Zu Artikel 2 Nr. 4
Nach den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie kann es mittlerweile als gesichert gelten, dass Kinder auf Grund ihrer physischen und psychischen Fähigkeiten regelmäßig frühestens ab Vollendung des 10. Lebensjahres imstande sind, die besonderen Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs zu erkennen, und sich den erkannten Gefahren entsprechend zu verhalten. Dies liegt zum einen an den körperlichen Bedingungen, auf Grund derer es Kindern bis zum 10. Lebensjahr nicht möglich ist, Entfernungen und Geschwindigkeiten richtig einzuschätzen. Zum anderen stehen kindliche Eigenheiten wie Lauf- und Erprobungsdrang, Impulsivität, Affektreaktionen, mangelnde Konzentrationsfähigkeit und gruppendynamisches Verhalten oft einem verkehrsgerechten Verhalten entgegen.

Hieraus zieht der Entwurf mit dem neuen § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB die Konsequenz und setzt die Deliktsfähigkeit für Schäden, die einem anderen bei Unfällen im motorisierten Straßen- oder Bahnverkehr zugefügt werden, auf das vollendete 10. Lebensjahr herauf. Kinder bis zum vollendeten 10. Lebensjahr werden damit einerseits von einer Haftung für von ihnen verursachte Unfallschäden befreit. Sie müssen sich andererseits ihren eigenen Ansprüchen, gleichviel ob sie aus allgemeinem Deliktsrecht hergeleitet werden oder aus den Gefährdungshaftungstatbeständen des StVG oder des HPflG, ein Mitverschulden bei der Schadensverursachung nicht entgegenhalten lassen. Denn § 828 BGB ist auch für die Frage des Mitverschuldens nach § 254 BGB maßgeblich (BGH NJW 1962, 1065, Mertens, in Münchener Kommentar, § 828, Rdnr. 2), der über die entsprechenden Verweisungsnormen (§ 9 StVG, § 4 HPflG) auch für die sondergesetzlichen Gefährdungshaftungen gilt. Ergänzt wird diese Neuregelung der Deliktsfähigkeit für den motorisierten Verkehr durch eine Änderung des § 7 Abs. 2 StVG und des § 1 Abs. 2 HPflG (vgl. dazu Begründung zu Artikel 4 Nr. 1b und Artikel 5 Nr. 1): Mit der Ersetzung des Einwands eines „unabwendbaren Ereignisses“ durch den Einwand „höherer Gewalt“ wird insbesondere bei einer Unfallbeteiligung von Kindern sichergestellt, dass die durch den neuen § 828 Abs. 2 BGB bewirkte Verbesserung der Haftungssituation von unfallbeteiligten Kindern nicht durch den Unabwendbarkeitsnachweis nach § 7 Abs. 2 StVG bzw. § 1 Abs. 2 HPflG i. V. m. § 7 Abs. 2 StVG wieder konterkariert wird. Unberührt bleibt nach wie vor die Gefährdungshaftung des Kindes als Halter eines Kraftfahrzeugs oder als Bahnbetriebsunternehmer. Da es hierfür auf Zurechnungsfähigkeit und Verschulden nicht ankommt, ist § 828 BGB nicht anwendbar (Soergel-Zeuner, vor § 827, Rdnr. 2; Hofmann, NJW 1964, 228).

Anders als im Entwurf eines 2. Schadensersatzrechtsänderungsgesetzes aus der 13. Legislaturperiode wurde als Standort dieser Regelung das allgemeine Deliktsrecht gewählt. Diese Systematik folgt einem entsprechenden Vorschlag des Bundesrates aus dem damaligen Gesetzgebungsverfahren (Bundestagsdrucksache 13/10766) und des Verkehrsgerichtstages 1998. Der damalige Entwurf implementierte diese Regelungen in die spezialgesetzlichen Konkurrenzregelungen zum allgemeinen Deliktsrecht (§ 16 StVG und § 12 HPflG). Diese erhielten hierdurch indes einen eigenständigen materiellen Gehalt, der auch noch außerhalb dieser spezialgesetzlichen Haftungssysteme lag, da die Änderung der Deliktsfähigkeit nicht die dort normierte Halter- bzw. Betriebsunternehmerhaftung, sondern ausschließlich die Haftung nach allgemeinem Deliktsrecht tangiert. Relevanz kann die Änderung der Deliktsfähigkeit in diesen Haftungssystemen allenfalls im Rahmen des Mitverschuldens erlangen. Um dies zu gewährleisten, bedarf es aber wegen der Maßgeblichkeit des § 828 BGB für das Mitverschulden (§ 254 BGB) und die bereits in den Sondergesetzen vorhandenen Verweisungsnormen keiner weiteren Aufnahme in diese Vorschriften.

