Wolfgang Vogelsang, LL.M (London)
wissenschaftlicher Assistent
Lehrstuhl Prof. Dr. Stephan Lorenz 
 
 
Arbeitsgemeinschaft Zivilrecht IV

 ZPO-Erkenntnisverfahren

4. Arbeitsgemeinschaft

 Zulässigkeit der Klage III

 

Fall 2:          "Der Vorhang zu und alle Fragen offen?"

(vgl. BGH NJW 1988, 2300)

K erleidet am 31.10.1995 bei einem Verkehrsunfall mit B eine offene Trümmerfraktur seines linken Unterschenkels sowie einen Kniescheibenbruch. Auf die von K erhobene Klage, mit der er Ersatz seines vollen Unfallschadens einschließlich eines Schmerzensgeldes in der Größenordnung von DM 15.000 sowie die Feststellung der Ersatzpflicht des B für materielle Zukunftsschäden verlangt, entscheidet das zuständige OLG auf die Berufung des K durch rechtskräftiges Urteil vom 18.7.1998, daß B 3/4 des bisherigen materiellen Schadens des K in Höhe von DM 6.000 ersetzen sowie ein Schmerzensgeld in Höhe von DM 11.250 zahlen muß; desweiteren stellt das Urteil fest, daß B dem K 3/4 seines künftigen materiellen Schadens zu ersetzten hat. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
Nach Erlaß des Urteils vom 18.7.1998 stellt sich heraus, daß die Schienbeinfraktur nicht in vollen Umfang verheilt. K muß sich daher einer erneuten Operation unterziehen und verlangt mit einer erneuten Klage, den B wegen der im Vorprozeß nicht erkannten Unfallfolgen zur Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes von mindestens DM 10.000 zu verurteilen.
Ein vom zuständigen LG eingeholtes Sachverständigengutachten ergibt, daß Komplikationen im Heilungsverlauf bei Trümmerfrakturen nicht ungewöhnlich sind und die aufgetretenen Schwierigkeiten bereits im Erstprozeß mit sehr großer Wahrscheinlichkeit hätten prognostiziert werden können.

Hat die Klage Aussicht auf Erfolg? 
 
 

Lösung:

Die Klage hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

  1. Die Klage könnte unzulässig sein, weil dem Anspruch des Kl. auf Zahlung eines (weiteren) Schmerzensgeldes die Rechtskraft des Urteils vom 18.7.1998 entgegensteht. Problematisch ist hier die sog. zeitliche Grenze der Rechtskraft.
    1. Im Prozeß kann die tatsächliche Grundlage des Streits der Parteien nur bis zu dem Zeitpunkt vor der Beschlußfassung des Gerichts geklärt werden, bis zu dem die Parteien Angriffs- und Verteidigungsmittel vorbringen können (vgl. § 296a ZPO). Die Entscheidung des Gerichts stellt daher die Sach- und Rechtslage für diesen historischen Zeitpunkt fest. Maßgebender Präklusionszeitpunkt ist grundsätzlich der Schluß der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung. Dieser Bezugszeitpunkt für die materielle Rechtskraft steht nicht unmittelbar im Gesetz, er wird aber in § 767 Abs. 2 ZPO für das Endurteil sinngemäß vorausgesetzt. Dort ist geregelt, daß eine Vollstreckungsgegenklage nur auf "neue" Gründe gestützt werden kann. Der Grundsatz gilt aber allgemein als zeitliche Grenze der Rechtskraft, und zwar für sämtliche relevanten Tatsachen und für beide Parteien gleichermaßen. Im schriftlichen Verfahren gilt der vom Gericht bestimmt entsprechende Zeitpunkt. Da die Rechtshängigkeit regelmäßig den Streitgegenstand festlegt, wird durch sie die zeitliche Grenze einer Rückwirkung der Rechtskraft bestimmt, sofern sich nicht aus dem Streitgegenstand etwas anderes ergibt. Aus den objektiven und zeitlichen Grenzen der materiellen Rechtskraft folgt, daß eine Partei weder eine Vollstreckungsgegenklage (§ 767 ZPO) noch eine negative Feststellungsklage oder eine neue Leistungsklage auf Tatsachen oder Beweismittel stützen kann, die zu einer abweichenden Beurteilung führen würden, zur Zeit des ersten Verfahrens objektiv vorhanden und erkennbar waren, aber nicht vorgetragen wurden. Ob die Parteien die neu vorgebrachten Alttatsachen vorwerfbar zurückgehalten haben oder erst nachträglich davon erfahren oder deren Relevanz erst nachträglich erkannt haben, ist gleichgültig. Es handelt sich um eine objektive Präklusion durch Rechtskraft (1)
      1. Problematisch wird die Abgrenzung von Alt- und Neutatsachen, weil nach Ansicht der Rechtsprechung auch solche Tatsachen präkludiert werden, die noch nicht eingetreten waren, deren Eintritt aber vorhersehbar war und daher bei der Entscheidung hätten berücksichtigt werden können, vgl BGH NJW 1988, 2300, 2301:

