Prof. Dr. Jörg Neuner
Prof. Dr. Stephan Lorenz
Tutorium Sachenrecht WS 2000/2001



Die Grundstrukturen des
gutgläubigen Erwerbs im Sachenrecht


  1. Dogmatische Grundlagen

    1. Die ratio legis
    2. Die Lehre vom Rechtsschein

      1. Hauptanwendungsfälle

        1. Der gutgläubige Erwerb (vgl. z.B. §§ 892, 932, 2366 BGB)
        2. Die Liberationsfunktion (vgl. z.B. §§ 407, 851, 893, 2367 BGB; §§ 25 Abs. 1 S. 2, 28 Abs. 1 S. 2 HGB; bereicherungsrechtlicher Ausgleich jeweils gem. § 816 Abs. 2 BGB)
        3. Die Geschäfte mit Scheinvertretern (vgl. z.B. §§ 170 ff. BGB, §§ 15 Abs. 1, 15 Abs. 3, 56 HGB, Duldungs- und Anscheinsvollmacht)
      2. Allgemeine Voraussetzungen

        1. Der Vertrauenstatbestand
          • Künstliche (d.h. durch Gesetz geschaffene) Vertrauensträger: z.B. Register, Erbschein
          • Natürliche Vertrauensträger: z.B. mündliche Erklärungen, konkludentes Verhalten, Urkunden
        2. Die Schutzwürdigkeit des Vertrauenden
          aa) Guter Glaube
          • Künstliche Vertrauensträger: Ausschluß nur bei positiver Kenntnis (vgl. z.B. §§ 68 S. 1, 892, 1412 Abs. 1 S. 1, 2366, 15 Abs. 1, 15 Abs. 3 HGB)
          • Natürliche Vertrauensträger: Ausschluß idR bereits bei leichter (vgl. z.B. § 173 BGB) bzw. grober Fahrlässigkeit (vgl. z.B. § 932 Abs. 2 BGB)
          bb) Kausalität zwischen Vertrauen und Disposition
          • Künstliche Vertrauensträger: abstrakter Vertrauensschutz (nach h.M. keine Kenntnis des Vertrauenstatbestandes notwendig; vgl. z.B. § 2366 BGB, § 15 Abs. 1 HGB)
          • Natürliche Vertrauensträger: Konkreter Kausalzusammenhang notwendig
        3. Die Zurechenbarkeit des Rechtsscheins
          • Grundsatz: Erfordernis der Zurechenbarkeit (Risikoprinzip)
          • Ausnahme: reines Rechtsscheinprinzip (vgl. z.B. § 892 BGB, § 15 Abs. 1 BGB)

    3. Rechtsfolgen

      1. Die Gleichstellung des Scheintatbestands mit der Wirklichkeit
      2. Der Grundsatz der Disponibilität des Rechtsscheins

Der gutgläubige Ersterwerb

  1. Voraussetzungen

    1. Dinglicher Vertrag

      1. Besonderheiten
        aa) Fahrnisrecht
        bb) Liegenschaftsrecht
        • Bindung an Einigung gem. § 873 Abs. 2 BGB
        • Formzwang und Bedingungsfeindlichkeit der Auflassung gem. § 925 BGB (vgl. Fall 4)
        • Einseitige Bewilligung bei Vormerkung gem. § 885 Abs. 1 BGB

      2. Unwirksamkeitsgründe aa) Isolierte Nichtigkeit des dinglichen Geschäfts: z.B. wegen §§ 119 Abs. 1 Alt. 1, 142 Abs. 1 BGB (error in objecto bei Übergabe)
        bb) Fehleridentität: z.B. §§ 105, 123, 1366, 1369 BGB (str. bzgl. §119 Abs. 2 BGB; vgl. Fall 1)
        cc) Spezialproblem: rechtlich "neutrales Geschäft" bei Verfügung eines nichtberechtigten Minderjährigen gem. § 107 BGB (vgl. Fall 1)
    2. Publizitätsakt

      1. Fahrnisrecht
        aa) Übergabe gem. § 929 S. 1 BGB, bei Pfandrecht vgl. § 1205 S. 1 BGB
        bb) Surrogate gem. §§ 930, 931 BGB; bei Pfandrecht vgl. §§ 1205 Abs. 2, 1206 BGB
      2. Liegenschaftsrecht
        aa) Eintragung im Grundbuch gem. § 873 Abs. 1 BGB; bei Hypothek und Grundschuld vgl. §§ 1115, 1192 Abs. 1 BGB; bei Vormerkung vgl. § 885 BGB
        bb) Briefübergabe gem. §§ 1117, 1192 Abs. 1 BGB
    3. Fehlende Berechtigung des Verfügenden

      1. Eigentümer
        aa) Grundsatz: unbeschränkte Verfügungsbefugnis (vgl. § 903 BGB); auch Stellvertretung gem. § 164 Abs. 1 BGB möglich.
        bb) Ausnahmen: Verfügungsverbote (vgl. z.B. §§ 135, 136, 161, 2113, 2211 BGB)

