IZPR: Anerkennung einer italienischen Privatscheidung nach der Brüssel IIa-VO sowie der Brüssel IIb-VO; Begriff der "Entscheidung"


EuGH v. 15.11.2022 - Rs. C-646/29 (DT)


Fundstelle:

noch nicht bekannt


Tenor:

Art. 2 Nr. 4 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist namentlich für die Zwecke der Anwendung von Art. 21 Abs. 1 dieser Verordnung dahin auszulegen, dass eine von einem Standesbeamten des Ursprungsmitgliedstaats errichtete Scheidungsurkunde, die eine Vereinbarung der Ehegatten über die Ehescheidung enthält, die sie vor dem Standesbeamten getreu den in den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen bestätigt haben, eine „Entscheidung“ im Sinne von Art. 2 Nr. 4 darstellt.


Zentrale Probleme:

Es geht um die Frage, ob eine Privatscheidung durch eine vom Standesbeamten zu registrierende Vereinbarung zwischen den Ehegatten eine nach der Brüssel IIa-VO anzuerkennende Scheidung durch ein "Gericht" i.S.v. Art. 2 Nr. 1 Brüssel IIa-VO handelt, die deshalb gem. Art. 21 Abs. 1 der Brüssel IIa-VO ipos iure in den Mitgliedstaaten der EU anzuerkennen ist. Der EuGH bejaht das unter Heranziehung der Vorschriften der Brüssel IIb-VO, welche mittlerweile die Brüssel IIa-VO abgelöst hat. Für maßgeblich hält er, dass der italienische Standesbeamte bei der Registrierung der Ehescheidung bestimmte materielle und formelle Voraussetzungen der Wirksamkeit der Vereinbarung prüft. Damit ist auch geklärt, dass zumindest diese Art der Privatscheidung kollisionsrechtlich nach der Rom III-VO und nicht nach Art. 17 Abs. 2 EGBGB anzuknüpfen ist.
Inwieweit die Entscheidung darüber hinaus Auswirkungen auf die Behandlung von Privatscheidungen aus dem islamisch geprägten Rechtsraum haben wird, bleibt offen. Zwar versucht der EuGH, sich von dem Urteil vom 20. Dezember 2017, Sahyouni (C‑372/16, EU:C:2017:988) abzugrenzen, jedoch befarg es in den islamisch geprägten Rechtsordnungen für die Privatscheidung ebenfalls einer Registrierung. Das kann zwar nicht zur Anwendung der Brüssel IIb-VO führen, weil diese nur Entscheidungen aus Mitgliedstaaten betrifft, jedoch kann sich die Frage der Anwendbarkeit der Rom III-VO, die in der Sahyouni - Entscheidung verneint wurde, neu stellen.
Zur Folgeentscheidung des BGH s. BGH v. 26.4.2023 - XII ZB 187/20.

©sl 2022


Urteil:

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1, im Folgenden: Brüssel‑IIa-Verordnung).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Standesamtsaufsicht (Deutschland) (im Folgenden: Standesamtsaufsicht) und TB wegen der Weigerung der Standesamtsaufsicht, die Beurkundung der in Italien erfolgten außergerichtlichen Ehescheidung von TB und RD im deutschen Eheregister ohne vorherige Anerkennung dieser Scheidung durch die zuständige deutsche Justizverwaltung zu genehmigen.

Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Brüsseler Übereinkommen

3 Art. 25 Abs. 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung der nachfolgenden Übereinkommen über den Beitritt neuer Mitgliedstaaten zu diesem Übereinkommen (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen) bestimmt:

„Unter ‚Entscheidung‘ im Sinne dieses Übereinkommens ist jede von einem Gericht eines Vertragsstaats erlassene Entscheidung zu verstehen ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung wie Urteil, Beschluss oder Vollstreckungsbefehl, einschließlich des Kostenfestsetzungsbeschlusses eines Urkundsbeamten.“

Brüssel‑IIa-Verordnung

4 In den Erwägungsgründen 1, 2, 8, 21 und 22 der Brüssel‑IIa-Verordnung wurde ausgeführt:

„(1)      Die Europäische Gemeinschaft hat sich die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum Ziel gesetzt, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist. Hierzu erlässt die Gemeinschaft unter anderem die Maßnahmen, die im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich sind.

(2)      Auf seiner Tagung in Tampere hat der Europäische Rat den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen, der für die Schaffung eines echten europäischen Rechtsraums unabdingbar ist, anerkannt …


(8)      Bezüglich Entscheidungen über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe sollte diese Verordnung nur für die Auflösung einer Ehe und nicht für Fragen wie die Scheidungsgründe, das Ehegüterrecht oder sonstige mögliche Nebenaspekte gelten.


(21)      Die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen sollten auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen und die Gründe für die Nichtanerkennung auf das notwendige Minimum beschränkt sein.

(22)      Zum Zwecke der Anwendung der Anerkennungs- und Vollstreckungsregeln sollten die in einem Mitgliedstaat vollstreckbaren öffentlichen Urkunden und Vereinbarungen zwischen den Parteien ‚Entscheidungen‘ gleichgestellt werden.“

5        In Art. 1 dieser Verordnung hieß es:

„(1)      Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:
a)      die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und die Ungültigerklärung einer Ehe,
b)      die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung.