In seiner Terminologie lehnt sich der neue § 828 Abs. 2 BGB an die Terminologie der Haftungsnormen des Straßenverkehrsgesetzes und des Haftpflichtgesetzes an. So wird die Deliktsfähigkeit nur für solche Schäden heraufgesetzt, die aus einem Unfall herrühren, der sich mit einem Kraftfahrzeug, einer Schienen- oder Schwebebahn ereignet hat, und die von dem Kind verursacht oder mitverursacht wurden. Damit soll die Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit auf im motorisierten Straßen- oder Bahnverkehr plötzlich eintretende Schadensereignisse begrenzt werden, bei denen die altersbedingten Defizite eines Kindes, wie z. B. Entfernungen und Geschwindigkeiten nicht richtig einschätzen zu können, regelmäßig zum Tragen kommen. Außerhalb dieses Bereichs, z. B. auch im nicht motorisierten Verkehr, sind die Anforderungen, denen das Kind ausgesetzt ist, im Allgemeinen geringer. Das Kind wird auf Grund seiner altersbedingten Defizite seltener überfordert sein. Daher erscheint auch eine generelle Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit nach Absatz 2 nicht notwendig.

Anders als der Entwurf des 2. Schadensersatzrechtsänderungsgesetzes aus der 13. Legislaturperiode dies vorsah, wird die Deliktsfähigkeit indes dann nicht auf das vollendete 10. Lebensjahr heraufgesetzt, wenn das Kind die Verletzung vorsätzlich herbeigeführt hat (Absatz 2 Satz 2). Diese Ausnahme greift einen Vorschlag des Bundesrates (Bundesratsdrucksache 13/10766) und zahlreicher weiterer Stellungsnahmen aus dem damaligen Gesetzgebungsverfahren auf, die teils für absichtliches, teils für vorsätzliches schadensstiftendes Verhalten eine Ausnahme forderten. Damit soll klargestellt werden, dass der Haftungsausschluss nicht Fälle erfassen soll, in denen z. B. ein Neunjähriger von einer Autobahnbrücke Steine auf fahrende Autos wirft. Denn solche Fälle haben nichts mit der eingangs beschriebenen Überforderungssituation zu tun, denen sich Kinder im Straßenverkehr oft ausgesetzt sehen. Nicht altersbedingte Defizite bei der Einschätzung von Entfernungen und Geschwindigkeiten bei der Teilnahme am Verkehr sind hierfür relevant, sondern ein bewusst und gewollt verkehrsfremdes und offensichtlich zu Schäden führendes Verhalten, das auch von einem Neunjährigen als solches erkannt werden kann. Ob dieser Gesichtspunkt die Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit für absichtlich herbeigeführte oder für vorsätzlich herbeigeführte Verletzungen deliktisch geschützter Rechtsgüter ausschließen sollte, ist in den Stellungnahmen zu dem Entwurf des 2. Schadensersatzrechtsänderungsgesetzes aus der 13. Legislaturperiode unterschiedlich beurteilt worden: Während etwa der Bundesrat in seiner Stellungnahme (Bundesratsdrucksache 13/10766, S. 5) für die Herausnahme absichtlichen Verhaltens eintrat, sprach sich etwa der Deutsche Anwaltverein (AnwBl. 1998, 329) für die Herausnahme vorsätzlichen Verhaltens aus. Die Bundesregierung hat sich für Letzteres entschieden. Maßgeblich dafür war zum einen, dass bereits bei vorsätzlicher und nicht erst bei absichtlicher Verletzung deliktisch geschützter Rechtsgüter die Überforderungssituation des Kindes im motorisierten Verkehr nicht mehr in dem Maße schadensursächlich ist, dass eine generelle Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit geboten erscheint. Zum anderen kennt das Schuldrecht, speziell das Deliktsrecht – anders als das Strafrecht – jedenfalls im geschriebenen Recht eine Differenzierung zwischen vorsätzlichem und absichtlichem Handeln bisher nicht. Vielmehr wird im Rahmen des Verschuldens grundsätzlich nur zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit als Schuldformen unterschieden (§ 276 BGB). Und nur für die Verschuldensform des Vorsatzes gibt es spezielle (Haftungs-)Tatbestände (z. B. § 826 BGB). Diese Systematik sollte nicht ohne hinreichenden Grund durchbrochen werden.

