Wolfgang Vogelsang, LL.M (London)
wissenschaftlicher Assistent
Lehrstuhl Prof. Dr Stephan Lorenz
Arbeitsgemeinschaft Zivilrecht IV
ZPO-Erkenntnisverfahren
1. Arbeitsgemeinschaft
Einführung
I. Zur Methode der Lösung zivilprozessualer Fälle
- Allgemeines
- Beim Zivilprozeßrechtsfall geht es um die Beurteilung eines Verfahrens, das zum Zwecke
einer privatrechtlichen Sachentscheidung in Gang gesetzt wird. Die Lösung eines
zivilprozessualen Falls hängt daher entscheidend davon ab, in welchem Stadium sich das
Verfahren befindet, welche prozessualen Möglichkeiten (Befugnisse) die Beteiligten
(das Gericht, die Parteien, Dritte) haben und was sie tun müssen, um den Prozeß seinem
Ziel, der richterlichen (Sach-) Entscheidung zuzuführen. Diese dynamische Entwicklung
eines Prozesses bedingt besondere methodische Überlegungen.
- Daher sind zur Auffindung der prozessualen Probleme eines Zivilprozeßrechtsfalls
vorab gedanklich folgende Grundfragen zu stellen:
- Was ist das prozessuale Begehren (Streitgegenstand)?
- Wer sind die am Verfahren Beteiligten?
- Welche Prozeßsituation liegt vor?
- Welche prozessualen Möglichkeiten haben die Beteiligten in dieser konkreten
Prozeßsituation und was müssen sie tun, um den Prozeß einzuleiten, weiterzuführen oder
zu beenden?
- Für das weitere methodische Vorgehen ist dann die Fragestellung der Aufgabe
entscheidend. Die im Bearbeitervermerk enthaltenen Fallfragen begrenzen die durchzuführende
Prüfung:
- Ist die Fallfrage konkret, wird das prozessuale Begehren sowie Prozeßsituation durch
den Sachverhalt i.d.R. bereits vorgegeben, so daß "nur" noch zu den prozessualen
Möglichkeiten und Befugnissen der Beteiligten (Parteien, Gericht, Dritte) in dieser
konkreten Prozeßlage Stellung zu nehmen ist.
- In Fällen, in denen die Aufgabenstellung dagegen allgemein gehalten, d.h. das
prozessuale Begehren im Sachverhalt nicht angegeben ist, muß zuerst die materielle oder
prozessuale Rechtslage geklärt werden. Über die Bestimmung des in Betracht kommenden
prozessualen Begehrens (Streitgegenstand) und der Parteien (Grundfragen (1) und (2))
gelangt man dann zur Feststellung der Prozeßsituation (Grundfrage (3)) und zur Frage
der prozessualen Möglichkeiten und Befugnisse (Grundfrage (4)). Der Bearbeiter muß
also die Fallfrage anhand der Grundfragen konkretisieren und feststellen, zu welchen
Einzelpunkten eine rechtliche Stellungnahme erforderlich ist. Die so konkretisierte
Fallfrage ist dann, evtl. unter Berücksichtigung der Auswirkungen eines möglichen
Beteiligtenverhaltens auf den Prozeß bzw. die gerichtliche Entscheidung, zu
beantworten.
- Der so gesteckte Prüfungsrahmen darf nicht überschritten werden. Es stellt einen
groben Fehler dar, wenn der Bearbeiter auch Punkte behandelt, auf die es zur Beantwortung
der Fallfrage nicht ankommt.
- Regelmäßig wird der Bearbeiter bis zum Ersten Juristischen Staatsexamen ein Gutachten
zu einem feststehenden Sachverhalt anzufertigen haben. Hinsichtlich der Gutachtentechnik
besteht kein wesentlicher Unterschied zur Lösung von materiellrechtlichen Fällen: Nach
sorgfältiger Erfassung des Sachverhalts anhand der Grundfragen sind die in Betracht
kommenden zivilprozessualen Rechtsvorschriften zu ermitteln und unter diese zu
subsumieren.