(3)      Diese Verordnung gilt nicht für

e)      Unterhaltspflichten,
…“

6        Art. 2 der Verordnung bestimmte:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
1.      ,Gerichtʻ alle Behörden der Mitgliedstaaten, die für Rechtssachen zuständig sind, die gemäß Artikel 1 in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen;

3.      ,Mitgliedstaatʻ jeden Mitgliedstaat mit Ausnahme Dänemarks;
4.      ,Entscheidung' jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Entscheidung über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe sowie jede Entscheidung über die elterliche Verantwortung, ohne Rücksicht auf die Bezeichnung der jeweiligen Entscheidung, wie Urteil oder Beschluss;
…“

7        Kapitel III („Anerkennung und Vollstreckung“) der Brüssel‑IIa-Verordnung enthielt einen Abschnitt 1 („Anerkennung“) mit den Art. 21 bis 27 dieser Verordnung.

8        Art. 21 der Verordnung sah vor:

„(1)      Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen werden in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf.
(2)      Unbeschadet des Absatzes 3 bedarf es insbesondere keines besonderen Verfahrens für die Be[i]schreibung in den Personenstandsbüchern eines Mitgliedstaats auf der Grundlage einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung über Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe, gegen die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats keine weiteren Rechtsbehelfe eingelegt werden können.
…“

9        In Art. 22 („Gründe für die Nichtanerkennung einer Entscheidung über eine Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe“) der Brüssel‑IIa-Verordnung hieß es:
„Eine Entscheidung, die die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe betrifft, wird nicht anerkannt,

a)      wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des Mitgliedstaats, in dem sie beantragt wird, offensichtlich widerspricht;
…“

10      Art. 25 dieser Verordnung lautete:

„Die Anerkennung einer Entscheidung darf nicht deshalb abgelehnt werden, weil eine Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung beantragt wird, unter Zugrundelegung desselben Sachverhalts nicht zulässig wäre.“

11      In Kapitel III Abschnitt 3 („Gemeinsame Bestimmungen für die Abschnitte 1 und 2“) der Brüssel‑IIa-Verordnung fand sich u. a. folgender Art. 39:

„Das zuständige Gericht oder die zuständige Behörde des Ursprungsmitgliedstaats stellt auf Antrag einer berechtigten Partei eine Bescheinigung unter Verwendung des Formblatts in Anhang I (Entscheidungen in Ehesachen) oder Anhang II (Entscheidungen über die elterliche Verantwortung) aus.“

12      Kapitel III Abschnitt 5 („Öffentliche Urkunden und Vereinbarungen“) der Brüssel‑IIa-Verordnung enthielt nur folgenden Art. 46:

„Öffentliche Urkunden, die in einem Mitgliedstaat aufgenommen und vollstreckbar sind, sowie Vereinbarungen zwischen den Parteien, die in dem Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar sind, werden unter denselben Bedingungen wie Entscheidungen anerkannt und für vollstreckbar erklärt.“

Brüssel‑IIb-Verordnung

13      Nach ihrem Art. 104 Abs. 1 hat die Verordnung (EU) 2019/1111 des Rates vom 25. Juni 2019 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen (ABl. 2019, L 178, S. 1, im Folgenden: Brüssel‑IIb-Verordnung), mit der die Brüssel‑IIa-Verordnung neu gefasst wurde, Letztere mit Wirkung vom 1. August 2022 aufgehoben. Nach Art. 100 Abs. 2 der Brüssel‑IIb-Verordnung gilt die Brüssel‑IIa-Verordnung jedoch weiter für Entscheidungen in vor dem 1. August 2022 eingeleiteten gerichtlichen Verfahren, für vor dem 1. August 2022 errichtete oder eingetragene öffentliche Urkunden und für Vereinbarungen, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie geschlossen wurden, vor dem 1. August 2022 vollstreckbar geworden sind. In Anbetracht dessen, wie der Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits zeitlich gelagert ist, unterliegt dieser somit der Brüssel‑IIa-Verordnung.


14      Im 14. Erwägungsgrund der Brüssel‑IIb-Verordnung wird ausgeführt:

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sollte der Begriff ,Gerichtʻ so weit aufgefasst werden, dass er auch Verwaltungsbehörden oder andere Behörden wie Notare einschließt, die in bestimmten Ehesachen oder Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung die Zuständigkeit wahrnehmen. Jede vom Gericht nach einer Prüfung in der Sache nach dem nationalen Recht und nach dem nationalen Verfahren gebilligte Vereinbarung sollte als ,Entscheidungʻ anerkannt oder vollstreckt werden. Anderen Vereinbarungen, die im Ursprungsmitgliedstaat nach dem förmlichen Tätigwerden einer Behörde oder einer anderen von einem Mitgliedstaat für diesen Zweck der Kommission mitgeteilten Stelle verbindliche Rechtswirkung erlangen, sollte in anderen Mitgliedstaaten im Einklang mit den besonderen Bestimmungen dieser Verordnung über öffentliche Urkunden und Vereinbarungen Wirkung verliehen werden. Diese Verordnung sollte nicht den freien Verkehr rein privater Vereinbarungen erlauben. Vereinbarungen, bei denen es sich nicht um eine Entscheidung oder eine öffentliche Urkunde handelt, die aber von einer hierzu befugten Behörde registriert wurden, sollten verkehren dürfen. Zu diesen Behörden könnten auch Notare gehören, die Vereinbarungen registrieren, auch wenn sie freiberuflich tätig sind.“

15      Art. 30 dieser Verordnung sieht vor:

„(1)      Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen werden in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf.
(2)      Unbeschadet des Absatzes 3 bedarf es keines besonderen Verfahrens für die Aktualisierung der Personenstandsbücher eines Mitgliedstaats auf der Grundlage einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung über Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe, gegen die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats keine weiteren Rechtsbehelfe eingelegt werden können.
…“