      2. a) Verlangt, wie hier, der Kl. aufgrund einer Körperverletzung ohne bezifferten Antrag die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes (§§ 823, 847 BGB), so wird der Streitgegenstand maßgeblich von dem zur Anspruchsbegründung vorgetragenen Verletzungstatbestand geprägt. Durch den zum Ausgleich des immateriellen Schadens zuerkannten Betrag sollen daher alle diejenigen Verletzungen und Beschwerden des Kl. abgegolten werden, die sich aus dem Streitstoff ergaben, den die Prozeßparteien dem Gericht in der letzten mündlichen Verhandlung zur Beurteilung unterbreitet hatten und auf den der Kl. sein Schmerzensgeldbegehren gestützt hatte. Lediglich solche Verletzungsfolgen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingetreten oder nicht erkennbar waren und die deshalb zwangsläufig bei der Bemessung des Schmerzensgeldes unberücksichtigt geblieben sind, werden von der vom Gericht ausgesprochenen Rechtsfolge nicht umfaßt und können die Grundlage für einen Anspruch auf weiteres Schmerzensgeld bilden (Großer Senat für Zivilsachen BGHZ 18, 149 (167) = NJW 1955, 1675; BGH, VersR 1963, 1048 (1049); NJW 1976, 1149 = VersR 1976, 440 (441); NJW 1980, 2754 = VersR 1980, 975 f.).

        b) Die Frage, ob und welche im Vorprozeß bereits vorliegenden Verletzungsfolgen aufgrund des dort zur Entscheidung gestellten Sachverhalts zu erkennen und damit grundsätzlich einschließlich ihrer naheliegenden künftigen Auswirkungen bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen waren (vgl. dazu Senat, NJW 1980, 2754), ist objektiv, d. h. nach den Kenntnissen und Erfahrungen eines insoweit Sachkundigen, zu beantworten (Senat, NJW 1980, 2754). Darauf, ob der Kläger den Heilungsverlauf der geltend gemachten Unfallverletzungen richtig beurteilt und die konkreten Ursachen seiner auf diese Verletzungen zurückgeführten Beschwerden erkannt hat, kann es nicht ankommen. Dasselbe gilt für die Frage, ob das Gericht die Verletzungsfolgen zutreffend gewürdigt hat. Anderenfalls würde man, wie der Senat ausgeführt hat, zu dem mit dem Wesen der Rechtskraft nicht zu vereinbarenden Ergebnis gelangen, daß diese mit der Behauptung infrage gestellt werden könnte, die Entscheidung beruhe auf einer nicht vollständigen Erfassung des Streitstoffes. Dieser Einwand kann nur im Rechtsmittelverfahren gegen das Urteil vorgebracht werden, sofern und solange ein solches eröffnet ist; nach Eintritt der Rechtskraft bleibt allein die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens, deren Voraussetzungen hier aber nicht erfüllt sind. Für eine abweichende Betrachtung bietet, entgegen der Ansicht der Revision, auch das Urteil des BGH vom 4. 12. 1975 (NJW 1976, 1149) keine Grundlage. Denn auch diese Entscheidung, die sich allein mit der Vorhersehbarkeit erst nachträglich entstandener Unfallfolgen befaßt, stellt nicht auf die Sicht des Gerichts, sondern darauf ab, ob der Richter Spätfolgen oder Komplikationen deshalb nicht berücksichtigt hat, weil ihr Eintreten nach dem im Vorprozeß eingeholten ärztlichen Gutachten, also objektiv, nicht zu erwarten war. [...]

      3. Zwar mag diese weitreichende Zuweisung des Risikos, einen nur prognostisch erfaßbaren Streitstoff zutreffend zu bewerten, nicht zwingend "aus dem Wesen der Rechtskraft" folgen (2), sie ist aber zur Verfahrenskonzentration sinnvoll, so daß dem BGH grundsätzlich zuzustimmen ist.
    2. Hier hat K im Vorprozeß seine gesamten Unfallverletzungen und Beschwerden uneingeschränkt zur Entscheidung über ein angemessenes Schmerzensgeld gestellt und nicht etwa erst künftig erwartete Folgen durch einen Antrag auf Feststellung der Ersatzpflicht für immaterielle Zukunftsschäden ausgegrenzt. Streitgegenstand waren also sowohl der Trümmerbruch als auch die Kniescheibenfraktur einschließlich des jeweiligen Heilungsverlaufs. Die Komplikationen des Heilungsverlaufs sind nicht derart außergewöhnlich, daß sie durch medizinische Sachverständige nicht hätten prognostiziert werden können. Folglich steht dem Anspruch des K auf Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes die Rechtskraft des Urteils vom 18.7.1998 entgegen, so daß jede neue Sachentscheidung über den Anspruch ausgeschlossen ist 
  2. Die Klage muß daher als unzulässig abgewiesen werden.

FN 1: Vgl. MünchKomm/Gottwald, § 322 Rdnr. 126 ff. (zurück).

FN 2: Vgl. die Kritik bei MünchKomm/Gottwald, § 322 Rdnr. 131 (zurück).