Wolfgang Vogelsang, LL.M (London)
wissenschaftlicher Assistent
Lehrstuhl Prof. Dr. Stephan Lorenz 
 
 
Arbeitsgemeinschaft Zivilrecht IV

 ZPO-Erkenntnisverfahren

4. Arbeitsgemeinschaft

 Zulässigkeit der Klage III

 

Fall 7:          "Fiat iustitia, pereat mundi?"

(vgl. Zeiss, JuS 1969, 361)

Der aus einem Verkehrsunfall geschädigte K verklagt die Haftpflichtversicherung B des Schädigers (vgl. § 3 PflVG) auf Zahlung der gesamten Schadenssumme in Höhe von DM 15.000. Die von B inzwischen geleistete Abschlagszahlung DM 10.000 läßt er unerwähnt. Infolge eines Versehens bei ihrer Aktenführung beruft sich auch B im Prozeß nicht auf die Abschlagszahlung. K erwirkt deshalb ein Urteil auf Zahlung von DM 15.000, das rechtskräftig wird. B, die den Zahlungsbeleg inzwischen gefunden hat, fragt, ob sie wegen des Betrags von DM 10.000 das Urteil zu Fall bringen kann.
 
 

Lösung:

  1. Das vom Gesetz vorgesehene Mittel für die Korrektur rechtskräftiger Entscheidungen ist die Wiederaufnahme des Verfahrens durch Nichtigkeitsklage oder Restitutionsklage (§§ 578 ZPO ff.). Zu prüfen ist daher zunächst, ob B gem. §§ 579, 580 ZPO Nichtigkeits- oder Restitutionsklage erheben kann.
    1. Als Restitutionsgrund könnte einmal § 580 Nr. 4 ZPO in Betracht kommen. K könnte sich gem. § 263 StGB wegen Prozeßbetrugs strafbargemacht haben. Aufgrund § 580 Nr. 4 ZPO findet jedoch gem. § 581 ZPO eine Restitutionsklage nur statt, wenn K wegen Prozeßbetrugs rechtskräftig verurteilt wurde. Das ist nicht der Fall.
    2. Als weiterer Restitutionsgrund kommt § 580 Nr. 7 b ZPO in Betracht. Zwar hat B eine Urkunde aufgefunden, die eine ihr günstiger Entscheidung herbeigeführt haben würde, dennoch ist die Restitutionsklage gem. § 582 ZPO nur zulässig, wenn die B ohne ihr Verschulden außerstande war, den Restitutionsgrund in dem früheren Verfahren geltend zu machen. B hat aber ihre Akten nicht mit der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt geführt und daher den Restitutionsgrund schon im ersten Verfahren fahrlässig verkannt.
    3. Eine Restitutionsklage gem. §§ 580 Nr.4 bzw. Nr. 7 b ZPO ist daher unzulässig. 
  2. B könnte jedoch mit einer auf § 826 BGB gestützten Klage auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung aus dem Urteil Höhe von DM 10.000 und Quittungserteilung auf dem Titels insoweit (vgl. § 757 ZPO) Erfolg haben.
    1. Eine solche Klage scheitert nicht schon daran, daß über ihren Streitgegenstand bereits im Vorprozeß rechtskräftig entschieden wurde. da der Streitgegenstand im Vorprozeß und im Schadensersatzprozeß nicht identisch: Weder haben Klagen denselben Antrag noch beruhen sie auf demselben Lebenssachverhalt.
    2. Die Klage könnte jedoch unbegründet sein, da die im Vorprozeß rechtskräftig festgestellte Rechtsfolge eine präjudizielle Voraussetzung des Schadensersatzanspruches darstellt, über die im zweiten Prozeß entschieden werden muß. Denn nur in dem Fall, daß die Unrichtigkeit des angegriffenen Urteils festgestellt wird, der Richter im zweiten Prozeß also anders als der Richter im ersten Prozeß über die rechtskräftig festgestellte Rechtsfolge entscheidet, kann ein durch das Urteil entstandener Schaden und damit eine notwendige Voraussetzung des Schadensersatzanspruchs aus § 826 BGB bejaht werden und der Kläger im Schadensersatzprozeß erfolgreich sein (1)
      1. Mit der Klage aus § 826 BGB wird die daher die materielle Rechtskraft des angegriffenen Urteils durchbrochen. Dennoch bejaht der BGH in ständiger Rechtsprechung die Zulässigkeit einer auf § 826 BGB gestützten Klage, durch die gegen die Erschleichung oder die sittenwidrige Ausnutzung eines Urteils vorgegangen wird (2). In einer neueren Entscheidung hat der BGH diese Rechtsprechung noch einmal zusammengefaßt und präzisiert (3). Das Gericht hat betont, daß die Anwendung des § 826 BGB mit dem Ziel, dem Schuldner die Möglichkeit einzuräumen, sich gegen die Vollstreckung aus einem rechtskräftigen, aber materiell unrichtigen Titel zu schützen, auf besonders schwerwiegende, eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt bleiben müßte. Der Erfolg einer solchen Klage hänge von der Erfüllung folgender Voraussetzungen ab:
        • das Urteil müsse materiell unrichtig sein, d.h. der für vollstreckbar erklärte Anspruch dürfe nicht oder nicht im titulierten Umfang bestehen;
        • der Titelgläubiger müsse die Unrichtigkeit des Titels kennen, wobei es beim Streit über die Zulässigkeit einer künftigen Vollstreckung genüge, wenn ihm diese Kenntnis durch das zur Entscheidung über den Anspruch aus § 826 BGB berufene Gericht vermittelt werde;
        • darüber hinaus müßten besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer dem Gläubiger zuzumuten sei, die ihm unverdient zugefallene Rechtsposition aufzugeben. Von dem Erfordernis zusätzlicher besonderer Umstände solle aber in Extremfällen abgesehen werden können, wenn die materielle Unrichtigkeit des Titels z.B. wegen der Sittenwidrigkeit eines Vertrages bereits so eindeutig und so schwerwiegend sei, daß jede Vollstreckung allein schon deswegen das Rechtsgefühl in schlechthin unerträglicher Weise verletzen würde.
        Gegenüber den Vorschriften über das Restitutionsrecht ist die Klage aus § 826 BGB nach Ansicht des BGH nicht subsidiär, sondern steht selbständig neben ihnen, so daß die durch das Restitutionsrecht geschaffenen Einschränkungen für diese Klage nicht gelten. Allerdings hat sich der BGH in mehreren Entscheidungen für eine entsprechende Anwendung des § 582 ausgesprochen und eine Durchbrechung der Rechtskraft aufgrund des § 826 BGB abgelehnt, wenn der Betroffene bei sorgfältiger Prozeßführung die Unrichtigkeit des Urteils hätte vermeiden können (4)
      2. Die vom BGH verlangte Feststellung der materiellen Unrichtigkeit des Titels, die das Institut der materiellen Rechtskraft gerade verhindern soll, war und ist der Grund für die in der Lit. stets an dieser Rechtsprechung geübten Kritik (5). Die Regelung der §§ der §§ 578 ff ZPO seien im Verhältnis zu § 826 BGB lex specialis. Im sachlichen Anwendungsbereich decke § 580 ZPO alle bisher aufgetretenen Sachverhalte. § 582 ZPO zeige die Subsidiarität einer Restitutionsklage, § 581 fordere die Evidenz und Liquidität der neuen Beweismittel. Eine Klage nach § 826 BGB sei an keine dieser Schranken gebunden. Die bloße Behauptung sittenwidrigen Verhaltens genüge, um den ersten Prozeß wieder aufzurollen und die Richtigkeit des Urteils nachzuprüfen. Gerade hier habe der Gesetzgeber mit § 322, 578 ff ZPO die Schranken gesetzt. Wieso sollte sich eine Partei nach den §§ 578 ff ZPO mühen, wenn ihr der Weg nach § 826 BGB offenstehe?
      3. Der h.L. ist zuzugeben, daß mit der Klage nach § 826 die strengen Einzelvoraussetzungen des Restitutionsverfahrens umgangen werden. Die Praxis zeigt aber, daß auch auf dem Gebiet der Durchbrechung der Rechtskraft eine flexible Generalklausel nicht entbehrt werden kann, um evidentes Unrecht zu verhindern und um Rechtsmißbrauch abzuwehren, gerade dann, wenn gefestigte Tatbestände versagen. Die Schadensersatzklage aus § 826 BGB gegen rechtskräftige Entscheidungen ist daher im Grundsatz als gesicherte richterliche Rechtsfortbildung anzuerkennen. Der gegen diese Rechtsprechung erhobene Vorwurf der Verfassungswidrigkeit ist nicht stichhaltig, da es der Rechtsprechung nicht verwehrt sein kann, die Reichweite geltender Rechtsnormen, wie des § 826 BGB, anhand praktischer Bedürfnisse über die Vorstellungen des Gesetzgebers hinaus auszudehnen. Vielmehr scheint der durch § 826 BGB gewährleistete Schutz gegen den Mißbrauch rechtskräftiger Entscheidungen von der Verfassung geradezu geboten (6)
      4. Zu prüfen ist also, ob die von der Rechtsprechung für einen Anspruch aus § 826 BGB entwickelten Voraussetzungen vorliegen.

