Wolfgang Vogelsang, LL.M (London)
wissenschaftlicher Assistent
Lehrstuhl Prof. Dr Stephan Lorenz


Arbeitsgemeinschaft Zivilrecht IV

ZPO-Erkenntnisverfahren

3. Arbeitsgemeinschaft

Zulässigkeit der Klage II
Partei-, Prozeß- und Postulationsfähigkeit
(Prozessualer) Anspruch und Streitgegenstand
Rechtshängigkeit und Rechtskraft


Fall 8:          "Iura novit curia!?"

K wird als Fahrgast der Kraftverkehrs-AG verletzt. Das sachlich zuständige LG am ordentlichen Gerichtsstand der AG weist seine Klage auf Ersatz der Heilbehandlungskosten mangels Verschuldens ab. Nach Eintritt der formellen Rechtskraft erhebt K erneut Klage nach §§ 7, 8a StVG, auf die das LG in den Urteilsgründen nicht einging.

Ist die Klage zulässig?


Lösung:

Die erneute Klage des K könnte unzulässig sein, weil über deren Antrag bereits in dem früheren Verfahren vor dem LG gem. § 322 Abs. 1 ZPO materiell rechtskräftig entschieden wurde.

  1. Die materielle Rechtskraft setzt gem. § 705 BGB ein formell rechtskräftiges, d.h. ein nicht mehr rechtsmittelfähiges Urteil voraus. Ein solches liegt laut Sachverhalt vor.
  2. Über die zweite Klage des K wurde bereits rechtskräftig entschieden, wenn sie denselben Streitgegenstand wie die erste Klage hat.

    1. Da die materiellrechtlichen Streitgegenstandsbegriffe das Streitgegenstandsproblem nicht befriedigend bewältigen können und daher abzulehnen sind, bezieht sich die entscheidende Frage darauf, ob der Streitgegenstand in erster Linie durch den Antrag, also eingliedrig, oder zugleich auch durch den ihm zugrundeliegenden Lebenssachverhalt, dem Klagegrund, definiert werden soll. In der Diskussion über diese Frage haben sich für beide Betrachtungsweisen sowohl Vorteile als auch Nachteile gezeigt. Es gibt immer wieder Fälle, in denen die Durchführung der eingliedrigen oder zweigliedrigen Streitgegenstandstheorie Schwierigkeiten bereitet. Greift man bei Bestimmung des Streitgegenstandes auf den Lebenssachverhalt zurück, dann kann die exakte Abgrenzung des Tatsachenstoffes, der im Einzelfall den Lebenssachverhalt bilden soll, erhebliche Probleme aufwerfen. Der eingliedrige Streitgegenstandsbegriff ist nicht durchführbar, wenn der Antrag nicht hinreichend präzise ausweist, worauf das Begehren des Klägers gerichtet ist. Geht er wie hier auf eine Verurteilung zu einer Geldleistung muß notwendigerweise auf den zugrundeliegenden Lebenssachverhalt zurückgegriffen werden. Damit erhält der Lebenssachverhalt, auch wenn man ihn lediglich als eine Auslegungshilfe werten will, eine unverzichtbare Bedeutung. Aufgrund dieser Feststellung erscheint es dann aber folgerichtig, dem Lebenssachverhalt einen begriffsbestimmenden Wert zuzubilligen. Theorien im Zivilprozeßrecht erfüllen keinen Selbstzweck, sondern dienen der Aufgabe, der Rechtspraxis brauchbare Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen. Daß die Lehre vom zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff diese Aufgabe zu erfüllen vermag, läßt sich nicht bezweifeln. Nachdem der BGH sich dieser Lehre angeschlossen hat und damit eine in der Praxis schon seit langem angewandte Konzeption bestätigte, dürfte es keinen überzeugenden Grund geben, weiterhin nach anderen Lösungen zu suchen. Die Vorteile einer einheitlichen Auffassung und Anwendung des Streitgegenstandsbegriffs sprechen auch gegen die Empfehlung, ihn den Zwecken des jeweiligen Prozeßrechtsinstituts unterzuordnen und ihm einen variablen Inhalt zu geben.
    2. Fraglich ist also, ob die zweite Klage mit der ersten nicht nur den Klageantrag gemeinsam hat, sondern auch auf dem selben Lebenssachverhalt beruht.

      • Die praktische Bewährung der Lehre vom zweigliedrigen Streitgegenstand hängt davon ab, ob es gelingt, Kriterien aufzustellen, nach denen die Erfassung und Abgrenzung des im Einzelfall zugrundeliegenden Lebenssachverhalts möglich sind. Hierfür genügt es allerdings nicht, auf eine natürliche, vom Standpunkt der Parteien ausgehende Betrachtungsweise oder auf die Verkehrsauffassung zu verweisen, nach denen sich beurteilen soll, welches einem Klageantrag zugrundeliegende tatsächliche Geschehen zusammengehört und den Streitgegenstand bildet. Es bleibt daher nur, sich auch an rechtlichen Gesichtspunkten zu orientieren. Dies entspricht der wohl überwiegenden Auffassung im juristischen Schrifttum, wobei allerdings die aus dieser Erkenntnis zu ziehenden Schlußfolgerungen umstritten sind. Zu dem Lebenssachverhalt, der für den Streitgegenstand maßgebend ist, gehören alle Tatsachen, auf deren Existenz (oder auch Nichtexistenz) es für die Anwendung des den Klageantrag rechtfertigenden Rechtssatzes ankommt. Von dem schlüssigen Vortrag entsprechender Tatsachen hängt der Erfolg der Klage ab; weitere Fakten, die zwar in einem Zusammenhang mit diesem Tatsachenstoff stehen, jedoch für die Schlüssigkeit der Klage ohne Bedeutung sind, gehören folglich nicht zum maßgebenden Lebenssachverhalt (1).
      • Bei dem Unfallgeschehen, auf den K seine Klage stützt, und den damit zusammenhängenden Tatsachen handelt es sich um einen Lebenssachverhalt, der den Kern aller den Anspruch des Klägers stützenden Rechtssätze verwirklicht. Der Tatsachenstoff kann nicht sinnvoll auf verschiedene eigenständige Geschehensabläufe aufgeteilt werden. Die zweite Klage des K beruht daher auf demselben Lebenssachverhalt wie die erste, unabhängig davon, ob das Gericht der ersten Klage diese vollumfänglich geprüft hat oder nicht.
  3. Folglich ist über die zweite Klage des K bereits rechtskräftig entscheiden worden. Die Klage ist daher unzulässig.


FN 1: Daß eine solche Orientierung an materiell-rechtlichen Normen bei der Abgrenzung des Streitgegenstandes die prozessualen Streitgegenstandslehren den materiell-rechtlichen Theorien annähert, ist nicht zu verkennen (zurück).