16      Art. 65 der Verordnung lautet:

„(1)      Öffentliche Urkunden und Vereinbarungen über eine Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und eine Ehescheidung, die im Ursprungsmitgliedstaat rechtsverbindliche Wirkung haben, werden in anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es eines besonderen Verfahrens bedarf. Abschnitt 1 dieses Kapitels gilt entsprechend, sofern in diesem Abschnitt nichts anderes bestimmt ist.
(2)      Öffentliche Urkunden und Vereinbarungen in Sachen der elterlichen Verantwortung, die rechtsverbindliche Wirkung haben und in dem Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar sind, werden in anderen Mitgliedstaaten anerkannt und vollstreckt, ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf. Die Abschnitte 1 und 3 dieses Kapitels gelten entsprechend, sofern in diesem Abschnitt nichts anderes bestimmt ist.“

Deutsches Recht

17      § 97 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) vom 17. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2586) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt, dass „Regelungen in Rechtsakten der Europäischen Union [von diesem Gesetz] unberührt [bleiben]“.

18      § 107 („Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Ehesachen“) Abs. 1 FamFG sieht vor:

„Entscheidungen, durch die im Ausland eine Ehe für nichtig erklärt, aufgehoben, dem Ehebande nach oder unter Aufrechterhaltung des Ehebandes geschieden oder durch die das Bestehen oder Nichtbestehen einer Ehe zwischen den Beteiligten festgestellt worden ist, werden nur anerkannt, wenn die Landesjustizverwaltung festgestellt hat, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung vorliegen. Hat ein Gericht oder eine Behörde des Staates entschieden, dem beide Ehegatten zur Zeit der Entscheidung angehört haben, hängt die Anerkennung nicht von einer Feststellung der Landesjustizverwaltung ab.“

19      In § 3 („Personenstandsregister“) Abs. 1 des Personenstandsgesetzes (PStG) vom 19. Februar 2007 (BGBl. I S. 122) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung heißt es:

„Das Standesamt führt für seinen Zuständigkeitsbereich
1.      ein Eheregister (§ 15),
…“

20      § 5 („Fortführung der Personenstandsregister“) Abs. 1 PStG lautet:

„Die Registereinträge sind nach den Vorschriften dieses Gesetzes durch Folgebeurkundungen und Hinweise zu ergänzen und zu berichtigen (Fortführung).“

21      § 16 („Fortführung“) Abs. 1 PStG sieht vor:

„Zum Eheeintrag werden Folgebeurkundungen aufgenommen über

3.      die Aufhebung oder die Scheidung der Ehe,
…“

Italienisches Recht

22      Das Decreto-legge n. 132 – Misure urgenti di degiurisdizionalizzazione ed altri interventi per la definizione dell’arretrato in materia di processo civile (Gesetzesdekret Nr. 132 über Dringlichkeitsmaßnahmen zur außergerichtlichen Streitbeilegung und sonstige Maßnahmen zur Auflösung der Rückstände bei der Bearbeitung von Zivilverfahren) vom 12. September 2014 (GURI Nr. 212 vom 12. September 2014), das mit Änderungen durch die Legge n. 162 (Gesetz Nr. 162) vom 10. November 2014 (GURI Nr. 261 vom 10. November 2014) in ein Gesetz umgewandelt wurde (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 132/2014), bestimmt in Art. 12 („Einvernehmliche Trennung, gemeinsamer Antrag auf Auflösung oder Beendigung der zivilen Wirkungen der Ehe und Änderung der Voraussetzungen für die Trennung oder die Scheidung vor dem Standesbeamten“) Abs. 1 und 2, dass die Ehegatten, gegebenenfalls im Beistand eines Rechtsanwalts, vor dem zuständigen Standesbeamten u. a. eine Vereinbarung über die Auflösung oder die Beendigung der zivilen Wirkungen der Ehe schließen können, sofern sie weder minderjährige Kinder noch volljährige geschäftsunfähige, schwerbehinderte oder wirtschaftlich unselbständige Kinder haben.

23      Art. 12 Abs. 3 des Gesetzesdekrets Nr. 132/2014 sieht außerdem vor, dass der Standesbeamte von jeder der Parteien persönlich die Erklärung, dass sie die Auflösung der Ehe oder die Beendigung der zivilen Wirkungen der Ehe nach den zwischen ihnen vereinbarten Bedingungen wünschen, entgegennimmt, dass die Vereinbarung keine Regelungen über die Übertragung von Vermögenswerten enthalten darf, dass die die Vereinbarung enthaltende Urkunde unmittelbar nach Entgegennahme der Erklärungen der Ehegatten aufgenommen und unterzeichnet wird, dass die Vereinbarung eine gerichtliche Entscheidung ersetzt, die namentlich zum Abschluss des Verfahrens über die Auflösung der Ehe oder die Beendigung der zivilen Wirkungen der Ehe ergeht, und dass der Standesbeamte die Ehegatten nach Entgegennahme ihrer Erklärungen zu einem Termin nicht früher als 30 Tage nach Entgegennahme der Erklärungen zwecks Bestätigung der Vereinbarung lädt, wobei im Fall des Nichterscheinens die Vereinbarung als nicht bestätigt gilt.

