Zur Neufassung des § 275
Vorbemerkung
Nach § 241 Abs. 1 verpflichtet ein Schuldverhältnis den
Schuldner, eine Leistung zu bewirken. Die Erfüllung seiner Pflicht kann für den
Schuldner mit Schwierigkeiten verbunden sein, die zu der Frage führen, ob es
gerechtfertigt ist, den Schuldner an der Verpflichtung festzuhalten. Dabei
ergeben sich zunächst zwei Probleme:
1. Welche
Erschwernisse muss der Schuldner hinnehmen, so dass er noch an seine
Primärleistungspflicht gebunden bleibt? Wann wird er von dieser Pflicht
befreit?
2. Wird der Schuldner von der
Primärleistungspflicht ohne weiteres (ipso iure) frei oder bedarf es dazu einer
Handlung des Schuldners (insbesondere der Erhebung einer Einrede)?
Ist der Schuldner von seiner Primärleistungspflicht befreit, so stellt sich die weitere Frage, ob dies ersatzlos geschieht oder ob an die Stelle der Primärleistungspflicht die Sekundärleistungspflicht tritt, dem Gläubiger Schadensersatz wegen Nichterfüllung zu leisten. Schließlich kann fraglich sein, ob der Gläubiger auch von sich aus den Übergang auf eine Sekundärleistungspflicht bewirken kann, ohne dass die Voraussetzungen für eine Befreiung des Schuldners von der Primärleistungspflicht vorliegen. Im geltenden Recht beantwortet § 275 diese Fragen unter 1. und 2: Die Primärleistungspflicht des Schuldners endet erst beim nachträglichen Eintritt von (objektiver oder subjektiver) Unmöglichkeit. Diese selbst wird damit zu einem Zentralbegriff des Rechts der Leistungsstörungen. Auch soll die Primärleistungspflicht ipso iure enden; es bedarf dazu also keiner Berufung des Schuldners auf die Unmöglichkeit. Die sich an § 275 anschließenden Vorschriften über Leistungsstörungen - ein Kernstück des Schuldrechts - beschäftigen sich zu einem Gutteil damit, unter welchen Voraussetzungen die Primärleistungspflicht in eine Sekundärleistungspflicht übergeht. Der Hauptmangel des geltenden Rechts besteht in der Heraushebung der Unmöglichkeit (neben dem Schuldnerverzug) als eine der beiden Säulen des Rechts der Leistungsstörungen. Hierdurch ist insbesondere die von der h. M. angenommene Regelungslücke entstanden, die üblicherweise durch die im allgemeinen Schuldrecht nicht vorgesehene positive Forderungsverletzung gefüllt wird. Die Fragwürdigkeit der zentralen Rolle der Unmöglichkeit im Bürgerlichen Gesetzbuch ist schon 1907 von Ernst Rabel hervorgehoben worden (Die Unmöglichkeit der Leistung). Speziell der bisherige § 275 ist insofern missglückt, als er die Frage nach der Befreiung des Schuldners mit dem Vertretenmüssen verknüpft. Richtigerweise ist das Vertretenmüssen für den Fortbestand der Primärleistungspflicht ohne Bedeutung: Was der Schuldner nicht leisten kann, das schuldet er auch nicht, und zwar unabhängig von dem Grund seiner Unfähigkeit.
Man kann § 275 auch nicht in dem Sinn verstehen (und dann für richtig halten wollen), als regele er das vollständige Freiwerden des Schuldners auch von sekundären Leistungspflichten. Denn ein solches Verständnis trifft ebenfalls nicht zu: Etwa erlangte Surrogate für die primär geschuldete Leistung hat der Schuldner auch ohne Vertretenmüssen an den Gläubiger abzuführen (§ 281).
Verbesserungswürdig ist die Beschränkung des bisherigen § 275 auf die (objektive und subjektive) Unmöglichkeit. Denn diese Beschränkung bringt den wirklichen Anwendungsbereich der Entlastungsregel nur unvollständig zum Ausdruck: Das Vorliegen von echter (physischer) Unmöglichkeit ist durch die Fortschritte der Technik wesentlich eingeengt worden. So kann man heute gesunkene Schiffe auffinden und heben oder Berge versetzen.
Dass solche Maßnahmen technisch möglich sind, sagt aber noch nicht, dass sie auch geschuldet werden, wo sie eine Voraussetzung für die Leistung bilden. Vielmehr ist hierüber unter rechtlichen Gesichtspunkten durch Auslegung des Versprechens zu entscheiden: Wer bloß eine Maschine zu liefern versprochen hat, braucht zur Erfüllung dieser Lieferungspflicht regelmäßig nicht das Schiff zu heben, mit dem die Maschine versunken ist. Wer dagegen das Schiff zu heben versprochen hat, wird regelmäßig nicht durch Schwierigkeiten entlastet, die dieser Hebung entgegenstellen. Tatsächlich haben sich Praxis und Lehre über die Beschränkung des § 275 (und seiner Folgevorschriften) auf wirkliche Unmöglichkeit längst hinweggesetzt: Die Vorschrift wird auch auf die sog. faktische Unmöglichkeit angewendet; eine weitere Ausdehnung auf die sog. wirtschaftliche Unmöglichkeit oder das Überschreiten der Opfergrenze ist umstritten. Andere ähnliche Entlastungsgründe, etwa wegen einer Unzumutbarkeit aus Gewissensgründen oder wegen Mängeln der Geschäftsgrundlage, haben sich bei § 242 angesiedelt.
