Wolfgang Vogelsang, LL.M (London)
wissenschaftlicher Assistent
Lehrstuhl Prof. Dr Stephan Lorenz
Arbeitsgemeinschaft Zivilrecht IV
ZPO-Erkenntnisverfahren
5. Arbeitsgemeinschaft
Parteiverhalten I
Klageänderung; Erledigungserklärung; Veräußerung des Streitgegenstands;
Parteiänderung; Vergleich; Widerklage
Fall 4: "Tour de Souffrances" - Examen V
1. Der 23-jährige Berthold Bien (B) studiert in Ulm an der
Fachhochschule Maschinenbau. Seit Juli diesen Jahres absolviert er ein von
der Studienordnung der FH vorgeschriebenes sechsmonatiges Industriepraktikum
bei MAN in Augsburg. Um Fahrtkosten zu sparen, quartiert er sich von
Dienstag bis Freitag bei seiner Tante in Göggingen ein, ansonsten wohnt er
weiterhin bei seinen Eltern in Ulm.
Am Sonntag, den 15.9.1999 streift er bei einer Radtour in Regensburg
mit seinem Fahrrad das am Straßenrand parkende Auto der aus Augsburg stammenden
Karla Kalt (K) und verursacht dabei einen Lackschaden in Höhe von DM 5.000. B
weigert sich jedoch, den Schaden zu begleichen, da nicht er, sondern ein ihn
abdrängender rücksichtsloser Autofahrer für den Unfall verantwortlich sei.
K verklagt daher den B vor dem AG Augsburg auf Zahlung von DM 5.000
Schadensersatz. In dem vom AG zum 15.10.1999 anberaumten frühen ersten
Termin rügt B die Zuständigkeit des Gerichts.
Ist das AG Augsburg für die Klage zuständig?
Lösung:
- Das AG Augsburg ist gem. § 23 Nr. 1 GVG sachlich zuständig. Die
Rechtswegzuständigkeit sowie die funktionale und internationale
Zuständigkeit ist unproblematisch.
- Fraglich ist jedoch, ob das AG Augsburg örtlich zuständig ist.
- Der allgemeine Gerichtsstand der§§ 12, 13 ZPO scheidet aus, da B in
Augsburg keinen Wohnsitz hat. Der Begriff des Wohnsitzes wird in der ZPO
selbst nicht definiert. Es muß daher auf die §§7 ff. BGB zurückgegriffen
werden. Gem. § 7 Abs. 1 BGB wird ein selbständiger Wohnsitz dadurch
begründet, daß sich jemand an einem Ort ständig niederläßt, in der Absicht,
ihn zum räumlichen Mittelpunkt seiner gesamten Lebensverhältnisse - dem
räumlichen Schwerpunkt seines Lebens - zu machen. Folglich hat B seinen
Wohnsitz in Ulm.
- Zu prüfen ist daher, ob in Augsburg ein besonderer Gerichtsstand
gegeben ist.
- Nicht einschlägig ist der Gerichtsstand der unerlaubten Handlung
des § 32 ZPO, da B eine eventuelle deliktische Handlung in Regensburg
begangen hat.
- In Betracht kommen könnte aber der besondere Gerichtsstand des
Aufenthaltsorts gem. § 20 ZPO.
- Die Anwendung des § 20 ZPO setzt zunächst voraus, daß der Beklagte einen
anderweitigen Wohnsitz hat. Das ist der Fall.
- Des weiteren müssen die Verhältnisse des Aufenthalts ihrer Natur nach
auf längere Dauer hinweisen. Ist dies der Fall, so ist die sich daran
anschließende Verweildauer unerheblich.
B hat in Augsburg einen länger dauernden Aufenthalt zu Erreichung eines
bestimmten Zwecks (Industriepraktikum). Als eine in einem
Vorbereitungsverhältnis stehende Person hält er sich nicht lediglich
vorübergehend in der Stadt auf. Zudem gehört er als Student zu den von
§ 20 ZPO exemplarisch aufgeführten Personenkreisen.
- Schließlich greift § 20 ZPO nur bei vermögensrechtlichen Ansprüchen
ein. Da K auf Schadensersatz in Geld klagt, liegt eine vermögensrechtliche
Streitigkeit vor. Der Entstehungsgrund dieser Ansprüche ist gleichgültig,
ein Zusammenhang mit dem Aufenthalt nicht erforderlich
- B hat daher gem. § ZPO einen besonderen Gerichtsstand in Augsburg.
- Das AG Augsburg ist daher für die Klage zuständig.
2. Bei der Erörterung des Sach- und Streitstands durch
den Amtsrichter muß B einräumen, daß er für seine Behauptung, von einem
Dritten abgedrängt worden zu sein, keine Beweismittel bieten kann. Deshalb
zahlt der im Gerichtssaal anwesende Vater des B die DM 5.000 an K.
Daraufhin erklärt diese den Rechtsstreit für erledigt.