Nach Einfügung der speziellen Deliktsfähigkeit im motorisierten Verkehr in den neuen Absatz 2 wird der bisherige Absatz 2 nunmehr Absatz 3. Die Änderung seinesWortlauts ist durch den neuen Absatz 2 bedingt. Absatz 3 greift nur ein, wenn die Deliktsfähigkeit nicht bereits nach Absatz 1 oder 2 ausgeschlossen ist.

Mit der Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit für Kinder bei Unfallen im motorisierten Straßen- und Bahnverkehr wird zugleich die Sonderregelung der Deliktsfähigkeit für Gehörlose nach § 828 Abs. 2 Satz 2 gestrichen. Damit kommt die Bundesregierung einer Forderung von Behinderten- und Gehörlosenverbänden nach. Von diesen wurde kritisiert, dass die Vorschrift einen diskriminierenden Charakter habe, da sie Gehörlose unabhängig von ihrem Alter Minderjährigen im Alter zwischen 7 und 18 Jahren gleichstellt. Damit wird der unzutreffende Eindruck erweckt, dass Gehörlose auch im Bezug auf ihre intellektuellen Fähigkeiten nur Minderjährigen gleichstünden. Da es keinen überzeugenden Grund für einen solchen Sondertatbestand für Gehörlose gibt, soll die Vorschrift trotz ihrer ursprünglichen Zielrichtung als Schutzvorschrift entfallen. Im 19. Jahrhundert, als die Vorschrift des § 828 Abs. 2 Satz 2 entstand, hielt man Gehörlose für so schwer in ihrer Entwicklung beeinträchtigt, dass eine besondere Regelung der Deliktsfähigkeit für notwendig gehalten wurde. Diese Erwägung ist aus heutiger Sicht antiquiert und geht, wie auch ein Blick in die Bildungsstatistik zeigt, an den gesellschaftlichen Realitäten unserer Zeit vorbei. Auch im Hinblick auf die körperliche Beeinträchtigung ist nicht erkennbar, warum gerade die Gruppe der Gehörlosen einer haftungsrechtlichen Privilegierung bedürfte, die das Gesetz anderen Gruppen von Behinderten verwehrt. Es ist nicht zu erwarten, dass die vorgesehene Streichung zu einer ungerechtfertigten Schlechterstellung von Gehörlosen führen wird: Zum einen wird die haftungsrechtliche Privilegierung schon jetzt durch die Billigkeitshaftung nach § 829 eingeschränkt. Zum anderen erlaubt das Haftungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs auch nach Streichung des § 828 Abs. 2 Satz 2 die besonderen Verhältnisse von Gehörlosen zu berücksichtigen: Bei der Feststellung des Verschuldens wird zwar grundsätzlich ein objektiver Maßstab angelegt und nicht auf die besonderen Verhältnisse des Einzelnen abgestellt. Dieser objektive Maßstab wird jedoch gruppenbezogen ermittelt, so dass sich Besonderheiten einer Gruppe auf die Bewertung auswirken. Behinderte Menschen werden insoweit von der Rechtsprechung als besondere Gruppe anerkannt.