbeziffertem Antrag auf Schmerzensgeld


BGH, Urt. v. 2. 2. 1999 - VI ZR 25/98


Fundstelle:

BGH NJW 1999, 1339 f
für BGHZ vorgesehen



Amtl. Leitsatz:

Hat der Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld unter Angabe einer Betragsvorstellung verlangt und hat das Gericht ihm ein Schmerzensgeld in eben dieser Höhe zuerkannt, so ist er durch das Urteil nicht beschwert und kann es nicht mit dem alleinigen Ziel eines höheren Schmerzensgeldes anfechten (im Anschluß an BGHZ 132, 341 [350ff.] = NJW 1996, 2425 LM H. 10/1996 § 249 [Ba] BGB Nr. 38). Will sich der Kläger die Möglichkeit eines Rechtsmittels offen halten, so muß er den Betrag nennen, den er auf jeden Fall zugesprochen haben will und bei dessen Unterschreitung er sich als nicht befriedigt ansehen würde.



Zum Sachverhalt:

Der Kl. nimmt den Bekl., seinen Vater, wegen eines Verkehrsunfalles, der sich am 18. 7. 1982 auf der Nationalstraße Trikala/Larissa in Griechenland ereignete, auf Zahlung von Schmerzensgeld und auf Feststellung der Schadensersatzpflicht in Anspruch. Die Parteien sind griechische Staatsangehörige mit Lebensmittelunkt in der Bundesrepublik Deutschland. Im Unfallzeitpunkt war der damals nicht ganz acht Jahre alte Kl. Beifahrer in dem von seinem Vater gesteuerten und bei der Streithelferin haftpflichtversicherten Pkw W. Das Fahrzeug kam von der Straße ab und fuhr gegen einen Mast. Der Kl. erlitt bei dem Unfall schwere Verletzungen; er ist seitdem querschnittsgelähmt. Im Tatbestand des landgerichtlichen Urteils ist das Klagebegehren in bezug auf den immateriellen Schaden wie folgt wiedergegeben: "Der Kl. begehrt ein Schmerzensgeld in Höhe von 40000 DM. Er beantragt, den Bekl. zu verurteilen, an ihn ein Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird ..."
Das LG hat dem Kl. ein Schmerzensgeld von 40000DM zugesprochen und die Verpflichtung des Bekl. zum Ersatz sämtlicher zukünftiger Schäden aus dem Unfall festgestellt. Auf die Berufung des Kl., mit der er beantragt hat, ihm über die zuerkannten 40000 DM hinaus ein weiteres Schmerzensgeld von mindestens 170 000 DM nebst Zinsen und eine monatliche Schmerzensgeldrente von 400 DM ab 1. 8. 1982 zuzusprechen, hat das OLG dem Kl. als Schmerzensgeld weitere 170 000 DM nebst Zinsen sowie eine monatliche Rente in der begehrten Höhe zuerkannt. Dagegen haben der Kl. und die Streithelferin des Bekl. Revision eingelegt. Der Kl. erstrebte ein weiteres angemessenes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 150 000 DM nebst Zinsen, die Streithelferin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils. Der Senat hat die Revision des Kl. durch Beschluß vom 6. 10. 1998 als unzulässig verworfen, weil der Kl. durch das angefochtene Urteil nicht beschwert sei: er habe das bekommen, was er begehrt habe. Die von der Streithelferin geführte Revision des Bekl. hat der Senat angenommen. Sie war erfolgreich und führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.

Aus den Gründen:

I. Das BerGer. hält die Berufung des Kl. für zulässig. Dieser sei durch das angefochtene Urteil um mehr als 1500 DM beschwert, weil das LG ihm ein Schmerzensgeld von nicht mehr als 40000 DM zuerkannt habe.
Nach Auffassung des BerGer. fehlt es bei einer Klage, die nicht Teilklage sei, an einer Beschwer des Kl. nur dann, wenn das zugesprochene Schmerzensgeld "der vorgestellten und im Klagevortrag zum Ausdruck gebrachten Größenordnung" entspreche. Hier habe der Kl. zwar in der Klageschrift einen Betrag von "mindestens 40000 DM" genannt, zugleich aber zum Ausdruck gebracht, daß sein Anspruch "tatsächlich ... ein Vielfaches davon" betragen dürfte. Dementsprechend sei sein Antrag, mit dem er die Höhe des begehrten Schmerzensgeldes in das Ermessen des Gerichts gestellt habe, dahin auszulegen, daß das eingeklagte Schmerzensgeld trotz der vom Kl. genannten Zahl weit über 40000 DM habe liegen sollen. Anders als im Regelfall - auch unter Berücksichtigung der mit der Angabe eines Mindestbetrages bezweckten Begrenzung des Kostenrisikos - sei deshalb hier aufgrund des Klagevorbringens anzunehmen, daß der Kl. keinesfalls mit der Zuerkennung von 40000 DM habe befriedigt sein wollen. Das LG habe sich daher zu Unrecht an den vom Kl. genannten Betrag von 40000 DM als Obergrenze gebunden geglaubt. Eine andere Beurteilung sei auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil es im Tatbestand des landgerichtlichen Urteils heiße, der Kl. begehre ein Schmerzensgeld von 40000 DM, d.h. einen festen Betrag; denn dieser Satz stehe im Widerspruch zum Antrag des Kl., ihm ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld zuzuerkennen. In der Sache selbst erachtet das BerGer. ein Schmerzensgeld von insgesamt 300000 DM für angemessen, das es in einen Kapitalbetrag von 210 000 DM und in eine monatliche Rente von 400 DM mit einem Rentenwert von 90000 DM aufgeteilt hat.
II. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der von der Streithelferin geführten Revision des Bekl. nicht stand. Diese macht zu Recht geltend, daß die Berufung des Kl. mangels Beschwer nicht zulässig war, denn dem Kl. ist vom LG das zugesprochen worden, was er ausweislich des Tatbestandes des erstinstanzlichen Urteils begehrt hat, nämlich ein Schmerzensgeld, das der von ihm selbst angegebenen Größenordnung von 40000 DM entspricht.
1. Die kl. Partei ist durch eine gerichtliche Entscheidung nur dann beschwert, wenn diese von dem in der unteren Instanz gestellten Antrag zu ihrem Nachteil abweicht, ihrem Begehren also nicht voll entsprochen worden ist (BGH, NJW 1994, 2697 = LM H. 8/1994 = § 519 ZPO Nr. 122; BGH, NJW 1984, 371 = LM § 546 ZPO Nr. 113). Freilich kann eine Partei eine Klage auch noch im Berufungsrechtszug erweitern (§§ 523, 264 Nr. 2 ZPO). Doch darf die Klageerweiterung, wie es hier der Fall ist, nicht das alleinige Ziel des Rechtsmittels sein. Nach ständiger Rechtsprechung setzt die Erweiterung der Klage in zweiter Instanz eine zulässige Berufung voraus. Das ist nur dann der Fall, wenn der Kl. mit dem Rechtsmittel zumindest auch die Beseitigung einer in dem angefochtenen Urteil liegenden Beschwer erstrebt (BGHZ 85, 140 (143] = NJW 1983, 172 = LM § 264 ZPO 1976 Nr. 3; Senat, NJW 1992, 2296 = LM H. 2/1993 § 264 ZPO 1976 Nr. 12= VersR 1992, 1110; BGH, NJW 1996, 527 = LM H. 3/1996 § 511 ZPO Nr. 55 jew. m. w. Nachw.). An dieser Voraussetzung fehlt es hier. Das BerGer. hat das Klagebegehren dahin verstanden, daß das Schmerzensgeld "weit über 40000 DM liegen solle". Hierbei hat es die Klageschrift zugrunde gelegt, in der der Kl. zwar einen Mindestbetrag von 40000 DM genannt, zugleich aber zum Ausdruck gebracht hat, daß sein Anspruch "tatsächlich ... ein Vielfaches davon" betragen dürfte. Dies ist im Ansatz rechtsfehlerhaft, denn nach dem den Zivilprozeß im Rahmen der § § 128 I, 137 II, III ZPO beherrschenden Grundsatz der Mündlichkeit ist nicht das schriftliche, sondern das mündliche Parteivorbringen maßgebend. Den Beweis für das mündliche Vorbringen einer Partei liefert nach § 314 ZPO der Urteilstatbestand, und zwar derjenige des angefochtenen Urteils, nicht dessen Darstellung im Berufungsurteil (BGH, DtZ 1996, 50 = LM H. 4/1996 § 894 BGB Nr. 18 = WM 1996, 89 [90]; OLG Stuttgart, NJW 1973, 1049). Dieser Beweis kann nur durch das Sitzungsprotokoll nicht aber durch den Inhalt der Schriftsätze entkräftet werden. Vorher eingereichte Schriftsätze sind durch den Tatbestand, der für das Vorbringen am Schluß der mündlichen Verhandlung Beweis erbringt, überholt (Senat, VersR 1959, 853 [854]; BGH, VersR 1983, 1160 [1161]; BGH, NJW 1993, 2875 = LM H. 2/1994 §511a ZPO Nr. 31 [zu II 2 e]); BGH, DtZ 1996, 50 = LM H. 4/1996 § 894 BGB Nr. 18 = WM 1996, 89 [90]). Ob auch ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die Schriftsätze, an der es hier im landgerichtlichen Urteil fehlt, der gesamte Akten-inhalt zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden und damit als vorgetragen anzusehen ist, bedarf hier keiner Entscheidung, denn auch in einem solchen Fall könnte das schriftsätzlich Vorgetragene allenfalls dann beachtlich sein, wenn sich aus dem Tatbestand oder dem Sitzungsprotokoll nichts Gegenteiliges ergibt (BGH, LM § 129 ZPO Nr. 1 = WM 1981, 798 (799]; BGH, NJW 1992, 2148 [2149] = LM H. 1/1992 § 276 [Cc] BGB Nr. 32; BGH, NJW-RR 1996, 379 = LM H. 5/1996 § 839 [Ca] BGB Nr. 99). Bei einem Widerspruch zwischen dem Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze und der Wiedergabe des Parteivorbringens im Urteilstatbestand, wie er hier nach der Auslegung des Klagevorbringens durch das BerGer. vorläge, sind jedenfalls die Ausführungen im Tatbestand maßgeblich. Die Beweiskraft des Tatbestandes könnte nur dann entfallen, wenn er in sich widersprüchlich wäre (Senat, LM § 314 ZPO Nr. 2 = NJW 1969, 190 L = VersR 1969, 79 [80]; BGH, NJW 1993, 2530 [2531] = LM H. 2/1994 § 63 DDR-ZGB Nr. 2; BGH, NJW 1997, 1917 = LM H. 8/1997 § 166 BGB Nr. 36 = WM 1997, 1092 [1093]). Das ist hier jedoch nicht der Fall. Nach der Darstellung im Urteil des LG hat der Kl. das begehrte Schmerzensgeld ausdrücklich in das Ermessen des Gerichts gestellt und als Schmerzensgeld nicht etwa einen festbezifferten Betrag verlangt, sondern seinem unbezifferten Antrag, mit dem er die Festsetzung eines angemessenen Betrages in das Ermessen des Gerichts gestellt hat, lediglich eine Betragsvorstellung beifügen wollen.
2. a) Hat der Kl. aber ein angemessenes Schmerzensgeld unter Angabe einer Betragsvorstellung verlangt und hat ihm das Gericht ein Schmerzensgeld in eben dieser Höhe zuerkannt, so hat der Kl. das bekommen, was er wollte. Er ist infolgedessen durch das Urteil nicht beschwert. Das entspricht ständiger Rechtsprechung des BGH (BGHZ 132, 341 [352] = NJW 1996, 2425 = .LM H. 10/1996 § 249 [Ba] BGB Nr. 38; BGH, BGH, VersR 1983, 1160 [1161] m.w. Nachw.; Senat, LM § 511 ZPO Nr.25 = NJW 1970, 198 L = VersR 1970, 83; BGH, NJW 1993, 2530 [2531] = LM H. 2/1994 § 63 DDR ZGB Nr. 2; BGH, NZV 1996, 194; ebenso Stein/Jonas-Grunsky, ZPO, 21. Aufl., Vorb. § 511 Rdnr. 81). An ihr ist festzuhalten.