Fraglich ist weiter die Beschränkung des § 275 auf die nachträgliche Unmöglichkeit. Denn auch eine Leistung, der schon anfänglich ein unüberwindliches Hindernis entgegensteht, braucht der Schuldner nicht zu erbringen. Das geltende Recht erklärt freilich den auf eine anfänglich objektiv unmögliche Leistung gerichteten Vertrag für nichtig, § 306; das bedeutet zugleich eine Befreiung des Schuldners von seiner Leistungspflicht. Aber wenn - wie geplant - diese Vorschrift gestrichen wird, muss die Befreiung des Schuldners von schon anfänglich unmöglichen Primärleistungspflichten in § 275 geregelt werden. Die Erweiterung der Vorschrift sollte dann aber nicht - wie derzeit § 306 - auf die anfängliche Unmöglichkeit beschränkt bleiben. Ob die Leistung noch einem Dritten möglich ist, kann sinnvollerweise nicht darüber entscheiden, ob gerade der Schuldner sie erbringen muss: Dessen Befreiung sollte vielmehr nur davon abhängen, ob er selbst die Leistung zu erbringen vermag. Ungenau ist weiter, dass § 275 bisher auf Schulden jeden Inhalts und damit auch auf Geldschulden anwendbar zu sein scheint. Denn es bildet einen anerkannten Grundsatz des geltenden Rechts, dass Geldmangel den Schuldner nicht entlastet. Dies ergibt sich schon daraus, dass der Geldmangel zumindest regelmäßig erst im Vollstreckungs- und im Insolvenzverfahren beachtet wird.
Rechtspolitisch zweifelhaft ist endlich auch, dass § 275 derzeit die Befreiung des Schuldners von seiner unmöglich gewordenen Primärleistungspflicht ipso iure eintreten lässt. Denn der Unmöglichkeitsgrund liegt regelmäßig im Bereich des Schuldners; der Gläubiger braucht davon nichts zu wissen. Deshalb liegt es nahe, den Schuldner in irgendeiner Form zur Berufung auf das Leistungshindernis zu veranlassen.
Zu Satz 1
Die Unmöglichkeit soll ihre zentrale Position im Recht der Leistungsstörungen verlieren. Als Oberbegriff, der alle Arten der Leistungsstörungen umfasst, soll der Begriff der "Pflichtverletzung" eingeführt werden (vgl. § 280). Wohl aber bedarf es auch in Zukunft einer Grenze für die Primärleistungspflicht des Schuldners. Diese Grenze wird - in Anlehnung an die gewohnte Reihenfolge der Paragraphen - in § 275 geregelt. Dabei wird aber nicht auf die Unmöglichkeit abgestellt. Vielmehr soll das Schuldverhältnis maßgeblich sein: Dieses muss die Anstrengungen bestimmen, die der Schuldner zur Erbringung der Leistung zu unternehmen hat. Als Maßstab hierfür erscheinen wieder - wie schon in § 241 Abs. 2 Satz 1 - "Inhalt und Natur des Schuldverhältnisses". Dieser Begriffskombination ist der Vorzug zu geben vor der auch als Maßstab denkbaren "Unzumutbarkeit" der Leistung für den Schuldner. Der Maßstab der Unzumutbarkeit soll aber über die Beachtlichkeit einer Störung der Geschäftsgrundlage (§ 307) und über ein Recht zur Kündigung aus wichtigem Grunde bei Dauerschuldverhältnissen (§ 308) entscheiden. Von diesen Vorschriften grenzt sich § 275 also terminologisch ab. Dabei unterscheiden sich bei "Inhalt und Natur des Schuldverhältnisses" und bei "Unzumutbarkeit" die Beurteilungskriterien im Ansatzpunkt recht deutlich: Die erste Formulierung geht vom Schuldverhältnis aus, die zweite dagegen von der Person des Schuldners. Beide Ansatzpunkte können zu verschiedenen Ergebnissen führen: Das Schuldverhältnis kann den Schuldner auch zu Anstrengungen verpflichten, die ihm unzumutbar sind; umgekehrt kann das Schuldverhältnis für den Schuldner auch eine Opfergrenze ziehen, deren Überschreitung ihm nicht in jedem Fall unzumutbar sein muss.
Abgesehen von diesen Abgrenzungsfragen sollen die §§
307, 308 dem § 275 vorgehen. Insbesondere soll also vorrangig die Anpassung
eines gestörten Vertrags versucht werden. Ist diese Anpassung nicht möglich oder
nicht zumutbar, kommt ein Rücktritt oder eine Kündigung nach § 307 Abs. 3 in
Betracht.
