Umfang von Verkehrssicherungspflichten gegenüber Kindern

BGH, Urt. v. 4. 5. 1999- VI ZR 3 79/98 (Schleswig)

Fundstelle:

BGH NJW 1999, 2364



Amtl. Leitsatz:

Zur Verkehrssicherungspflicht gegenüber Kindern (Absicherung eines Notausstiegs auf einem Schulgelände).



Zum Sachverhalt:

Die bekl. Gemeinde ist Trägerin der Realschule S. Auf dem Schulgelände befindet sich in einer mit Sträuchern und Bodendeckern bepflanzten Erdaufschüttung, die mit einer etwa 30 cm hohen Mauer von dem Schulplatz abgegrenzt ist, vor einem der Schulgebäude ein Notausstieg, der aus den Kellerräumen herausführt. Dieser Notausstieg ist mit einer Abdeckung versehen, in die ein durch Scharniere geführter Deckel aus verzinktem Eisen in den Maßen 70 x 80 cm eingelassen ist. Der Deckel ist unverriegelt und von außen nicht mit einem Griff versehen. Hinter der Anpflanzung führt ein Feuerwehrgang an dem Schulgebäude entlang zum Notausstieg. Eine Absperrung zum Schulhof existiert nicht. Das Schulgelände mit dem angrenzenden Sportzentrum kann auch außerhalb der Schulzeiten betreten werden. In den Sommerferien 1995 öffnete der damals sieben Jahre und drei Monate alte Kl., als er mit zwei anderen Kindern auf dem Schulgelände spielte, den Deckel des Notausstiegs. Dabei verlor er das Gleichgewicht und fiel in den darunterliegenden etwa 2,5 bis 3 m tiefen Schacht. Der Kl. erlitt eine Absplitterung am Ellenbogen, die operativ behandelt werden mußte. Er befand sich vier Tage in starionärer Behandlung und trug anschließend sechs Wochen lang einen Gips; er ging vier- oder fünfmal zur Nachschau zu den behandelnden Ärzten. Der Kl. begehrt ein angemessenes Schmerzensgeld. Er macht geltend, die Bekl. habe ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt, weil sie versäumt habe, Vorkehrungen dagegen zu treffen, daß der Deckel des Notausstiegs mit bloßen Händen angehoben werden konnte. Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Kl. ist ohne Erfolg geblieben. Auch die Revision des Kl. hatte keinen Erfolg.

Aus den Gründen:

I. Zwar sei die Bekl., so führt das BerGer. aus, für den Unfallbereich verkehrssicherungspflichtig. Von der Anpflanzung mit dem dahinterliegenden Feuerwehrgang gehe auf spielende Kinder ein besonderer Reiz aus, was der Bekl. bekannt gewesen sei. Die Bekl. habe indes nicht gegen ihre Verkehrssicherungspflicht verstoßen. Diese Pflicht sei dann nicht verletzt, wenn die Gefahrenquelle derart offensichtlich sei, daß der Verkehrssicherungspflichtige darauf vertrauen könne, daß sich Kinder und Jugendliche dieser Gefahr aus ihrem natürlichen Angstgefühl heraus nicht bewußt aussetzen würden. So sei es hier. Schon die Konstruktion des Dekels - seine Einlassung in einen festen Metallrahmen - habe den Kl. unschwer erkennen lassen, daß er nicht befugt gewesen sei, sich an der Öffnung dieses Deckels zu versuchen. Vor allem aber sei auch für ein Kind wie den Kl. die in dem Schacht liegende Gefahr schon durch ein Anheben des Deckels um 30 bis 40 Grad offensichtlich geworden. Der Kl. hätte, nachdem für ihn durch das Anheben des Deckels der darunter befindliche Schacht erkennbar geworden sei, allen Anlaß gehabt, den Deckel wieder zu schließen, statt durch ein weiteres Öffnen die Gefahrenlage und schließlich den Unfall herbeizuführen.
II. Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision stand. Zwar ist die Bekl. auf dem Schulgelände und insbesondere auf dem abgesonderten, aber auch für Kinder zugänglichen Geländeteil, auf dem sich der Notausstieg befindet, verkehrssicherungspflichtig. Sie hat ihre Verkehrssicherungspflicht aber nicht dadurch verletzt, daß sie es unterlassen hat, den Deckel des Notausstiegs mit einer Sicherungsvorrichtung zu versehen, die ein Öffnen von außen, ausschließt oder zumindest durch eine Arretierung verhindert, daß der angehobene Deckel nach hinten umklappt.
1. Allerdings entfällt eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht entgegen der Auffassung der Bekl. nicht etwa schon deshalb, weil der Notausstieg die bauordnungsrechtlichen Vorgaben erfüllt. Die Verkehrssicherungspflicht kann sich an anderen rechtlichen Gesichtspunkten ausrichten und zum Schutz bedrohter Rechtsgüter höhere Anforderungen stellen und mehr an Sorgfalt verlangen, als in öffentlichrechtlichen Bestimmungen normiert ist (st. Rspr., vgl. Senat, NJW 1998, 2436 = LM H. 9/1 998 § 823 [Dc] BGB Nr. 206 = VersR 1998, 1029 [1030] m.w. Nachw.). Eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht scheidet auch nicht deshalb aus, weil sich der Kl. auf dem vom übrigen Schulplatzgelände abgesonderten, erkennbar nicht zum Aufenthalt von Kindern bestimmten Teil des Schulhofgeländes aufgehalten und dort unbefugt an dem Deckel des Notausstiegs zu schaffen gemacht hat. Jeder Grundstückseigentümer muß wirksame und auf Dauer angelegte Schutzmaßnahmen ergreifen, um Kinder vor den Folgen ihrer Unerfahrenheit und Unbesonnenheit zu schützen, wenn ihm bekannt ist oder sein muß, daß sie - sei es auch trotz Verbots - sein Grundstück zum Spielen benutzen, und die Gefahr besteht, daß sie sich an den dort befindlichen gefährlichen Gegenständen zu schaffen machen und dabei Schaden erleiden können (vgl. Senat, NJW 1991, 2340 = LM § 823 [F] BGB Nr. 51 = VersR 1991, 559 m.w. Nachw.). Die Bekl. hat nicht in Abrede gestellt, daß ihr bekannt gewesen ist, daß sich Kinder gerade auf dem hier in Rede stehenden Geländeteil, von dem durch die Anpflanzungen ein besonderer Spiel-reiz ausging, zum Spielen aufgehalten haben.
2. Die Pflicht des Verkehrssicherungspflichtigen, Kinder vor den Folgen ihres eigenen unvernünftigen Tuns zu bewahren, hat jedoch ihre Grenzen. Der Senat hat eine solche Pflicht bejaht, wenn es um Gefahren ging, die das Kind oder der Jugendliche aus Unerfahrenheit, Unbesonnenheit oder im Spieleifer nicht erkennen oder in ihrer Wirkung nicht richtig einschätzen  konnte. Das gilt etwa für die verheerende Wirkung des heißen Gasstrahls einer Gaspistole auf den menschlichen Körper (vgl. Senat, NJW-RR 1991,24 = LM WaffenG Nr. 2 = VersR 1990, 1289 [1290]) oder die Gefahr eines Stromschlags, die schon bei der Annäherung an die Oberleitung der Bahn besteht (vgl. Senat, NJW 1995, 2631 LM H. 8/1995 § 823 [Aa] BGB Nr. 162 = VersR 1995, 672 [673]). Diese Rechtsprechung hat das BerGer. seiner Beurteilung zugrunde gelegt. Die Revision macht allerdings geltend, dabei habe es die tückische Gefahr außer Betracht gelassen, deren Opfer der Kl. geworden sei. Diese Gefahr, mit der der Kl. nicht gerechnet habe und auch nicht habe rechnen können, habe darin bestanden, daß der an-gehobene Deckel mangels Arretierung in der Senkrechten nach hinten umgeklappt sei und dadurch den Kl., der das Gleichgewicht verloren habe, in den Schacht gezogen habe. Mit diesem Argument, das der Kl. schon in den Vorinstanzen vorgetragen hat, kann die Revision indes keinen Erfolg haben. Es würde eine Überspannung der Sorgfaltsanforderungen bedeuten, wollte man von der Bekl. verlangen, den Deckel des Notausstiegs mit einer Vorrichtung zu versehen, die die Arretierung des angehobenen Deckels in der Senkrechten sicherstellt. Das BerGer. hat nicht festgestellt und der Kl. auch nicht behauptet, daß Deckel dieser Konstruktion durch ein Umklappen nach hinten schon früher spielenden Kindern zum Verhängnis geworden sind und der Bekl. dies bekannt geworden ist. Ohne eine solche Kenntnis mußte sich die Bekl. nicht darauf einstellen, daß ein Kind den Schachtdeckel bis zur Senkrechten anheben werde. Vielmehr konnte sie, wie das BerGer. in tatrichterlicher Würdigung der Umstände des Falles rechtsfehlerfrei ausführt, davon ausgehen, daß auch einem Kind im Alter des Kl. schon mit einem geringen Anheben des Schacht-deckels die Gefahr eines Sturzes in die Tiefe bewußt würde, so daß es sein natürliches Angstgefühl veranlassen würde, dieser Gefahr durch ein Fallenlassen des Deckels zu entgehen. Danach bestand für die Bekl. keine Veranlassung, den Deckel des Notausstiegs mit einer Arretierungsvorrichtung zu versehen. Anerkanntermaßen kann der Verkehrssicherungspflichtige je nach dem Maß, in dem sich eine Gefahr offensichtlich aufdrängt, darauf vertrauen, daß Kinder und Jugendliche sich dieser Gefahr aus ihrem natürlichen Angstgefühl nicht bewußt aussetzen (vgl. Senat, NJW 1995,2631 = LM H. 8/1995 § 823 [Aa] BGB Nr. 162). Dem steht nicht entgegen, daß der vorliegende Fall zeigt, daß sich ein Kind auch anders verhalten kann, als es sein natürliches Angstgefühl gebietet. Ein Anheben des Schachtdeckels bis zur Senkrechten, das die Gefahr des Absturzes in die unbekannte Tiefe in aller Deutlichkeit vor Augen treten läßt, ist ein Verhalten, das für Kinder so ungewöhnlich ist, daß hierfür der Verkehrssicherungspflichtige nicht Vorsorge treffen muß (vgl. Scheffen/Pardey, NJW-Schriftenreihe 59, 5. 170 m. w. Nachw.). Im übrigen mußte der Bekl. nicht bewußt sein, daß ein Kind stark genug sein kann, den Eisendekkel bis zur Senkrechten anzuheben, aber zu schwach, sein Umkippen nach hinten zu verhindern. 



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