24      Mit Rundschreiben des Ministero della Giustizia (Justizministerium, Italien) vom 22. Mai 2018 zum Gesetzesdekret Nr. 132/2014 wird der Standesbeamte als die Behörde bestimmt, die in Italien für die Ausstellung der Bescheinigung nach Art. 39 der Brüssel‑IIa-Verordnung zuständig ist.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

25      TB, die sowohl die deutsche als auch die italienische Staatsangehörigkeit besitzt, schloss am 20. September 2013 vor dem Standesamt Mitte von Berlin (Deutschland) die Ehe mit RD, einem italienischen Staatsangehörigen. Die Ehe wurde im Eheregister Berlin beurkundet.

26      Am 30. März 2017 erschienen TB und RD erstmals vor dem Standesamt Parma (Italien), um ein außergerichtliches Ehescheidungsverfahren nach Art. 12 des Gesetzesdekrets Nr. 132/2014 einzuleiten. Sie erschienen dort am 11. Mai 2017 ein zweites Mal, um ihre Erklärung zu bestätigen. Bei einem dritten Erscheinen am 15. Februar 2018 erklärten TB und RD unter Bezugnahme auf ihre Erklärung vom 30. März 2017, dass sie die Auflösung ihrer Ehe wünschten, und gaben außerdem an, dass darüber kein Verfahren anhängig sei. Nach nochmaliger Bestätigung dieser Erklärungen gegenüber dem Standesamt am 26. April 2018 stellte der Standesbeamte TB am 2. Juli 2018 die Bescheinigung nach Art. 39 der Brüssel‑IIa-Verordnung aus, mit der ihre Scheidung von RD mit Wirkung vom 15. Februar 2018 bestätigt wird.

27      TB ersuchte das Standesamt Mitte von Berlin, die Ehescheidung nach dem Personenstandsgesetz im Eheregister Berlin zu beurkunden. Das Standesamt hatte Zweifel, ob die Beurkundung nicht zunächst eine Anerkennung nach § 107 FamFG voraussetzt, und befasste über die Standesamtsaufsicht das zuständige Amtsgericht (Deutschland) mit der Sache.

28      Mit Beschluss vom 1. Juli 2019 entschied das Amtsgericht, dass die Beischreibung der außergerichtlichen Scheidung von TB und RD im Eheregister eine Anerkennung durch die zuständige Landesjustizverwaltung, d. h. die Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung (Deutschland) (im Folgenden: Senatsverwaltung für Justiz), gemäß § 107 Abs. 1 Satz 1 FamFG voraussetze.

29      Der von TB bei der Senatsverwaltung für Justiz gestellte Anerkennungsantrag wurde von dieser jedoch mit der Begründung zurückgewiesen, dass es sich nicht um eine anerkennungsbedürftige Entscheidung handle. Die von TB dagegen eingelegte Beschwerde ist noch beim Kammergericht Berlin (Deutschland) anhängig.

30      TB legte außerdem Beschwerde gegen den Beschluss vom 1. Juli 2019 ein, die vor dem Kammergericht Berlin Erfolg hatte. Dieses wies in der Folge das Standesamt Mitte von Berlin an, die Beurkundung der in Italien erfolgten Ehescheidung von TB und RD im Eheregister nicht von der vorherigen Anerkennung durch die Senatsverwaltung für Justiz abhängig zu machen.

31      Die Standesamtsaufsicht legte gegen diese Entscheidung Rechtsbeschwerde beim Bundesgerichtshof (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, ein, um die Wiederherstellung des Beschlusses vom 1. Juli 2019 zu erreichen.

32      Das vorlegende Gericht sieht sich vor die Frage gestellt, ob die Regelungen der Brüssel‑IIa-Verordnung über die Anerkennung von Entscheidungen über eine Ehescheidung im Hinblick auf den Begriff „Entscheidung“ im Sinne von Art. 21 in Verbindung mit Art. 2 Nr. 4 dieser Verordnung auf eine Ehescheidung anwendbar sind, die durch eine von den Ehegatten geschlossene Vereinbarung bewirkt und von einem Standesbeamten eines Mitgliedstaats nach dessen Rechtsvorschriften ausgesprochen wurde. Bejahendenfalls bedürfte es in Deutschland angesichts dessen, dass diese Regelungen nach § 97 Abs. 1 Satz 2 FamFG von den deutschen Rechtsvorschriften unberührt blieben, keines Anerkennungsverfahrens. Daher sei zu klären, ob der Begriff „Entscheidung“ im Sinne dieser Bestimmungen der Brüssel‑IIa-Verordnung dahin auszulegen sei, dass er sich nur auf gerichtliche oder behördliche Hoheitsakte mit konstitutiver Wirkung beziehe, oder ob er auch privatautonome rechtsgeschäftliche Handlungen der Parteien ohne eine solche konstitutive Mitwirkung einer staatlichen Stelle wie bei dem in Italien gemäß Art. 12 des Gesetzesdekrets Nr. 132/2014 vorgesehenen Verfahren erfasse.

33      Weder dem Wortlaut der besagten Bestimmungen noch den Erkenntnissen aus dem
Urteil vom 20. Dezember 2017, Sahyouni (C‑372/16, EU:C:2017:988), lasse sich eine klare Antwort auf diese Frage entnehmen, auch wenn ein Teil der deutschen Lehre eine weite Auslegung dieses Wortlauts zugrunde lege, nach der dieser die Annahme zulasse, dass die Regelungen der Brüssel‑IIa-Verordnung über die Anerkennung von Entscheidungen über eine Ehescheidung auf Ehescheidungen anwendbar seien, die nach einem außergerichtlichen Verfahren, wie es in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden italienischen Regelung vorgesehen sei, erfolgt seien.

