Wolfgang Vogelsang, LL.M (London)
wissenschaftlicher Assistent Lehrstuhl Prof. Dr. Stephan Lorenz ZPO-Erkenntnisverfahren 2. Arbeitsgemeinschaft Zulässigkeit der Klage
I
Fall 3: "Ein Freund, ein guter Freund..." (vgl. BGH NJW 1990, 1666) K behauptet, daß B ihm DM 12.000
aus Kaufvertrag schulde. Als diese die Warenlieferung bestreitet, erhebt
er am 08.03.2000 vor dem LG Augsburg Klage gegen B. Die Klageschrift wird
am 23.03.2000 nebst einer Ladung zum frühen ersten Termin am 04.05.2000
in der Wohnung der B an ihren Lebensgefährten T übergeben. Die
B hatte sich im Jahr 1998 von ihrem Ehemann getrennt und lebt seitdem mit
T und dessen minderjährigem Sohn zusammen. Im Dezember 1999 bezog
sie mit T und dessen Sohn die Wohnung, in der die Übergabe der Klageschrift
und Ladung stattfand. Dort führt T den gemeinsamen Haushalt, für
dessen finanzielle Bedürfnisse die berufstätige B sorgt. Da B
sich für zwei Wochen auf Geschäftsreise in Italien befindet,
unterrichtet T das Gericht am 24.03.2000 von diesem Sachverhalt.
Zu Recht?
Lösung: Das Gericht darf nur dann Versäumnisurteil gegen B erlassen, wenn die Klage zulässig, die B säumig und die Klage schlüssig ist (vgl, §§ 331, 332, 335 ZPO sowie AG VI).
Für den Gesetzgeber des ausgehenden 19. Jahrhunderts war indessen das Zusammenleben mehrerer Personen im selben Haushalt, die nicht durch Ehe oder Verwandtschaft miteinander verbunden sind, ein seltener und deshalb nicht regelungsbedürftiger Sachverhalt. Eine ausschließlich an der Entstehungsgeschichte orientierte Auslegung des § 181 I ZPO wäre daher nicht in der Lage, den seit Inkrafttreten der ZPO gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen und der in neuerer Zeit starken Zunahme von nichtehelichen Lebensgemeinschaften Rechnung zu tragen (ebenso BGH, NJW 1987, 1562). Sie würde auch zu dem wenig einleuchtenden Ergebnis führen, daß diese Vorschrift auf das Verhältnis von Pflegeeltern zu Pflegekindern nicht anzuwenden wäre (zutr. OLG Celle, FamRZ 1983, 202, 203; OVG Hamburg, NJW 1988, 1807). Auf Kriterien sittlich-moralischer Art oder die Wahrung familienrechtlicher, durch Art. 6 I GG besonders geschützter Belange kommt es bei der Auslegung dieser Vorschrift ohnehin nicht an (BGH, aaO unter 3 c). b) Sinn und Zweck des § 181 I ZPO legen es nahe, dem Merkmal der familienrechtlichen Verbundenheit keine ausschlaggebende Bedeutung beizumessen. Mit dieser Vorschrift wollte der Gesetzgeber den Zugang zustellungsbedürftiger Schriftstücke durch Aushändigung an solche Personen ermöglichen, von denen nach der Lebenserfahrung zu erwarten ist, daß sie wegen ihres nach außen zum Ausdruck gebrachten Vertrauensverhältnisses zum Empfänger die Sendung diesem aushändigen werden (so z. B. Zöller-Stephan, ZPO, 15. Aufl., § 181 Rdnr. 4). Entscheidend muß deshalb in erster Linie das Bestehen eines solchen Vertrauensverhältnisses und nicht die Frage sein, ob das Verhältnis eine familienrechtliche Grundlage hat. Davon ist auch das RG ausgegangen, als es das in der zweiten Alternative des § 181 I ZPO ebenfalls vorausgesetzte Merkmal der Familienzugehörigkeit restriktiv interpretiert und sowohl die Ersatzzustellung an die Haushälterin eines alleinstehenden Junggesellen trotz Fehlens einer Familie unbedenklich für zulässig erachtet als auch entschieden hat, eine "in der Familie dienende Person" könne eine stundenweise beschäftigte Zugehfrau sein, die nicht mit der Familie zusammenlebt (RG, JW 1937, 1663). Diese Entscheidung, die eine auf Dauer angelegte Tätigkeit im Hauswesen des Zustellungsempfängers als ausschlaggebendes Kriterium für die Zulässigkeit der Ersatzzustellung wertet, ist in Rechtsprechung und Schrifttum auf einhellige Zustimmung gestoßen (z. B. BayVerfGH, RPfleger 1964, 75); auch der 1. Strafsenat (unter 3 c) zitiert sie zustimmend. Umsoweniger vermag sich der erkennende Senat der Auffassung des 1. Strafsenates anzuschließen, der nichteheliche Lebensgefährte biete nicht die gleiche Gewähr wie ein Familienangehöriger für die zuverlässige Aushändigung des zugestellten Schriftstückes. Eine eheähnliche Gemeinschaft mit gemeinsamer Haushaltsführung begründet ein Vertrauensverhältnis unter den Partnern, das die Erwartung zuverlässiger Weitergabe des Schriftstücks nicht weniger