Wolfgang Vogelsang, LL.M (London)
wissenschaftlicher Assistent
Lehrstuhl Prof. Dr Stephan Lorenz
Arbeitsgemeinschaft Zivilrecht IV
ZPO-Erkenntnisverfahren
3. Arbeitsgemeinschaft
Zulässigkeit der Klage II
Partei-, Prozeß- und Postulationsfähigkeit
(Prozessualer) Anspruch und Streitgegenstand
Rechtshängigkeit und Rechtskraft
Fall 7: "..., es sei denn, sie hätten ihn!"
K klagt vor dem gem. §§ 12, 13 ZPO örtlich sowie gem. §
23 Nr. 1 GVG sachlich zuständigen AG Augsburg gegen den angeblichen Hehler H auf
Herausgabe gestohlenen Schmucks und begrenzt die Klage auf die Ansprüche aus §§
985, 1007, 861 BGB. Nachdem der Amtsrichter einen Befangenheitsantrag des K abgelehnt
hat, erhofft er sich von diesem kein faires Urteil mehr und klagt beim AG Nürnberg -
dort erwarb H den Schmuck - die Ansprüche aus §§ 823 Abs. 1, Abs. 2
(i.V.m. § 259 StGB ) und 826 BGB ein.
Sind beide Klagen zulässig?
Lösung:
- Die Klage vor dem AG Augsburg könnte gem § 253 Abs. 1, Abs. 2 wegen
unordnungsgemäßer Erhebung unzulässig sein, falls K mit der Beschränkung der Klage auf die
Ansprüche aus §§ 985, 1007, 861 BGB den Klagegrund nicht hinreichend bestimmt
angegeben hat.
Grund des Anspruchs ist der vom Kläger darzulegende
Sachverhalt, aus dem er den Klageanspruch herleitet.
Hiervon zu unterscheiden ist die rechtliche Qualifizierung des Sachverhalts, die nach
einhelliger Auffassung keine Voraussetzung einer zulässigen Klage ist. Nach h.M.
(1) kann
der Kläger vom Gericht auch nicht verlangen, seine Klage nur unter einem bestimmten
rechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen. Die h.M. verdient Zustimmung, da das Gericht
nach der ZPO in der rechtlichen Bewertung der von den Parteien vorgetragenen Tatsachen
frei ist (iura novit curia, vgl. § 139 ZPO mit § 278 Abs. 3 ZPO, in denen das
Gesetz klar zwischen Tatsachenaufklärung und Aufklärung über die rechtliche Würdigung
dieser Tatsachen unterscheidet).
Der Klagegrund ist folglich mit der Behauptung des K, H habe gewußt, daß er ihm (K)
gestohlenen Schmuck erwerbe, hinreichend bestimmt angegeben. Die Beschränkung der Klage
durch K auf die Ansprüche aus §§ 985, 1007, 861 BGB ist für das Gericht bei der
Prüfung der Zulässigkeit bzw, Begründetheit der Klage unbeachtlich.
Für das Fehlen sonstiger Sachentscheidungsvoraussetzungen geht aus dem Sachverhalt nichts
hervor. Die Klage vor dem AG Augsburg ist daher zulässig.
- Das AG Nürnberg ist gem. § 32 ZPO örtlich zuständig. Die Klage könnte aber gem.
§ 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO unzulässig sein, weil die Streitsache dieser Klage anderweitig,
nämlich beim AG Augsburg rechtshängig ist.
Dann müßten beide Klagen denselben Streitgegenstand haben. Der Streitgegenstandsbegriff
ist strittig (2).
- Nach der herrschenden Theorie vom zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff
(3), der sich auch der BGH angeschlossen hat (4),
wird der Streitgegenstand vom Antrag des Klägers und von
dem zu seiner Begründung vorgetragenen Tatsachenkomplex (Lebenssachverhalt) bestimmt.
Antrag und Lebenssachverhalt sind gleichwertige Elemente, aus denen sich der Inhalt des
Streitgegenstandes im konkreten Rechtsstreit ableitet. Auf der Grundlage dieser Auffassung
läßt sich der Streitgegenstand definieren als das klägerische Begehren, das dieser auf den
von ihm vorgetragenen Lebenssachverhalt stützt.