- Typische Klausurenkonstellationen - die verschiedenen Klausurarten
Des weiteren hängt die vom Bearbeiter eines Zivilprozeßrechtsfall vorzunehmende
Untersuchung maßgeblich davon ab, aus welcher Sicht die sich stellenden Rechtsfragen
zu entscheiden sind.
- "Anwaltsklausur"
Wird dem Bearbeiter aufgegeben, die Untersuchung vom Standpunkt eines mit dem Fall
befaßten Rechtsanwalts durchzuführen, dann sind regelmäßig zunächst die Probleme des
materiellen Rechts zu behandeln, ehe auf die prozessualen einzugehen ist. Denn über die
(Möglichkeit der) Klageerhebung (Grundfragen (1), (2) und (4)) ist erst dann zu
entscheiden, wenn ihre Erfolgsaussicht feststeht. Für die Anwaltsklausur gilt
daher als Faustregel: Prüfung der Begründetheit eines Begehrens (Anspruchs) vor der
Prüfung seiner Durchsetzbarkeit mittels Klage (Zulässigkeit einer Klage).
- "Richterklausur"
Muß in einer Klausur zu der Frage Stellung genommen werden, wie das Gericht einen
Rechtsstreit entscheidet, ist zu berücksichtigen, daß es zu einer Entscheidung in der
Sache nur kommen kann, wenn die Zulässigkeit einer Sachentscheidung feststeht
(Grundfragen (3) und (4)).
Daher gilt für die Richterklausur die Faustregel: Prüfung der Zulässigkeit der Klage
vor der Prüfung ihrer Begründetheit.
- "Rechtsmittelklausur"
Hier sind die Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs gegen eine gerichtliche Entscheidung
zu beurteilen.
Dabei sind aus der Sicht sowohl des Anwalts als auch des Richters zunächst die
Zulässigkeit des Rechtsmittels, also prozeßrechtliche Fragen, zu behandeln, weil nur
bei einer positiven Antwort die Erfolgsaussicht des Rechtsmittels Bedeutung erlangt
(Grundfragen (1) und (4)). Ist das Rechtsmittel zulässig, dann ist innerhalb der
Begründetheit des Rechtsmittels zu prüfen, ob das Ausgangsrechtsbehelf zulässig ist
(Grundfrage (3)).
- "Rechtslageklausur"
Während bei der Anwalts- und Richterklausur die zu bewertenden Sachverhalte jeweils
nur aus der Sicht eines der am Verfahren Beteiligten zu erörtern sind, ist dagegen,
wenn vom Bearbeiter eine Stellung zur Rechtslage verlangt wird, nicht nur die zu
erlassende Entscheidung des Gerichts darzustellen, sondern auch dazu Stellung zu nehmen,
welche verfahrensrechtlichen Möglichkeiten den Beteiligten (Parteien, Gericht, Dritte)
zur Verfügung stehen. Der Bearbeiter muß daher die mögliche Entwicklung der Prozeßlage
berücksichtigen, wie sie sich aufgrund möglicher (Prozeß-) Handlungen der Beteiligten
vollziehen kann, also die weitere Prozeßentwicklung vorausschauend beschreiben
(Grundfragen (1) bis (4)).
- Weitere Hinweise:
Aufbauregeln sind keineswegs systematisch und ausnahmslos anzuwenden. Im Einzelfall kann
es durchaus gute Gründe geben, von ihnen abzuweichen und einen anderen Aufbau zu wählen.
Es gibt nicht den Aufbau. Es gilt vielmehr das Prinzip der Zweckmäßigkeit. Entscheidend
ist, daß die zu bearbeitenden Probleme logisch stringent und rationell gelöst werden.
Vertiefende Hinweise zu Aufbaufragen finden sich bei
Schumann, E., Die ZPO-Klausur. 1981
Baumgärtel, G./Laumen, H.-W./Prütting, H., Der Zivilprozeßrechtsfall, 8. Aufl., 1995
Musielak, H. J., Grundkurs ZPO, 4. Aufl. 1998
II. Die wichtigsten zivilprozessualen Fragestellungen bis zum Ersten
Juristischen Staatsexamen
Bis zum Ersten Juristischen Staatsexamen stehen Fragen nach der Zulässigkeit einer
Klage sowie das Verhalten des Gerichts, der Parteien und von Dritten im Prozeß bzw.
bei sich ändernder Prozeßlage im Vordergrund.