b) Eine Beschwer des Kl. ließe sich im vorliegenden Fall nur dann bejahen, wenn für den Streitgegenstand allein der angemessene, nicht der vom Kl. angegebene Schmerzensgeldbetrag maßgebend wäre, der Kl. also immer dann als teilweise unterliegend angesehen werden müßte, wenn der zuerkannte Betrag hinter dem angemessenen zurück bleibt. In einem solchen Fall käme der Angabe einer Größenordnung keine Bedeutung mehr zu. Diese zum Teil im Schrifttum aus dem Senatsurteil vom 30. 4. 1996 (BGHZ 132, 341 [350ff.] = NJW 1996, 2425 = LM H. 10/1996 § 249 [Ba] BGB Nr. 38) gezogene Folgerung, daß nämlich die Angabe einer Größenordnung überflüssig sei (so Schlosser, JZ 1996, 1082 f.), ist jedoch nicht gerechtfertigt. Ihre Berechtigung kann insbesondere nicht aus dem Hinweis in diesem Urteil abgeleitet werden, das Gericht sei nach oben streitwertmäßig nicht an die Angabe des Kl. gebunden, "da sich der Streitwert am angemessenen Schmerzensgeld auszurichten" habe (BGHZ 132, 341 [352] = NJW 1996, 2425 = LM H. 10/1996 § 249 [Ba] BGB Nr. 38). Der Bezeichnung eines Mindestbetrages oder einer Größenordnung bedarf es jedenfalls zur Bestimmung der Beschwer und zur Sicherung einer Rechtsmitttelmöglichkeit. Will sich der Kl. die Möglichkeit eines Rechtsmittels offen halten, so muß er den Betrag nennen, den er auf jeden Fall zugesprochen haben will und bei dessen Unterschreitung er sich als nicht befriedigt ansehen würde. Käme es für die Bestimmung des Streitgegenstandes lediglich auf das Angemessene an, wäre die Angabe einer Größenordnung zur Ermittlung der Beschwer also unmaßgeblich, dann könnte sich die für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels notwendige Beschwer, will man nicht auf die Einschätzung des Angemessenen durch das BerGer. abstellen, nur aus dem vom Kl. in der Rechtsmittelinstanz geltend gemachten Zurückbleiben des ausgeurteilten hinter dem angemessenen Schmerzensgeld ergeben. Die Zulässigkeit der Berufung hinge in solchem Fall allein von der im Rechtsmittelzug geäußerten Betragsvorstellung des Kl. ab. Bei der Frage, ob eine Partei durch eine gerichtliche Entscheidung beschwert und zu einem Rechtsmittel berechtigt ist, kann es indessen nicht darauf ankommen, welche Vorstellungen sie erst bei Anfechtung der Entscheidung offenbart; maßgebend ist vielmehr, welche sie vor Erlaß des Urteils in der Vorinstanz geäußert hat (so zutreffend OLG Oldenburg i. Verb. mit Pkh-Verweigerungsbeschluß des Senats, VersR 1979, 657).
c) Es ist daher daran festzuhalten, daß im Rahmen des Bestimmtheitsgebotes gem. § 253 II Nr. 2 ZPO die Angabe einer Betragsvorstellung, nach der sich die Beschwer bestimmt, jedenfalls dann notwendig ist, wenn der Kl. sich die Möglichkeit einer Rechtsmitteleinlegung erhalten will (BGHZ 132, 341 [351 f.] = NJW 1996, 2425 = LM H. 10/1996 § 249 [Ba] BGB Nr. 38). Im vorliegenden Fall hat der Kl. dem LG seine Betragsvorstellung mitgeteilt und damit sein Klageziel bestimmt. Da das LG mit dem zuerkannten Schmerzensgeld seiner Vorstellung entsprochen hat, hat er das erreicht, was er wollte. Das LG wäre zwar nicht gehindert gewesen, dem Kl. einen über seine Betragsvorstellung hinausgehenden Schmerzensgeldbetrag zuzuerkennen (BGHZ 132, 141 [350] = NJW 1996, 2425 = LM H. 10/1996 § 249 [Ba] BGB Nr. 38). In der bloßen Nichtwahrnehmung dieser Möglichkeit allein liegt jedoch für ihn keine Beschwer. Ohne das Vorliegen einer Beschwer kann indessen ein etwaiger Fehler des Gerichts bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nicht durch ein Rechtsmittelverfahren korrigiert werden. Dem Kl. war es infolgedessen hier verwehrt, das Rechtsmittel der Berufung mit dem ausschließlichen Ziel eines höheren Schmerzensgeldbetrages einzulegen.
III. Nach alledem ist das Berufungsurteil aufzuheben und das landgerichtliche Urteil wiederherzustellen. Der Bekl. bleibt demgemäß verurteilt, dem Kl. ein Schmerzensgeld in Höhe von 40 000 DM zu zahlen. 



<- Zurück mit dem "Back"-Button Ihres Browsers