- Die Theorie vom eingliedrigen Streitgegenstand (5)
hält den Antrag des Klägers allein für
maßgebend und weist dem zugrundeliegenden Lebenssachverhalt lediglich die Funktion einer
Auslegungshilfe zu, wenn sich aus dem Antrag selbst nicht eindeutig genug ergibt, welchen
prozessualen Anspruch der Kläger geltend macht. Wird der Streitgegenstand eingliedrig
verstanden und nur auf den Antrag des Klägers bezogen, dann fällt der Inhalt dieses
Begriffes weiter aus, als wenn zusätzlich noch zur Präzisierung auf den zur Begründung
der Klage vorgetragenen Tatsachenkomplex zurückgegriffen wird.
- Nach der Theorie vom variablen Streitgegenstandsbegriff gibt es im Zivilprozeß Fälle,
in denen ein weiter Streitgegenstandsbegriff besser der gesetzlichen Regelung entspreche,
während in anderen Fällen gute Gründe für eine enge Auffassung sprächen. Deshalb wird von
Vertretern dieser Lehre (6) empfohlen, nicht von einem einheitlichen, für das gesamte
Zivilprozeßrecht geltenden Begriff des Streitgegenstandes auszugehen, sondern diesem
Begriff einen variablen Inhalt zuzuerkennen, ihn bald eingliedrig, bald zweigliedrig zu
fassen. Ein eingliedriger Streitgegenstand soll für die Bestimmung der Rechtshängigkeit
gelten, weil die aus prozeßökonomischen Gründen zu fordernde Verhinderung paralleler
Prozesse durch einen weiten Streitgegenstandsbegriff besser erreicht werden könne. Auch
bei der im Rahmen der Klagenhäufung (§ 260) zu entscheidenden Frage, ob der Kläger einen
oder mehrere Ansprüche mit seiner Klage geltend macht, und bei der Frage, ob der Kläger
seine Klage ändert (§ 263), soll ein eingliedriger und damit weiter
Streitgegenstandsbegriff maßgebend sein. Dagegen sollen die Grenzen der Rechtskraftwirkung
durch einen zweigliedrigen Gegenstandsbegriff enger gezogen werden, weil sonst die
Tendenz gefördert würde, den Prozeßstoff auszuweiten, wenn die Parteien befürchten
müßten, durch die Rechtskraftwirkung des Urteils an einer weiteren Rechtsverfolgung
gehindert zu werden.
Einen variablen Inhalt des Streitgegenstandsbegriffs befürwortet auch die Lehre
(7), die sich
dabei an der Art der Klage und daran orientieren will, ob im Prozeß der
Verhandlungsgrundsatz oder der Untersuchungsgrundsatz gilt. In Prozessen mit
Untersuchungsgrundsatz soll sich der Streitgegenstand allein nach dem Antrag bestimmen,
weil der Sachverhalt vom Gericht zu ermitteln ist. Bei Verfahren mit Verhandlungsmaxime
soll dagegen der Streitgegenstand durch Antrag und zugrundeliegenden Lebenssachverhalt
festgelegt werden, weil in solchen Verfahren der Kläger die Macht besitzt, den Sachverhalt,
auf den er das geltend gemachte Recht stützt, enger zu fassen als in einem Verfahren mit
Untersuchungsgrundsatz. Eine Ausnahme wird für die Feststellungsklage gemacht, die
vielfach bereits durch den Antrag hinreichend individualisiert werde, so daß ein
Sachverhalt zur Konkretisierung überflüssig sei.