- Ein Schwerpunkt dieser Arbeitsgemeinschaft liegt daher auf Sachverhalten, die die
Prüfung der Zulässigkeit einer Klage zum Gegenstand haben. Zur Zulässigkeit ist
gutachterlich Stellung zu nehmen, wenn
- nach den Erfolgsaussichten einer beabsichtigten Klage ("Anwaltsklausurklausur"), i.d.R. als "Nachfrage" zur materiellrechtlichen Klausur,
oder
- den Erfolgsaussichten der eingereichten Klage ("Richterklausur"), als "Vor- oder Nachfrage", zur materiellrechtlichen Klausur
gefragt ist.
Zu prüfen sind hier die sog. Sachentscheidungsvoraussetzungen.
Der Zivilprozeß zielt auf eine Entscheidung über die Begründetheit des geltend gemachten
Begehrens (oder prozessualen Anspruchs), eine sog. Sachentscheidung.
Es müssen aber bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, ohne deren Vorliegen eine
Entscheidung des Gerichts zur Sache ganz ausgeschlossen oder aber unzulässig ist, so
daß ein sog. Prozeßurteil ergehen muß.
Traditionell werden die Bedingungen für die Zulässigkeit einer Sachentscheidung als
Prozeßvoraussetzungen bezeichnet. Man ist sich aber einig, daß dieser Begriff die
Bedingungen eines Sachurteils nur ungenau umschreibt, weil ihr Vorliegen regelmäßig
nicht Voraussetzung für die Einleitung des Prozesses, sondern nur für dessen Entscheidung
in der Sache ist. Daher wird hier der Begriff der Sachentscheidungsvoraussetzungen
bevorzugt. Dieser ermöglicht es, sämtliche in Betracht kommenden Umstände
systematisierend zu erfassen, wobei man sich aber im Klaren sein muß, das dieser
Begriffsbestimmung nicht mehr als eine Ordnungsfunktion zukommt.
Sachentscheidungsvoraussetzungen sind:
- die Prozeßvoraussetzungen im eigentlichen Sinn, d.h die Bedingungen,
die erfüllt sein müssen, damit überhaupt ein Prozeß eingeleitet wird, d.h. das
angerufene Gericht einen Prozeßrechtsverhältnis mit dem Beklagten begründen darf.
- die Prozeßvoraussetzungen im weiteren Sinn, d.h. diejenigen allgemeinen
und besonderen Sachentscheidungsvoraussetzungen, die zwar nicht das Zustandekommen
eines Prozesses an sich hindern können, aber einer Sachentscheidung mit der Folge
entgegenstehen, daß die erhobene Klage als unzulässig abgewiesen werden muß, es sei
denn, das Gesetz ermöglicht die Heilung der fehlenden Voraussetzung oder sieht bei deren
Fehlen eine Verweisung vor.
I.d.R. sind die Prozeßvoraussetzungen i.w.S. unverzichtbare Sachentscheidungsvoraussetzungen,
d.h. sie müssen vom Gericht von Amts wegen geprüft werden.
- die sog. Prozeßhindernisse, d.h. die Bedingungen, die erst auf Einrede
(Rüge) des Beklagten hin eine Entscheidung in der Sache hindern.
Weil Prozeßhindernisse qua definitionem nicht von Amts wegen zu berücksichtigen und
zu prüfen sind, handelt es sich um verzichtbare Sachentscheidungsvoraussetzungen.
- Prozeßvoraussetzungen im eigentlichen Sinne sind:
- Ordnungsgemäße Klageschrift gem. § 253 Abs. 2 ZPO
- Deutsche Gerichtsbarkeit (z.B. §§18 bis 20 GVG)
- Funktionelle Zuständigkeit des Gerichts
- Bezahlung der Prozeßgebühr, § 65 GKG
- Prozeßvoraussetzungen im weiteren Sinne sind:
AA. Allgemeine Prozeßvoraussetzungen i.w.S.