34      Dieser Teil der Lehre halte eine solche Auslegung im Hinblick auf die Zielsetzung der Brüssel‑IIa-Verordnung für gerechtfertigt, die darin bestehe, für eine reibungslose Anerkennung von Ehesachen in der Union zu sorgen. Das vorlegende Gericht neige demgegenüber der gegenteiligen Auslegung zu. Die Brüssel‑IIa-Verordnung beruhe auf der Prämisse, dass nur eine konstitutiv wirkende Entscheidung einer öffentlichen Stelle über eine Ehescheidung die Gewähr für einen Schutz des „schwächeren“ Ehegatten vor Nachteilen im Zusammenhang mit der Ehescheidung bieten könne, weil eine solche Stelle dann die Ehescheidung in Ausübung ihrer Kontrollbefugnis verhindern könne. Dies sei aber nicht der Fall, wenn die Rechtsgrundlage für die Auflösung der Ehe in dem privatautonomen rechtsgeschäftlichen Willen der Ehegatten liege und sich die staatliche Mitwirkung ohne materielle Kontrollbefugnis auf Warn‑, Klarstellungs‑, Beweis- oder Beratungsfunktionen beschränke.

35      Für diese Beurteilung spreche zum einen der Umstand, dass es bei Erlass der Brüssel‑IIa-Verordnung außergerichtliche Ehescheidungsverfahren im damaligen Recht der Mitgliedstaaten nicht gegeben habe, so dass der Unionsgesetzgeber diesen Fall nicht habe berücksichtigen können. Zum anderen ergebe sich aus der Brüssel‑IIb-Verordnung, die die Brüssel‑IIa-Verordnung mit Wirkung vom 1. August 2022 aufgehoben und ersetzt habe, dass der Unionsgesetzgeber inzwischen Regelungen für Ehescheidungen nach Art der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden italienischen Regelung vorgesehen habe, was unter der Geltung der Brüssel‑IIa-Verordnung nicht der Fall gewesen sei.

36      Sollte der Gerichtshof befinden, dass es bei Ehescheidungen nach Art der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden italienischen Regelung an einer „Entscheidung“ im Sinne von Art. 21 in Verbindung mit Art. 2 Nr. 4 der Brüssel‑IIa-Verordnung fehle, stelle sich die Frage, ob die Anerkennung einer solchen Ehescheidung dennoch auf der Grundlage des Art. 46 dieser Verordnung möglich sei. Das vorlegende Gericht halte dies nicht für möglich, weil in dieser Bestimmung anders als in der entsprechenden Bestimmung der Brüssel‑IIb-Verordnung allein von „vollstreckbaren“ öffentlichen Urkunden und Vereinbarungen zwischen den Parteien die Rede sei, was nicht Ehescheidungssachen, sondern nur Sachen der elterlichen Verantwortung betreffe.

37      Allerdings vertrete ein Teil der deutschen Lehre die Auffassung, dass Art. 46 der Brüssel‑IIa-Verordnung auf Ehescheidungen nach Art der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden italienischen Regelung Anwendung finde.

38      Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Handelt es sich bei einer Eheauflösung auf der Grundlage von Art. 12 des Gesetzesdekrets Nr. 132/2014 um eine Entscheidung über die Scheidung einer Ehe im Sinne der Brüssel‑IIa-Verordnung?
2.      Für den Fall der Verneinung von Frage 1: Ist eine Eheauflösung auf der Grundlage von Art. 12 des Gesetzesdekrets Nr. 132/2014 entsprechend der Regelung des Art. 46 der Brüssel‑IIa-Verordnung zu öffentlichen Urkunden und Vereinbarungen zu behandeln?


Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage

39      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Nr. 4 der Brüssel‑IIa-Verordnung namentlich für die Zwecke der Anwendung von Art. 21 Abs. 1 dieser Verordnung dahin auszulegen ist, dass eine von einem Standesbeamten eines Mitgliedstaats errichtete Scheidungsurkunde, die eine Vereinbarung der Ehegatten über die Ehescheidung enthält, die sie vor dem Standesbeamten getreu den in den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen bestätigt haben, eine „Entscheidung“ im Sinne von Art. 2 Nr. 4 darstellt.

40      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt sowohl aus den Anforderungen der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch aus dem Gleichheitsgrundsatz, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung nicht nur des Wortlauts dieser Bestimmung, sondern auch ihres Zusammenhangs und der Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, gefunden werden muss (Urteil vom 31. März 2022, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl u. a. [Unterbringung eines Asylbewerbers in einem psychiatrischen Krankenhaus], C‑231/21, EU:C:2022:237, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Da keine Bestimmung der Brüssel‑IIa-Verordnung, insbesondere nicht ihr Art. 2 Nr. 4, für die Ermittlung von Sinn und Tragweite des namentlich sowohl in dieser Bestimmung als auch in Art. 21 dieser Verordnung verwendeten Begriffs „Entscheidung“ ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, muss dieser Begriff gemäß der in der vorstehenden Randnummer in Erinnerung gerufenen Maxime eine autonome und einheitliche unionsrechtliche Auslegung erhalten.

42      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich sowohl aus Art. 67 Abs. 1 und 4 in Verbindung mit Art. 81 Abs. 1 und 2 AEUV als auch aus den vormaligen Bestimmungen des Art. 61 Buchst. c und Art. 65 Buchst. a EG ergibt, dass die Union, um einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu bilden, eine justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen mit grenzüberschreitendem Bezug entwickelt, wobei sie u. a., insbesondere wenn dies für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich ist, die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten sicherstellt.

