Wolfgang Vogelsang, LL.M (London)
wissenschaftlicher Assistent
Lehrstuhl Prof. Dr Stephan Lorenz 
 
 
Arbeitsgemeinschaft Zivilrecht IV

 ZPO-Erkenntnisverfahren

3. Arbeitsgemeinschaft

 Zulässigkeit der Klage II
Partei-, Prozeß- und Postulationsfähigkeit 
(Prozessualer) Anspruch und Streitgegenstand 
Rechtshängigkeit und Rechtskraft

 

Fall 11:          "Salamitaktik II"

(vgl. BGH NJW 1994, 3165; BGH NJW 1997, 1990 und Eckardt, Jura 1996, 624)

Von einer Forderung von insgesamt DM 500.000 klagt K einen Teilbetrag von DM 100.000 ein, ohne sich weitergehende Ansprüche vorzubehalten. Sie erwirkt 

  1. ein obsiegendes Urteil,
  2. ein Urteil über DM 80.000, im übrigen wird die Klage abgewiesen, weil die Forderung nur in dieser Höhe bestehe.
Nach Eintritt der formellen Rechtskraft klagt K in einem weiteren Verfahren K die restlichen DM 400.000 ein. 

Hat die zweite Klage Aussicht auf Erfolg? 
 
 

Lösung:

Die zweite Klage hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

  1. Zulässigkeit
    1. Die Klage könnte unzulässig sein, weil über den Antrag des K mit dem Teilurteil bereits rechtskräftig entschieden wurde. Nach Ansicht des BGH ist dies nicht der Fall:

    2. Das Gericht führt in BGH NJW 1994, 3165, 3166 aus:

      Die jede neue Verhandlung und Entscheidung über denselben Anspruch ausschließende materielle Rechtskraft eines Urteils reicht nach § 322 I ZPO nur soweit, wie über den durch die Klage erhobenen Anspruch entschieden worden ist. Hat ein Kläger im vorangegangenen Prozeß nur einen Teilanspruch geltend gemacht, so erfaßt die Rechtskraft des Urteils nur diesen Teil des Anspruchs und erstreckt sich nicht auf den nicht eingeklagten restlichen Anspruch (vgl. BGHZ 34, 337 (339) = NJW 1961, 917 = LM § 322 ZPO Nr. 27; BGHZ 36, 365 (367) = NJW 1962, 1109 = LM § 322 ZPO Nr. 38; Senat, BGHZ 93, 330 (334) = NJW 1985, 1340 = LM § 322 ZPO Nr. 104). Voraussetzung ist allerdings, daß der nur zum Teil eingeklagte Anspruch seiner Natur nach teilbar ist; [...]