- Ordnungsgemäße Klageerhebung (§§ 253 Abs. 1 und 2, 261 Abs. 1 ZPO)
- Prozeßvoraussetzungen i.w.S., welche das Gericht betreffen
1. Zuständigkeit
- Rechtswegzuständigkeit (§ 13 GVG)
- Internationale Zuständigkeit (EuGVÜ bzw. autonomes deutsches IZPR)
- Sachliche Zuständigkeit (§ 1 ZPO i.V.m. dem GVG)
- Örtliche Zuständigkeit (§§ 12 ff ZPO)
- Prozeßvoraussetzungen i.w.S. im Hinblick auf die Parteien
- Parteifähigkeit (§ 50 ZPO)
- Prozeßfähigkeit (§§ 51 ZPO) bzw. ordnungsgemäße gesetzliche Vertretung
- Prozeßführungsbefugnis (z.B. § 265 Abs. 2 ZPO)
- Prozeßvoraussetzungen i.w.S., welche den Streitgegenstand betreffen
- Klagbarkeit des geltend gemachten (prozessualen) Anspruchs
- Fehlende anderweitige Rechtshängigkeit (§ 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO)
- Fehlende anderweitige rechtskräftige Entscheidung mit derselben objektiven und subjektiven Reichweite (§§ 705, 322 ZPO)
- Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis
BB. Besondere Prozeßvoraussetzungen i.w.S.
Die besonderen Prozeßvoraussetzungen sind die Voraussetzungen besonderer Klage-
und Verfahrensarten, z.B.:
- hinsichtlich der Klage auf künftige Leistung (§§ 257 bis 259 ZPO)
- der Widerklage (§ 33 ZPO)
- der Zwischenfeststellungsklage und -widerklage (§ 256 Abs. 2 ZPO)
- des Urkundenprozesses (§ 592 ZPO)
- hinsichtlich der Abänderungsklage (323 ZPO)
- der Wiederaufnahmeklagen (§§ 597 ff ZPO)
- der Klageänderung (§§ 263, 264 ZPO)
- Prozeßhindernisse sind:
- Schiedseinrede (§ 1027a ZPO)
- Kostenerstattung (§ 269 Abs. 4 ZPO)
- Ausländersicherheit (§ 110 ZPO)
Sieht man von der Einzahlung des Prozeßkostenvorschusses ab, so läßt sich feststellen,
daß die unter die Prozeßvoraussetzungen im eigentliche Sinne fallenden Bedingungen das
Zustandekommen des Prozesses hindern können, anderenfalls aber auch im späteren
Stadium als Voraussetzung einer Sachentscheidung auftreten können. Behält man die
mögliche Wirkung dieser Bedingungen als eigentliche Prozeßvoraussetzung im Auge, so
ist es unschädlich und der Gesamtdarstellung förderlich, diese Bedingungen im Rahmen
der sonstigen Sachentscheidungsvoraussetzungen zu behandeln, um eine Doppeldarstellung
zu vermeiden.
Dann ergibt sich für die Zulässigkeit der Klage folgendes grobe Prüfungsschema:
Beachte:
Die nachfolgende Auflistung ist ein Leitfaden bezüglich der Prüfung der Zulässigkeit
der Klage, kein starres Prüfungsschema. Prüfungsschemata reflektieren kein in sich
geschlossenes doktrinäres System: der Aufbau hat sich an der zu bearbeitenden Fallfrage
zu orientieren, es gilt das Prinzip der Zweckmäßigkeit. Wichtig ist allein, daß der
gewählte Aufbau in sich schlüssig ist. Das Auswendiglernen fremder Aufbauschemata ist
daher sinnloses Pauken und deren stures Abarbeiten ein Zeichen mangelnden
Problembewußtseins. Obiges "Schema" dient daher lediglich der Orientierung. Gibt der
Sachverhalt zu bestimmten Prüfungspunkten nichts her, sind sie auch nicht "anzuprüfen"
(Worüber man nicht reden kann, darüber muß man schweigen!).
|