43      In diesem Rahmen haben sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen, der seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beruht, im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen (Urteil vom 9. März 2017, Pula Parking, C‑551/15, EU:C:2017:193, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Die Brüssel‑IIa-Verordnung soll in diesem Zusammenhang, wie sich aus ihren Erwägungsgründen 1, 2 und 21 ergibt, auf der Grundlage des für die Schaffung eines echten europäischen Rechtsraums unabdingbaren Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens u. a. die Anerkennung der in einem Mitgliedstaat in Ehescheidungssachen ergangenen Entscheidungen erleichtern, indem die Gründe für die Nichtanerkennung dieser Entscheidungen auf das notwendige Minimum beschränkt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Januar 2019, Liberato, C‑386/17, EU:C:2019:24, Rn. 41 und 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

45      So sieht Art. 21 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und Art. 25 der Brüssel‑IIa-Verordnung insbesondere vor, dass die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen betreffend Ehescheidungen in den anderen Mitgliedstaaten, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf, anerkannt werden müssen, sofern nicht einer der Gründe für die Nichtanerkennung festgestellt wird, die in Art. 22 dieser Verordnung – im Licht deren 21. Erwägungsgrundes gelesen – abschließend genannt werden. Dabei dürfen zum einen für die Beischreibung in den Personenstandsbüchern des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung beantragt wird, gegen die Entscheidung nach dem Recht des Ursprungsmitgliedstaats keine weiteren Rechtsbehelfe eingelegt werden können, und zum anderen darf die Anerkennung einer Entscheidung insbesondere nicht deshalb abgelehnt werden, weil eine Ehescheidung nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung beantragt wird, unter Zugrundelegung desselben Sachverhalts nicht zulässig wäre.

46      Was den Begriff „Entscheidung“ im Sinne von Art. 2 Nr. 4 der Brüssel‑IIa-Verordnung betrifft, so erfasst er in Ehescheidungssachen „jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Entscheidung über die Ehescheidung … ohne Rücksicht auf die Bezeichnung der jeweiligen Entscheidung, wie Urteil oder Beschluss“. Der Begriff „Gericht“ wird seinerseits in Art. 2 Nr. 1 dieser Verordnung definiert als alle „Behörden der Mitgliedstaaten, die für Rechtssachen zuständig sind, die gemäß Artikel 1 in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen“. Im Übrigen erfasst der Begriff „Mitgliedstaat“ nach Art. 2 Nr. 3 der Brüssel‑IIa-Verordnung jeden Mitgliedstaat der Union mit Ausnahme des Königreichs Dänemark.

47      Somit ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Nrn. 1, 3 und 4 der Brüssel‑IIa-Verordnung, dass jede Entscheidung über eine Ehescheidung, die von einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats mit Ausnahme der Behörden des Königreichs Dänemark erlassen wird, ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung eine Entscheidung in Ehescheidungssachen ist.

48      Aus dieser Definition in der Brüssel‑IIa-Verordnung selbst ergibt sich, dass unter die Verordnung, wie der Generalanwalt in den Nrn. 34 und 36 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, Entscheidungen über Ehescheidungen am Ende nicht nur eines gerichtlichen, sondern auch eines außergerichtlichen Verfahrens fallen können, sofern das Recht der Mitgliedstaaten auch nicht gerichtlichen Behörden Zuständigkeiten in Ehescheidungssachen zuweist.

49      Demnach muss jede Entscheidung solcher nicht gerichtlichen Behörden, die in einem Mitgliedstaat mit Ausnahme des Königreichs Dänemark in Ehescheidungssachen zuständig sind, nach Art. 21 der Brüssel‑IIa-Verordnung in den anderen Mitgliedstaaten mit Ausnahme des Königreichs Dänemark automatisch anerkannt werden. Dies gilt zum einen unbeschadet der Anwendung von Art. 22 dieser Verordnung, wenn Gründe für die Nichtanerkennung vorliegen, und zum anderen unbeschadet dessen, dass für die Beischreibung in den Personenstandsbüchern des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung beantragt wird, gegen die Entscheidung keine weiteren Rechtsbehelfe eingelegt werden können dürfen.

50      Gegen diese Auslegung des Begriffs „Entscheidung“ spricht auch nicht, dass bei Ausarbeitung und Erlass der Brüssel‑IIa-Verordnung noch kein Mitgliedstaat in seinen Rechtsvorschriften die Möglichkeit außergerichtlicher Scheidungen für Ehegatten vorgesehen hatte. Sie ergibt sich nämlich unmittelbar aus den weiten und offenen Definitionen der Begriffe „Gericht“ und „Entscheidung“ in Art. 2 Nrn. 1 und 4 dieser Verordnung.

51      Bestätigung findet sie außerdem im Ziel der Brüssel‑IIa-Verordnung, das, wie sich aus den Rn. 42 bis 44 des vorliegenden Urteils ergibt, u. a. darauf gerichtet ist, auf der Grundlage des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens, auf dem die Schaffung eines echten europäischen Rechtsraums aufbaut, die Anerkennung der in einem Mitgliedstaat namentlich in Ehescheidungssachen ergangenen Entscheidungen zu erleichtern.