      5. Der von K erstrittene Titel ist materiell unrichtig und K kennt diese Unrichtigkeit auch.
        Fraglich ist, ob besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer dem Gläubiger zuzumuten sei, die ihm unverdient zugefallene Rechtsposition aufzugeben.
        Im Falle einer Urteilserschleichung geht die Rspr. davon aus, daß die "besondere Umstände" stets verwirklicht sind (7). In diesem Fall verweigert die Rspr. i.d.R. auch analoge Anwendung von § 582 ZPO (8)
      6. Eine auf § 826 BGB gestützten Klage der B auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung aus dem Urteil Höhe von DM 10.000 und auf Quittungserteilung auf dem Titel insoweit hat folglich Aussicht auf Erfolg.

FN 1: Vgl. Musielak/Musielak, § 322 Rdnr. 88 ff, auf dessen Kommentierung nachfolgende Darstellung im wesentlichen beruht (zurück).

FN 2: BGH NJW 1987, 3256; NJW 1988, 971; NJW 1993, 3204; NJW 1994, 589 (zurück).

FN 3: BGH NJW 1987, 3256 (zurück).

FN 4: BGH NJW-RR 1988, 957; NJW 1989, 1285; NJW 1996, 57 (zurück).

FN 5: Vgl. Prütting/Weth, Rechtskraftdurchbrechung bei unrichtigen Titeln, 2.Aufl. 1994, Rdnr. 176 ff m.w.N. (zurück).

FN 6: MünchKomm/Gottwald, § 322 Rdnr. 24 (zurück).

FN 7: Vgl. die Nachweise bei Musielak/Musielak, § 322 Rdnr. 92 (zurück).

FN 8: BGH NJW-RR 1988, 957, 959 (zurück).