- Während die bisher dargestellten Theorien übereinstimmend von einem prozessualen
Streitgegenstandsbegriff ausgehen, wollen die Anhänger der Theorie eines
materiell-rechtlichen Streitgegenstandsbegriffs (8) den materiell-rechtlichen
Anspruchsbegriff für die Bestimmung des Streitgegenstandes nutzbar machen. Allerdings
soll der Begriff des materiell-rechtlichen Anspruchs nicht im Sinn der sich aus der
einzelnen Anspruchsnorm ergebenden Rechtsfolge verstanden werden; vielmehr soll es sich
um ein und denselben Anspruch handeln, wenn ein Lebenssachverhalt den Tatbestand mehrerer
Anspruchsnormen verwirklicht, deren Rechtsfolgen gleich sind. Dies gilt beispielsweise
für die Klage auf Schadensersatz, die sowohl auf positive Forderungsverletzung als auch
auf § 823 Abs. 1 BGB gestützt wird. Trotz der unterschiedlichen Anspruchsnormen wird nach
dieser Auffassung nur ein materiell-rechtlicher Anspruch geltend gemacht, der lediglich
mehrfach rechtlich fundiert und begründet wird. Zu einem gleichen Ergebnis gelangt man,
wenn man die Abgrenzung des Anspruchs im Prozeß danach vornimmt, ob es sich dabei um ein
Verfügungsobjekt im zessionsrechtlichen Sinn handelt. Tritt der Kläger des
Schadensersatzprozesses den von ihm geltend gemachten Anspruch ab, dann überträgt er nur
einen Anspruch mit verschiedenen rechtlichen Begründungen; dies zeige, daß es im
Schadensersatzprozeß nur um einen Streitgegenstand gehe.
- Die prozessualen Streitgegenstandsbegriffe kommen alle zu dem Ergebnis, daß beide
Klagen des K gegen H den identischen Streitgegenstand haben, da sie sowohl denselben
Antrag zum Gegenstand haben (Herausgabe des Schmucks) als auch auf demselben
Lebenssachverhalt beruhen.
Für die materiellen Streitgegenstandsbegriff ist zu klären, ob die materiell-rechtlichen
Anspruchsnormen, die den Antrag des K stützen, zu einem materiell-rechtlichen Anspruch
zusammengefaßt werden können. Das wäre wohl zu bejahen, bedarf jedoch nur dann einer
endgültigen Klärung, wenn dem materiell-rechtlichen Streitgegenstandslehren zu folgen
wäre.
Da eine Zusammenfassung materiell-rechtlicher Anspruchsgrundlagen zu einem materiell-rechtlichen
Anspruch notwendigerweise deren materiell-rechtlichen Unterschiede ignorieren muß, die
insbesondere hinsichtlich der Verjährungsfristen bestehen, und ausschließlich zum Zweck
der Brauchbarkeit des Anspruchsbegriffs im Zivilprozeß vorgenommen wird, anerkennt diese
Theorie implizit, daß der Streitgegenstandsbegriff durch prozessuale Zwecke bestimmt
werden muß, es sich also dabei um ein prozessuales Rechtsinstitut handelt. Zudem können
die materiell-rechtlichen Theorien die Besonderheiten von Feststellungs- und
Gestaltungsklagen nicht erfassen. Deshalb muß der Streitgegenstand nach prozessualen
Kriterien ermitteln werden. Ein materiell-rechtlicher Streitgegenstandsbegriff ist daher
abzulehnen.
- Folglich hat die zweite Klage denselben Streitgegenstand wie die bereits in Augsburg
rechtshängige Klage. Sie ist daher unzulässig.
FN 1:
Vgl. MünchKomm/Musielak, § 308 Rdnr. 12 m.w.N. (Fn. 70), a:A. MünchKomm/Lüke, § 253 Rdnr. 72
(zurück).
FN 2:
Vgl die Übersicht bei Musielak/Musielak, Einl., Rdnr. 69 ff, die hier nahezu wörtlich übernommen wird
(zurück).
FN 3:
Vgl. MünchKomm/Lüke, vor § 253 Rdnr. 31 m.w.N.
(zurück).
FN 4:
BGH NJW 1983, 388, 389; BGH NJW 1992, 1172; BGH NJW 1993, 333, 334; BGH NJW 1996, 3151, 3152
(zurück).
FN 5:
Schwab, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß (1954)
(zurück).
FN 6:
Vgl. Baumgärtel, Jus 1974, 69, 74; Zöller/Vollkommer, Einl. Rdnr. 82; Stein/Jonas/Schumann, Einl. Rdnr. 283 d , 285
(zurück).
FN 7:
Jauernig, Zivilprozeßrecht (25. Aufl.), 3 37 XIII, IX
(zurück).
FN 7:
Larenz, AT (7. Aufl. 1989) § 14 IV; Nikisch, AcP 154 (1955), 269, 282 ff; Henkel, Parteilehre und Streitgegenstand (1961), S. 270 ff
(zurück).
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