rechtfertigt als in den zu § 181 I ZPO bisher anerkannten Fällen. Dazu bedarf dieses Verhältnis nicht der Verstärkung, die hier darin liegt, daß zusätzlich eine familienähnliche Verbindung des Bekl. zu den Kindern seiner Lebensgefährtin bestand. c) Allerdings teilt der erkennende Senat die Ansicht des 1. Strafsenates, daß nur derjenige als zur Familie gehörender Hausgenosse angesehen werden kann, der aufgrund objektiver und eindeutiger Kriterien als solcher erkennbar ist. Derartiger Kriterien bedarf weniger das über die Wirksamkeit einer Zustellung später entscheidende Gericht, sondern - angesichts der großen praktischen Bedeutung dieser Art der Ersatzzustellung und der oft einschneidenden Auswirkungen einer Zustellung - in erster Linie die Person, die die Zustellung ausführt. Solche, gegebenenfalls leicht feststellbaren Kriterien sind auch in den hier interessierenden Fällen vorhanden (ebenso Mayer-Rang, NJW 1988, 811). Kennt derjenige, der die Zustellung ausführt, die Beziehung des Adressaten zu dem in der Wohnung Angetroffenen nicht und wird sie ihm auch nicht unaufgefordert genannt, muß der Zusteller die Voraussetzung einer Ersatzzustellung in jedem Fall durch Befragen des Angetroffenen ermitteln. Dabei erscheint für die Beteiligten die Frage nach ständigem Zusammenleben als einer besonderen Form der Hausgenossenschaft nicht unzumutbarer oder aufdringlicher als diejenige nach Ehe oder Verwandtschaft. Wer sittliche Bedenken gegen ein nichteheliches Zusammenleben entweder nicht teilt oder sich darüber hinwegsetzt und ein eheähnliches Verhältnis eingeht, kann die darauf gerichtete Frage eines Briefträgers oder Gerichtsvollziehers, die ersichtlich nicht persönlicher Neugier entspringt, sondern die richtige Anwendung einer Gesetzesvorschrift sicherstellen soll, nicht als unzumutbar empfinden. Dasselbe gilt für die in Fällen der vorliegenden Art weiter erforderliche Frage, ob noch Verwandte des Adressaten oder der Empfangsperson in der Wohnung leben. 3. Diesem Ergebnis hält die Revision vergebens entgegen, es berücksichtige nicht das sich aus Art. 103 I GG ergebende Recht jeder Partei, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt vor deren Erlaß äußern zu können (BVerfG, NJW 1988, 2361). Auch die Zustellungsvorschriften dienen zwar der Verwirklichung dieses Rechts (BVerfG, NJW 1988, 2361). Das mag dazu führen, daß in Fällen, in denen die Wirksamkeit der Zustellung von besonderen Umständen des Einzelfalles abhängt, im Lichte dieses Grundrechts im Zweifel eine unwirksame Zustellung anzunehmen ist. Daraus folgt aber nicht, daß bei der Anwendung einer verfassungsrechtlich unbedenklichen Zustellungsvorschrift auf einen typischen, häufig wiederkehrenden Lebenssachverhalt eine restriktive, zur Unwirksamkeit der in Frage stehenden Zustellung führende Auslegung von Verfassungs wegen geboten ist. Abgesehen hiervon verbessert gerade die Anwendung des § 181 ZPO auf eheähnliche Lebensgemeinschaften die Zugangsmöglichkeit nichtehelicher Lebenspartner zu Gericht. Denn an Stelle einer nicht durchführbaren Ersatzzustellung nach § 181 ZPO wird es in der Regel, von der nur selten gegebenen Möglichkeit der Zustellung im Geschäftslokal (§ 183 ZPO) abgesehen, zu einer Ersatzzustellung durch Niederlegung (§ 182 ZPO) kommen, die - angesichts der Gefahr, daß die Nachricht über die Niederlegung verloren geht oder ihre Bedeutung nicht erkannt wird - mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist und deshalb nur in geringerem Maß die Gewähr bietet, daß die Zustellung den Adressaten tatsächlich erreicht. Eine Ersatzzustellung nach § 181 ZPO verschafft dem Adressaten schließlich den Vorteil, daß er Nachlässigkeiten oder Versäumnisse der Empfangsperson bei der Aushändigung des zugestellten Schriftstücks leicht nachweisen und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erreichen kann, der nur eigenes Verschulden entgegenstehen würde. FN 1: Roth, JZ 1990, 761, 762; Stein/Jonas/Roth, § 181 Rdnr. 13; Zöller/Stöber, § 181 Rdnr. 10; OLG Celle, FamRZ 1983, 202 (Verlobte); OVG Hamburg NJW 1988, 1807 (gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft)(zurück). FN 2: So Musielak/Wolst, § 181 Rdnr. 5 m.w.N. (zurück). FN 3: Roth, JZ 1990, 761, 762 (zurück). |