Wie muß das Gericht entscheiden, wenn
- B sich der Erledigungserklärung der K widersetzt?
- B der Erledigungserklärung der K zustimmt?
Lösung
Frage 1
- Zulässigkeit einer Entscheidung über die Erledigungserklärung
- Ordnungsgemäße Klageerhebung
- K hat zunächst den Antrag gestellt, den B zur Zahlung von DM 5.000 zu
verurteilen, der gem. §§ 253 Abs. 1, 261 Abs. 1 ZPO rechtshängig wurde.
- Nunmehr beantragt er die Hauptsache für erledigt zu erklären. Nach h.M.
handelt es sich bei der einseitigen Erledigungserklärung um einen Antrag
auf Feststellung, daß der ursprüngliche Klagantrag im Zeitpunkt des
erledigenden Ereignisses zulässig und begründet war. Folglich wird mit
dieser Feststellungsklage wird ein neuer Streitgenstand in den Prozeß
eingeführt, d.h. dieser muß rechtshängig gemacht werden. K hat die
Feststellungsklage gem. § 261 Abs. 2, 1. Alt ZPO durch Geltendmachung
in der mündlichen Verhandlung ordnungsgemäß erhoben.
- Zulässigkeit der Klageänderung
Die Einführung eines neuen Streitgegenstands in ein laufendes Verfahren
ist nach ganz h.M. eine Klageänderung, für die die besondere
Sachurteilsvoraussetzung ihrer Zulässigkeit gegeben sein muß.
Nach der herrschenden sog. Klageänderungstheorie ist die Klageänderung
im Falle einer Erledigung der Hauptsache stets gem. § 264 Nr. 2 ZPO
zulässig.
- Zulässigkeit der Feststellungsklage
- Ein Feststellungsinteresse der K gem. § 256 Abs. 1 ZPO ist zu bejahen,
da es ein Gebot der Gerechtigkeit ist, daß K, wenn die Klage bei Eintritt
des erledigenden Ereignisses zulässig und begründet war, sich von der
Kostenlast befreien können muß.
- Das AG ist für diese Klage jedenfalls dann örtlich zuständig, wenn
es bereits für die ursprüngliche Leistungsklage zuständig war. Das ist
der Fall.
- Die sachliche Zuständigkeit ist unproblematisch.
- Die Feststellungsklage auf Erledigung der Hauptsache ist daher
zulässig.
- Zulässigkeit einer Entscheidung über den ursprünglichen Antrag
Der Feststellungsantrag auf Erledigung der Hauptsache tritt an die Stelle
des ursprünglichen Leistungsantrags der K und beseitigt ihn zugleich.
Mangels Rechtshängigkeit darf das AG über diesen nicht mehr entscheiden.
- Begründetheit der Feststellungsklage
Die Feststellungsklage ist begründet, wenn sie bei Eintritt des
erledigenden Ereignisses zulässig und begründet gewesen ist. Das
Erledigungsereignis muß also ursächlich dafür sein, daß die Klage nach
Rechtshängigkeit unzulässig bzw. unbegründet wird.
- Die ursprüngliche Klage war im Zeitpunkt der Zahlung durch den Vater des
B zulässig (vgl. oben Frage 1).
- Des weiteren müßte die Klage im Zeitpunkt der väterlichen Zahlung
begründet gewesen sein. B war der K im Zeitpunkt der Zahlung gem. § 823
Abs. 1 BGB zum Schadensersatz verpflichtet. K trägt einen Geschehensablauf
für die Beschädigung ihres Autos vor, aus dem nach der Lebenserfahrung
typischerweise auf ein Verschulden des B geschlossen werden kann. Diesen
vorläufigen Beweis oder Anscheinsbeweis kann B nicht erschüttern, da er die
Möglichkeit eines atypischen Geschehensverlaufs nur behauptet, aber dafür
keinen Beweis antreten kann. Die ursprüngliche Klage war daher im Zeitpunkt
der Zahlung auch begründet.
- Schließlich müßte das erledigende Ereignis nach Rechtshängigkeit
eingetreten sein. Mit der Zahlung seitens des Vaters erlosch die Schuld
des B gem. §§ 267 Abs. 1, 362 Abs. 1 BGB. Die Zahlung des Vaters erfolgte
nach Rechtshängigkeit.
- Ergebnis:
Das Gericht muß der Feststellungsklage des K auf Erledigung der Hauptsache
stattgeben, da diese zulässig und begründet ist.
Frage 2
Erklärt sich B mit der Erledigungserklärung der K einverstanden, endet der
Prozeß zur Hauptsache allein und bereits durch die Parteihandlungen. Das
Gericht hat nur noch gem. § 91a ZPO unter Berücksichtigung des bisherigen
Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen durch Beschluß über die
Kosten zu entscheiden.
Nach dem Sach- und Streitstand im Zeitpunkt der beiderseitigen
Erledigungserklärung war die Klage zulässig und begründet, so daß die
Kosten allein dem B aufzuerlegen sind.
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