      a) Eines förmlichen Vorbehalts der Nachforderung bedurfte es weder aus prozessualen noch aus materiell-rechtlichen Gründen. Grundsätzlich braucht ein Kläger, der einen bezifferten Anspruch geltend macht, nicht zu erklären, er behalte sich die darüber hinausgehenden Ansprüche vor, denn das ergibt sich schon daraus, daß die Rechtskraft nur den im Prozeß geltend gemachten Anspruch ergreift, der gem. § 308 ZPO durch den Klageantrag beschränkt wird (vgl. BGHZ 34, 337 (340) = NJW 1961, 917 = LM § 322 ZPO Nr. 28). Die Rechtskraft eines Urteils erstreckt sich nicht auf den nicht eingeklagten Rest eines teilbaren Anspruchs oder auf andere Ansprüche aus dem gleichen Sachverhalt, selbst wenn sich das Urteil darüber ausläßt (BGHZ 85, 367 (373) = NJW 1983, 390 = LM § 465 BGB Nr. 5; Senat, BGHZ 93, 330 (334) = NJW 1985, 1340 = LM § 322 ZPO Nr. 104 m. w. Nachw.). Diesem Grundsatz stimmt die Literatur überwiegend zu (vgl. Rosenberg/Schwab, ZPR, 15. Aufl., § 154 V; Stein/Jonas/Leipold, § 322 Rdnrn. 161 bis 163; Gottwald, in: MünchKomm-ZPO, § 322 Rdnrn. 119 bis 121; Thomas/Putzo, ZPO, 18. Aufl., § 322 Rndr. 23; Habscheid, FamRZ 1962, 352; Pohle, ZZP 77, 98; Batsch, ZZP 86, 254 (289); Kuschmann, in: Festschr. f. Schiedermair, 1976, S. 351 (367 ff.); a. A. Baumbach/Lauterbach/Hartmann, ZPO, 52. Aufl., § 322 Rdnr. 53; vgl. auch Zöller/Vollkommer, ZPO, 18. Aufl., Vorb. § 322 Rdnrn. 47 f. m. w. Nachw.). Die Rechtsprechung hat zwar Ausnahmen anerkannt, etwa für einen Anspruch auf Erhöhung einer Enteignungsentschädigung (BGHZ 34, 337 = NJW 1961, 917 = LM § 322 ZPO Nr. 38) oder wenn der Kläger im Erstprozeß die Höhe eines Schadensersatzanspruches in das Ermessen des Gerichts gestellt hatte (RG, Warn. 1925, 138). Diese zu Sonderfällen ergangenen Entscheidungen lassen aber - wie der V. Zivilsenat des BGH bereits entschieden hat (NJW 1985, 2825 (2826) = LM § 1011 BGB Nr. 3) - den dargelegten Grundsatz unberührt. Das gleiche gilt für die Rechtsprechung des Senats zum Unterhaltsprozeß, in dem im Hinblick darauf, daß Unterhalt regelmäßig in voller Höhe eingeklagt wird, eine Vermutung gegen eine Teilklage spricht mit der Folge, daß der Kläger entweder ausdrücklich einen Teilanspruch geltend machen oder sich wenigstens erkennbar eine Nachforderung vorbehalten muß (Senat, BGHZ 94, 145 (147) = NJW 1985, 1701 = LM § 323 ZPO Nr. 45; NJW 1991, 429 = FamRZ 1991, 320, jeweils m. w. Nachw.). Mit ähnlichen auf § 323 ZPO gestützten Erwägungen erfährt der dargelegte Grundsatz eine Ausnahme in anderen Streitfällen, in denen im Vorprozeß wiederkehrende Leistungen i. S. des § 258 ZPO auch für die Zukunft geltend gemacht worden sind (vgl. dazu BGH, NJW 1986, 3142 = LM § 322 ZPO Nr. 112 m. w. Nachw.).

      In BGH NJW 1997, 1990 hat das Gericht noch einmal klargestellt, daß diese Grundsätze auch dann gelten, wenn der Kl. sich im Vorprozeß weitergehende Ansprüche nicht vorbehalten, d.h. die erste Klage nicht als Teilklage bezeichnet oder doch erkennbar war (sog. verdeckte Teilklage). Diese Rechtsprechung verdient Zustimmung: Mit der Beschränkung der Rechtskraft auf den Streitgegenstand ist es unvereinbar, daß die Rechtskraft eines Urteils bei unveränderter Sachlage Nachforderungen ausschließt: denn der Nachforderungsanspruch ist durch das erste Urteil weder aberkannt, noch bildet er das kontradiktorische Gegenteil des nicht zuerkannten Forderungsteils (1)

      Daher sind Nachforderungen aus prozessualen Gründen weder ausgeschlossen, wenn der ersten Klage stattgegeben, noch wenn sie ganz oder teilweise abgewiesen wurde.

    3. Die erneute Klage ist also in beiden Fallvarianten zulässig.
  2. Begründetheit:

  3. Mangels rechtskräftiger Entscheidung über die Nachforderung, ist der Richter des Zweitprozesses durch die Entscheidung des Erstprozesses auch nicht präkludiert.
    Wie seine Beweiswürdigung ausfällt (vgl. § 287 BGB), kann anhand der Sachverhaltsangaben nicht entschieden werden. Sollte er zu dem Ergebnis kommen, daß die Nachforderung besteht, ist dieser Anspruch nicht verwirkt. Verwirkt ist ein Recht, wenn es illoyal verspätet geltend gemacht wird und zu dem Zeitablauf besondere auf dem Verhalten des Berechtigten beruhende Umstände hinzutreten, die das Vertrauen des Verpflichteten rechtfertigen, der Berechtigte werde seinen Anspruch nicht mehr geltend machen (2). Weder das sogenannte Zeitmoment noch das sogenannte Umstandsmoment rechtfertigen vorliegend die Annahme einer Verwirkung.


FN 1: MünchKomm/Gottwald, § 322 Rdnr. 119 f; Zöller/Vollkommer, vor § 322 Rdnr. 48 (zurück).

FN 2: st. Rspr.; vgl. etwa BGH NJW 1989, 836 (zurück).