52      Das vorlegende Gericht wirft jedoch, wie sich aus seinen Ausführungen im Vorabentscheidungsersuchen (siehe oben, Rn. 32 bis 34) ergibt, noch die Frage nach dem Grad der Kontrolle auf, die von der in Ehescheidungssachen zuständigen Behörde auszuüben ist, damit die von ihr namentlich im Rahmen einer einvernehmlichen Scheidung errichtete Scheidungsurkunde für die Zwecke der Anwendung von Art. 21 Abs. 1 der Brüssel‑IIa-Verordnung als „Entscheidung“ im Sinne von Art. 2 Nr. 4 dieser Verordnung eingestuft werden kann.

53      Hierzu ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Brüssel‑IIa-Verordnung nur Ehescheidungen erfasst, die entweder von einem staatlichen Gericht oder von einer öffentlichen Behörde oder unter deren Kontrolle ausgesprochen werden, was reine Privatscheidungen wie solche, die durch einseitige Erklärung eines Ehegatten vor einem geistlichen Gericht bewirkt werden, ausschließt (vgl. in diesem Sinne
Urteil vom 20. Dezember 2017, Sahyouni, C‑372/16, EU:C:2017:988, Rn. 39 bis 43, 48 und 49).

54      Aus dieser Rechtsprechung lässt sich ableiten, dass jede Behörde, die eine „Entscheidung“ im Sinne von Art. 2 Nr. 4 der Brüssel‑IIa-Verordnung zu treffen hat, die Kontrolle über den Ausspruch der Ehescheidung behalten muss, was im Rahmen einvernehmlicher Ehescheidungen impliziert, dass sie eine Prüfung der Scheidungsvoraussetzungen anhand des nationalen Rechts vornimmt und prüft, ob das Einvernehmen der Ehegatten über die Scheidung tatsächlich gegeben und gültig ist.

55      Das Erfordernis einer Prüfung im Sinne der vorstehenden Randnummer als prägendes Merkmal des Entscheidungsbegriffs lässt sich auch dem Urteil vom 2. Juni 1994, Solo Kleinmotoren (C‑414/92, EU:C:1994:221), entnehmen. In den Rn. 15 bis 17 jenes Urteils befand der Gerichtshof zu Art. 25 des Brüsseler Übereinkommens, der mit Art. 2 Nr. 4 der Brüssel‑IIa-Verordnung – abgesehen davon freilich, dass er nur auf von einem Gericht erlassene Entscheidungen abstellte – im Wesentlichen identisch ist, dass der Begriff „Entscheidung“ bedeutet, dass das Gericht „kraft seines Auftrags selbst über zwischen den Parteien bestehende Streitpunkte“ entscheidet.

56      Der Gerichtshof entschied in jenem Urteil zwar, wie von der polnischen Regierung in der mündlichen Verhandlung angemerkt, dass ein vor einem Gericht eines Mitgliedstaats ergangener Vergleich, mit dem der Rechtsstreit beigelegt wird, keine „Entscheidung“ im Sinne von Art. 25 des Brüsseler Übereinkommens sein kann. Daraus lässt sich jedoch nicht im Wege der Analogie ableiten, dass die Einstufung als „Entscheidung“ im Sinne von Art. 2 Nr. 4 der Brüssel‑IIa-Verordnung dann systematisch auszuschließen wäre, wenn eine nicht gerichtliche Behörde mit der Befugnis ausgestattet ist, die Ehescheidung auf der Grundlage einer zwischen den Ehegatten geschlossenen Vereinbarung auszusprechen, nachdem sie die im geltenden innerstaatlichen Recht festgelegten Voraussetzungen geprüft hat.

57      Wie der Generalanwalt in Nr. 50 seiner Schlussanträge im Kern ausgeführt hat, stützte der Gerichtshof im Urteil vom 2. Juni 1994, Solo Kleinmotoren (C‑414/92, EU:C:1994:221), seine Entscheidung nämlich darauf, dass solche Vergleiche im Wesentlichen vertraglicher Natur sind und sich das betreffende Gericht somit darauf beschränkt, den Vergleich zur Kenntnis zu nehmen, ohne ihn irgendeiner inhaltlichen Prüfung anhand des geltenden Rechts zu unterziehen.

58      Im Übrigen wird im 14. Erwägungsgrund der Brüssel‑IIb-Verordnung, mit der eine Neufassung der Brüssel‑IIa-Verordnung vorgenommen wurde, ausgeführt, dass „[j]ede vom Gericht nach einer Prüfung in der Sache nach dem nationalen Recht und nach dem nationalen Verfahren gebilligte Vereinbarung … als ‚Entscheidung‘ anerkannt oder vollstreckt werden [sollte]“. Weiter heißt es dort: „Anderen Vereinbarungen, die im Ursprungsmitgliedstaat nach dem förmlichen Tätigwerden einer Behörde oder einer anderen von einem Mitgliedstaat für diesen Zweck der Kommission mitgeteilten Stelle verbindliche Rechtswirkung erlangen, sollte in anderen Mitgliedstaaten im Einklang mit den besonderen Bestimmungen dieser Verordnung über öffentliche Urkunden und Vereinbarungen Wirkung verliehen werden. Diese Verordnung sollte nicht den freien Verkehr rein privater Vereinbarungen erlauben. Vereinbarungen, bei denen es sich nicht um eine Entscheidung oder eine öffentliche Urkunde handelt, die aber von einer hierzu befugten Behörde registriert wurden, sollten verkehren dürfen. Zu diesen Behörden könnten auch Notare gehören, die Vereinbarungen registrieren, auch wenn sie freiberuflich tätig sind.“

59      Der Unionsgesetzgeber hat damit unter dem Blickwinkel der Kontinuität klar zum Ausdruck gebracht, dass Ehescheidungsvereinbarungen, die von einem Gericht oder einer nicht gerichtlichen Behörde nach einer Prüfung in der Sache nach dem nationalen Recht und nach dem nationalen Verfahren gebilligt wurden, „Entscheidungen“ im Sinne des Art. 2 Nr. 4 der Brüssel‑IIa-Verordnung und der an seine Stelle getretenen Bestimmungen der Brüssel‑IIb-Verordnung sind und dass es gerade diese Prüfung in der Sache ist, die diese Entscheidungen von den öffentlichen Urkunden und Vereinbarungen im Sinne dieser Verordnungen unterscheidet.

