Wolfgang Vogelsang, LL.M (London)
wissenschaftlicher Assistent
Lehrstuhl Prof. Dr Stephan Lorenz


Arbeitsgemeinschaft Zivilrecht IV

ZPO-Erkenntnisverfahren

5. Arbeitsgemeinschaft

Parteiverhalten I
Klageänderung; Erledigungserklärung; Veräußerung des Streitgegenstands;
Parteiänderung; Vergleich; Widerklage


Fall 9:          "Wie Du mir, so ich Dir!?"

Der in Augsburg wohnhafte V erhebt nach Ende der Mietzeit beim AG Augsburg Klage gegen M auf Räumung des vermieteten Zimmers. M erhebt Widerklage auf Rückzahlung des dem V gewährten Darlehens von DM 500.

Ist die Widerklage zulässig?


Lösung:

Die Widerklage ist privilegierte Klage. Sie untersteht daher zunächst, sofern für sie nicht besondere Bestimmungen erlassen sind, den allgemeinen Vorschriften über die Zulässigkeit der Klage.

  1. Allgemeine Sachurteilsvoraussetzungen

    1. Ordnungsgemäße Klageerhebung
      B hat die Klage auf Darlehensrückzahlung gem. §253 Abs. 1, 261 Abs. 2, 1. Alt. ZPO ordnungsgemäß erhoben.
    2. Örtliche Zuständigkeit
      Das AG Augsburg ist für die Widerklage gem. §§ 12, 13 ZPO örtlich zuständig, so daß dahinstehen kann, ob in Augsburg auch ein besonderer Gerichtsstand des V gem. § 33 ZPO gegeben ist.
    3. Sachliche Zuständigkeit
      Das AG ist für die Widerklage gem. §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG sachlich zuständig.
    4. Keine anderweitige Rechtshängigkeit

      1. Die Widerklage ist die in einem anhängigen Prozeß erhobene Klage des Beklagten (Widerkläger) gegen den Kläger (Widerbeklagten) durch die ein selbständiger Streitgegenstand (von § 33 ZPO Gegenanspruch genannt) geltend gemacht wird. Jeder Antrag des Beklagten, den er aufgrund eines derartigen prozessualen Anspruchs zum Zwecke des Angriffs gegen den Kläger stellt und der auch Gegenstand eines selbständigen Klage sein könnte, ist eine Widerklage (1).
      2. Der Antrag des B muß daher im Verhältnis zum Antrag des K einen selbständigen Streitgegenstand haben, Das ist, da sie einen anderen Antrag hat und auf einem anderen Lebenssachverhalt beruht der Fall. Da B nicht nur beantragt, die Klage des K aufgrund seiner Darlehensforderung abzuweisen (z.B. wegen Aufrechnung oder eines Zurückbehaltungsrechts), ist auch die angriffsweise Erhebung eines prozessualen Anspruchs gegeben. Die Widerklage erschöpft sich also nicht in der Verneinung des Klageanspruchs und hat somit einen von der Hauptklage verschiedenen Streitgegenstand.
        Folglich ist der mit der Widerklage geltend gemachte Anspruch nicht bereits mit der Hauptklage rechtshängig geworden.
    5. Von Vorliegen der übrigen allgemeinen Sachentscheidungsvoraussetzungen ist auszugehen.
  2. Besondere Sachurteilsvoraussetzungen

    1. Rechtshängigkeit der Hauptklage
      Die Hauptklage muß bei Erhebung der Widerklage rechtshängig sein, danach ist sie von deren Fortbestand unabhängig.
      Im Zeitpunkt der Erhebung der Widerklage war die Hauptklage des K gem. §§ 253 Abs. 1, 261 Abs. 1 ZPO rechtshängig.
    2. Selbe Prozeßart und kein Ausschluß kraft Gesetzes
      Die Widerklage muß in derselben Prozeßart wie die Hauptklage erhoben und in dieser gesetzlich zulässig sein. Unzulässig ist die Widerklage im Urkundenprozeß (§§ 595 Abs. 1 ZPO), nur beschränkt zulässig in Ehe- und anderen Statussachen (vgl. §§ 610 Abs. 2, 621 ff, 633 Abs. 2, 638, 640c ZPO).
      Die Haupt- und Widerklage sind beide Leistungsklagen des allgemeinen Zivilprozesses, in dem eine Widerklage nicht gesetzlich ausgeschlossen ist.
    3. Die Widerklage als privilegierte Klage setzt voraus, daß an ihr mindestens auch die Parteien der Hauptklage beteiligt sind, sie als vom Beklagten der Hauptklage gegen deren Kläger gerichtet ist (2). Das ist der Fall.
    4. Konnexität
      Gem. § 33 ZPO muß der mit der Widerklage geltend gemachte prozessuale Anspruch mit dem in der Klage geltend gemachten Anspruch in Zusammenhang stehen. Ein Zusammenhang mit der Widerklage ist gegeben, wenn die beiderseits geltend gemachten Forderungen aus dem gleichen Rechtsverhältnis resultieren. Es ist deshalb ein rechtlicher Zusammenhang erforderlich, wobei hierfür jedoch keine Identität des unmittelbaren Rechtsgrundes erforderlich ist. Ein bloßer tatsächlicher, örtlicher oder sonstiger Zusammenhang ist aber nicht ausreichend (3).
      Zwischen der Herausgabeklage und der Klage auf Darlehensrückzahlung besteht kein derartiger rechtlicher Zusammenhang. Dieser ist jedoch nur erforderlich, wenn es sich bei dem nach § 33 ZPO erforderlichen Tatbestandsmerkmal des Zusammenhangs um eine zusätzliche besondere Sachurteilsvoraussetzung handelt. Das ist strittig:

      1. Nach der in der Lit. h.L. regelt § 33 ZPO nicht die Zulässigkeit der Widerklage, sondern nur einen weiteren Gerichtsstand für diese. Danach ist eine Widerklage auch ohne den Zusammenhang des § 33 ZPO zulässig, wenn das Gericht der Hauptklage aus anderen Gesichtspunkten für die Widerklage örtlich zuständig ist, etwa weil der Kläger hier seinen allgemeinen Gerichtsstand hat oder weil hier ein besonderer Gerichtsstand für den prozessualen Gegenanspruch besteht (4).
        Nach dieser Auffassung ist die Widerklage des M, da V beim Gericht der Hauptklage seinen allgemeinen Gerichtsstand hat, auch ohne Konnexität zulässig.
      2. (5)Nach Ansicht der Rspr. und einem Teil der Lit. (5) schafft § 33 ZPO für die Widerklage eine besondere Zulässigkeitsvoraussetzung Danach hat die Vorschrift den Zweck, zu verhindern, daß eine Widerklage ohne jeden Zusammenhang erhoben werden kann, falls sie nach allgemeinen Zuständigkeitsregeln zulässig erhoben werden könnte.
        Nach dieser Auffassung ist die Widerklage des M unzulässig.
      3. Stellungnahme: Der Wortlaut der Vorschrift gibt für die Entscheidung des Problems nichts her (6). Für die in der Lit h.L. spricht aber die systematische Stellung des § 33 ZPO innerhalb der Regelung des Gerichtsstands. Außerdem setzt die Möglichkeit (nicht Notwendigkeit) des § 145 Abs. 2 ZPO voraus, daß auch eine nichtkonnexe Widerklage zulässig ist. Des weiteren hat der Kläger gem. § 260 ZPO die Möglichkeit nichtkonnexe Klagen zusammenzufassen. Die prozessuale "Waffengleichheit" gebietet daher, daß er auch mit einer nichtkonnexen Widerklage rechnen muß. Schließlich überzeugt auch das Argument nicht, daß kein innerer Grund ersichtlich sei, der die weite Ausdehnung der Klagebefugnis durch die h.M. rechtfertigen könnte. Die Trennungsmöglichkeit des § 145 Abs. 2 ZPO gewährt dem Kläger hinreichenden Schutz vor unkonnexen Widerklagen. Folglich verdient die in der Lit. h.L. Zustimmung.
  3. Die Widerklage des M ist daher zulässig (7).


FN 1: Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 98 II 1 (zurück).

FN 2: Zöller/Vollkommer, § 33 Rdnr. 1 (zurück).

FN 3: MünchKomm/Patzina, § 33 Rdnr. 20 (zurück).

FN 4: Stein-Jonas/Schumann, § 33 Rdnr. 6; MünchKomm/Patzina, § 33 Rdnr. 19; Zöller/Volkommer, § 33 Rdnr. 1; Musielak/Smid, § 33 Rdnr. 2 (zurück).

FN 5: BGH NJW 1964, 44; NJW 1975, 1228; Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 98 II 2 d (zurück).

FN 6: Sowohl Zöller/Vollkommer, § 33 Rdnr. 1 als auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 98 II 2 d, reklamieren den Wortlaut des § 33 für die Richtigkeit ihrer jeweiligen Auffassung (zurück).

FN 7: Da auch nichts dafür spricht, daß sich eine der beiden Klagen rascher entscheiden ließe, darf das AG auch keine Trennung gem. § 145 Abs. 2 ZPO anordnen, vgl. MünchKomm/Peters, § 145 Rdnr. 7 (zurück).