Die eben erörterte Anknüpfung an die "nach
Inhalt und Natur des Schuldverhältnisses geschuldeten Anstrengungen" umfasst
neben der echten Unmöglichkeit auch weitere Tatbestände. Damit können
Schwierigkeiten sowohl für den Gläubiger als auch für den Richter auftreten:
Beide können das Vorliegen solcher weiterer Entlastungsgründe noch schwerer
überblicken als das Vorliegen von Unmöglichkeit. Daher ist die Entlastung des
Schuldners als Einrede gestaltet: Der Schuldner soll sich auf das ihn
entlastende Hindernis und auf seinen Willen zur Entlastung berufen müssen.
Übrigens dürfte das auch derzeit in den nicht ganz klaren Unmöglichkeitsfällen
praktisch schon ebenso gehandhabt werden: Etwa eine Leistungsbefreiung wegen
Unerschwinglichkeit oder aus Gewissensgründen wird der Richter kaum annehmen,
wenn der Schuldner sie nicht selbst geltend macht. Bei gegenseitigem Verträgen
ist überdies an den Zusammenhang der Leistungspflicht mit der Pflicht zur
Gegenleistung zu denken: Ob der Schuldner durch die Berufung auf seine
Entlastung den Anspruch auf die Gegenleistung opfern will, sollte er selbst
entscheiden. Zu Schwierigkeiten könnte die "Einredelösung" am ehesten bei
Säumnis des verklagten Schuldners führen. Soweit sich das Erheben der Einrede
nicht bereits aus dem Vortrag des Klägers entnehmen lässt, mag der Richter in
den Fällen evidenter Unmöglichkeit eine unzulässige Rechtsausübung des Klägers
annehmen oder schon das Rechtsschutzbedürfnis verneinen. Im übrigen wird es sich
hierbei aber nur um Schulfälle ohne praktische Bedeutung handeln.
Dagegen erscheint eine besondere Vorschrift unnötig, nach welcher der Schuldner etwa bei ihm vorliegende oder auftretende Leistungshindernisse dem Gläubiger mitteilen muss. Denn hier geht es um das bloße Vorfeld der Leistung, und für dieses wird das Pflichtenprogramm auch sonst im Gesetz nicht formuliert. Dass dem Schuldner durch eine zu vertretende Verletzung diese (in der Sache zu bejahende) Pflicht zum Schadensersatz auferlegt wird, ergibt sich ohnehin aus § 280, ggf. in Verbindung mit § 305 Abs. 2. Hierhin gehört insbesondere auch der Fall, dass der Schuldner den Befreiungsgrund erst nach Ablauf einer für Ersatzansprüche bestehenden Frist geltend macht.
Schließlich sieht der Entwurf vor, durch den Eingangssatz des § 275 die Geldschuld ausdrücklich von der Vorschrift auszunehmen. Damit wird nur der im geltenden Recht anerkannten Regel Rechnung getragen, dass ein Geldschuldner nicht deshalb entlastet ist, weil er das zur Leistung nötige Geld nicht hat: Andernfalls wäre das gesamte kunstvolle Insolvenzrecht gegenstandslos. Eine Entlastung des Geldschuldners kann daher vom materiellen Recht her nur unter besonderen Umständen und nicht schon wegen Unvermögens erfolgen; als rechtliches Mittel hierfür eignet sich vor allem § 307 über Störungen der Geschäftsgrundlage. Zudem passt für die primäre Geldschuld der bei anderen Schuldinhalten sinnvolle Übergang in eine Sekundärleistungspflicht auf Schadensersatz nicht: Diese könnte ja regelmäßig gleichfalls nur wieder auf Geld gerichtet sein, so dass der Schuldner vor den gleichen Schwierigkeiten stünde.
Zu Satz 2
Satz 2 ordnet die Anwendung der Vorschriften an, welche die durch eine Pflichtverletzung ausgelösten Sekundäransprüche betreffen. Er stellt damit klar, dass auch die durch eine Einrede gedeckte Nichtleistung eine Pflichtverletzung sein und Sekundäransprüche auslösen kann. Ohne diese Klarstellung liegt der Gedanke nicht fern, dass der Schuldner, der sich zu Recht auf die Einrede des Satzes 1 beruft, keine Pflicht aus dem Schuldverhältnis verletzt. Satz 1 bestimmt in diesen Fällen nämlich gerade, dass der Schuldner zur Verweigerung der Leistung berechtigt ist und ihn - so könnte man meinen - deshalb keine Verpflichtung zur Leistung trifft, die er verletzen könnte. In diesem Sinne ist die Pflichtverletzung, die in den §§ 280, 282, 323 genannt ist, jedoch nicht gemeint. Vielmehr bezeichnet dieser Begriff dort allein den Umstand, dass der Schuldner seine Verpflichtung aus dem Schuldverhältnis nicht erfüllt. Der Verkäufer einer Sache zum Beispiel ist zu deren Übereignung und Übergabe verpflichtet. Geht die Sache vor Übereignung unter, so muss der Verkäufer seiner kaufvertraglichen Pflicht zur Übereignung der Sache zwar nicht mehr nachkommen - an dem objektiven Befund, dass der Vertrag nicht so, wie vereinbart, durchgeführt wird, ändert dies jedoch nichts.