60      Daher ist eine Ehescheidungsvereinbarung, wenn sie von einer zuständigen nicht gerichtlichen Behörde nach einer Prüfung in der Sache gebilligt wurde, als „Entscheidung“ gemäß Art. 21 der Brüssel‑IIa-Verordnung und Art. 30 der Brüssel‑IIb-Verordnung anzuerkennen, während andere Ehescheidungsvereinbarungen, die im Ursprungsmitgliedstaat verbindliche Rechtswirkung haben, je nach Fall als öffentliche Urkunden oder Vereinbarungen gemäß Art. 46 der Brüssel‑IIa-Verordnung und Art. 65 der Brüssel‑IIb-Verordnung anerkannt werden.

61      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung zutreffend ausgeführt hat, aus der Entstehungsgeschichte des 14. Erwägungsgrundes und des Art. 65 der Brüssel‑IIb-Verordnung hervorgeht, dass es dem Unionsgesetzgeber beim Erlass dieser Verordnung nicht um Innovation und die Einführung neuer Regelungen ging, sondern lediglich um die „Präzisierung“ zum einen der Tragweite der bereits in Art. 46 der Brüssel‑IIa-Verordnung enthaltenen Regelung und zum anderen des Kriteriums zur Abgrenzung des Begriffs „Entscheidung“ von den Begriffen „öffentliche Urkunde“ und „Vereinbarung zwischen den Parteien“, bei dem es sich um das Kriterium der Prüfung in der Sache handelt.

62      All diese Erwägungen bilden den Maßstab für die Prüfung, ob im vorliegenden Fall die von einem Standesbeamten eines Mitgliedstaats errichtete Scheidungsurkunde, die eine Vereinbarung der Ehegatten über die Ehescheidung enthält, die sie vor dem Standesbeamten getreu den in den innerstaatlichen Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen bestätigt haben, für die Zwecke der Anwendung von Art. 21 Abs. 1 der Brüssel‑IIa-Verordnung eine „Entscheidung“ im Sinne des Art. 2 Nr. 4 dieser Verordnung darstellt.

63      Insoweit ergibt sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte, dass der Standesbeamte in Italien eine gesetzlich eingesetzte Behörde ist, die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats dafür zuständig ist, die Ehescheidung rechtsverbindlich auszusprechen, indem sie die von den Ehegatten aufgesetzte Scheidungsvereinbarung nach einer Prüfung im Sinne der Rn. 54 des vorliegenden Urteils in Schriftform beurkundet.

64      Nach Art. 12 des Gesetzesdekrets Nr. 132/2014 muss der Standesbeamte nämlich von jedem Ehegatten persönlich und zweimal im Abstand von mindestens 30 Tagen die betreffenden Erklärungen einholen, was bedeutet, dass er sich vergewissert, dass ihr Einvernehmen zur Scheidung gültig, aus freien Stücken und in Kenntnis der Sachlage erteilt wird.

65      Im Übrigen prüft der Standesbeamte nach dieser Bestimmung den Inhalt der Ehescheidungsvereinbarung anhand der geltenden Rechtsvorschriften, indem er sich vergewissert, dass sie sich nur auf die Auflösung der Ehe oder die Beendigung der zivilen Wirkungen der Ehe unter Ausschluss jeder Übertragung von Vermögenswerten bezieht und dass die Ehegatten weder minderjährige Kinder noch volljährige geschäftsunfähige, schwerbehinderte oder wirtschaftlich unselbständige Kinder haben, so dass die Vereinbarung nicht solche Kinder betrifft.

66      Ferner geht aus Art. 12 des Gesetzesdekrets Nr. 132/2014 hervor, dass der Standesbeamte nicht befugt ist, die Ehescheidung auszusprechen, wenn eine oder mehrere der in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt sind, insbesondere, wenn er Zweifel daran hat, dass das Einvernehmen eines der Ehegatten zur Scheidung aus freien Stücken und in Kenntnis der Sachlage erteilt wird, wenn die Vereinbarung die Übertragung von Vermögenswerten betrifft oder wenn die Ehegatten andere Kinder als volljährige wirtschaftlich unabhängige Kinder haben.

67      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 2 Nr. 4 der Brüssel‑IIa-Verordnung namentlich für die Zwecke der Anwendung von Art. 21 Abs. 1 dieser Verordnung dahin auszulegen ist, dass eine von einem Standesbeamten des Ursprungsmitgliedstaats errichtete Scheidungsurkunde, die eine Vereinbarung der Ehegatten über die Ehescheidung enthält, die sie vor dem Standesbeamten getreu den in den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen bestätigt haben, eine „Entscheidung“ im Sinne von Art. 2 Nr. 4 darstellt.

Zur zweiten Frage

68      In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage braucht die zweite Frage nicht mehr beantwortet zu werden.

Kosten

69      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.