      2. Nichteigentümer
        aa) Grundsatz: fehlende Verfügungsbefugnis
        bb) Ausnahmen
        • Rechtsgeschäftliche Legitimation: Zustimmung gem. § 185 BGB; beachte, daß der (an sich) Nichtberechtigte hier eine Willenserklärung im eigenen Namen abgibt
        • Gesetzliche Legitimation: z.B. Notveräußerung des Finders gem. § 996 Abs. 2 S. 1 BGB; Pfandveräußerung gem. §§ 1228, 1242 Abs. 1 BGB: Verfügungsbefugnis des Testamentsvollstreckers gem. § 2205 BGB

    4. Rechtsscheingrundsätze

      1. Vertrauenstatbestand

        aa) Fahrnisrecht: Besitz bzw. Besitzverschaffungsmacht

        aaa) Übergabe gem. § 929 S. 1 BGB

        • Voraussetzung für gutgläubigen Erwerb gem. § 932 Abs. 1 S. 1 BGB: Übergabe und vollständiger Besitzverlust (wie bei Erwerb vom Berechtigten)
        • Spezialproblem: Geheißerwerb (vgl. Fall 8)

        bbb) Übergabe kurzer Hand gem. § 929 S. 2 BGB

        • Voraussetzung für gutgläubigen Erwerb gem. § 932 Abs. 1 S. 2 BGB: Besitzerlangung vom Veräußerer
        • Beispiel: Nichtberechtigter veräußert die bisher an M vermietete Sache an diesen

        ccc) Besitzkonstitut gem. § 930 BGB

        • Voraussetzung für gutgläubigen Erwerb gem. § 933 BGB: Übergabe und vollständiger Besitzverlust (Besitzkonstitut i.E. bedeutungslos, da gleiche Anforderungen wie gem. §§ 929 S. 1, 932 Abs. 1 S. 1 BGB)
        • Spezialproblem: im voraus erteilte Ermächtigung zur Besitzergreifung (vgl. Fall 7)

        ddd) Abtretung des Herausgabeanspruchs gem. § 931 BGB

        • Voraussetzung für gutgläubigen Erwerb gem. § 934 Alt. 1 BGB: Abtretung des Herausgabeanspruchs
          - Beachte: Herausgabeanspruch folgt aus Besitzmittlungsverhältnis
          - Spezialproblem: Nebenbesitz (vgl. Fall 8)
        • Voraussetzung für gutgläubigen Erwerb gem. § 934 Alt. 2 BGB: Erlangung des Besitzes vom Dritten

        eee) Pfandrecht

        • Vgl. Verweis in § 1207 BGB auf §§ 932, 934 BGB
        • § 933 BGB ist unanwendbar, da Pfandrecht nicht durch Besitzkonstitut bestellbar

        fff) Zubehör:
        Vgl. Verweis in § 926 Abs. 2 BGB auf §§ 932 bis 936 BGB

        bb) Liegenschaftsrecht: Grundbuch

      2. Schutzwürdigkeit des Vertrauenden

        aa) Geschütztes Vertrauen

        aaa) Eigentum gem. §§ 932 ff. BGB bzw. "Inhalt" des Grundbuchs gem. §§ 892, 893 BGB

        bbb) Verfügungsbefugnis

        • Bzgl. Eigentümer: Vgl. Verweisungen z.B. in §§ 135 Abs. 2, 136, 161 Abs. 3, 2113 Abs. 3, 2129 Abs. 2, 2211 Abs. 2 BGB
        • Bzgl. Nichteigentümer
          - Rechtsgeschäftliche Legitimation: nur ausnahmsweise gem. § 366 Abs. 1 HGB
          - Gesetzliche Legitimation: nur ausnahmsweise z.B. gem. § 1244 BGB (Pfandveräußerung); § 892 Abs. 1 S. 2 BGB entfaltet hingegen z.B. nur negative Publizität (z.B. nicht bzgl. unzutreffendem Insolvenzvermerk)

        bb) Ausschluß

        • Fahrnisrecht: Bei grober Fahrlässigkeit oder positiver Kenntnis, vgl. § 932 Abs. 2 BGB
        • Liegenschaftsrecht: Bei positiver Kenntnis oder Widerspruch, vgl. § 892 Abs. 1 BGB

        cc) Zeitpunkt

        • Fahrnisrecht: Letzte Erwerbshandlung (Bedingungseintritt gem. § 158 BGB nicht erforderlich)
        • Liegenschaftsrecht: Grundsätzlich Antragstellung gem. § 892 Abs. 2 BGB; nach h.M. gilt § 892 Abs. 2 BGB nicht analog bei Eintragung eines Widerspruchs

        dd) Zurechnung

        • Person des Stellvertreters gem. § 166 Abs. 1 BGB
        • Ausnahme gem. § 166 Abs. 2 BGB

        ee) beachte: § 142 Abs. 2 BGB bzgl. Anfechtbarkeit

      3. Zurechenbarkeit des Rechtsscheins

        aa) Fahrnisrecht:

        aaa) § 935 Abs. 1 BGB

        • Verlust des unmittelbaren Besitzes (auch Mitbesitz geschützt)
        • Verlust des Erbenbesitzes (§ 857 BGB)
        • Abhandenkommen
          - Untreue des Besitzdieners: Nach h.M. liegt ein Abhandenkommen vor, da gem. § 855 BGB nur der Besitzherr unmittelbarer Besitzer ist
          - Fehlende Geschäftsfähigkeit: Nach h.M. kommt es auf die natürliche Fähigkeit an, sich über die Besitzaufgabe im klaren zu sein
          - Willensmängel: Irrtum und Täuschung begründen keine Unfreiwilligkeit; anders hingegen bei Drohung (str.)
        • Verweis bei Verpfändung gem. § 1207 BGB

        bbb) § 935 Abs. 2 BGB: Reines Rechtsscheinprinzip

        ccc) § 1244 BGB: Reines Rechtsscheinprinzip

        bb) Liegenschaftsrecht: Reines Rechtsscheinprinzip

    5. Teleologische Einschränkungen

      1. Verkehrsgeschäft (Voraussetzung: verschiedene Personen auf Veräußerer- und Erwerberseite)
      2. Rückerwerb vom Nichtberechtigten (str.; vgl. Fall 9)
      3. Rechtsgeschäftlicher Erwerb (Ausnahme: § 366 Abs. 3 HGB; vgl. Fall 5)
    6. Akzessorietät

      1. Vormerkung gem. § 883 Abs. 1 S. 1 BGB; Hypothek gem. § 1113 Abs. 1 BGB; Pfandrecht gem. § 1204 Abs. 1 BGB
      2. Künftige oder bedingte Forderungen; siehe gleichlautend §§ 883 Abs. 1 S. 2, 1113 Abs. 2, 1204 Abs. 2 BGB
      3. Spezialproblem: Forderungsauswechselung (vgl. Fall 12)
  2. Rechtsfolgen

    1. Der Erwerb des Vollrechts

      1. Fahrnisrecht
        aa) Erwerb des Eigentums gem. §§ 929 ff., 932 ff. BGB
        bb) Lastenfreier Erwerb gem. §§ 929 ff., 936 BGB
      2. Liegenschaftsrecht
        aa) Positive Publizität gem. § 892 Abs. 1 BGB
        bb) Negative Publizität gem. § 892 Abs. 1 BGB

    2. Der Erwerb sonstiger Rechte

      1. Pfandrecht gem. §§ 1205, 1207, 932, 934 BGB (vgl. Fall 9)
      2. Anwartschaftsrecht analog §§ 929 ff. BGB (Vorstufe zum Vollrecht; vgl. Fall 7)
      3. Vormerkung
        • Anwendung von §§ 893 Alt. 2, 892 Abs. 1 BGB (h.M.; vgl. Fall 11)
        • Neben Verfügungs- auch Erwerbsschutz (vgl. Fall 11)
      4. Grundpfandrechte
        • Hypothek gem. § 892 Abs. 1 S. 1 BGB
        • Grundschuld gem. § 892 Abs. 1 S. 1 BGB
      5. Rechte gem. § 893 BGB (z.B. Rangänderung gem. § 880 BGB, Rechtsänderung gem. § 877 BGB)

    3. Keine Disponibilität

      Der Erwerber kann sich nicht auf die fehlende Berechtigung des Verfügenden berufen und aus diesem Grund das Geschäft nicht für unwirksam erachten.

    4. Ausgleichsanspruch

      Nur wenn die Verfügung des Nichtberechtigten unentgeltlich erfolgt, hat der Erwerber gem. § 816 Abs. 1 S. 2 BGB Eigentum und Besitz an den bisherigen Eigentümer herauszugeben.

Der gutgläubige Zweiterwerb

  1. Der konstruktive Unterschied zum Ersterwerb

    Kein Erwerb vom vermeintlichen Eigentümer (Bucheigentümer), sondern von einem Nichtberechtigten, der vorgibt, Inhaber eines sonstigen dinglichen oder quasi-dinglichen Rechts zu sein.

  2. Die verschiedenen Konstellationen

    1. Pfandrecht (vgl. Fall 9)

      1. Normalfall: E vermietet an M eine Stereoanlage; M verpfändet zur Absicherung einer Darlehensschuld die Anlage an den bösgläubigen G; zum Zwecke der Refinanzierung tritt G seine Forderung an den redlichen Z ab und übergibt ihm das Pfand.
      2. Argumente gegen Zweiterwerb (h.M.):
        • Kein rechtsgeschäftlicher Erwerb; Pfandrecht geht automatisch bei Übertragung mit über (vgl. § 1250 Abs. 1 S. 1 BGB)
        • Keine Besitzverschaffung notwendig (vgl. § 1250 Abs. 1 S. 1 BGB)
        • Z "vertraut" nur auf Gerede des G
        • Z hat Möglichkeit der Rückfrage beim Eigentümer
        • Keine Vergleichbarkeit mit Sicherungshypothek, da Abtretung der Forderung dort durch Einigung und Eintragung erfolgt
        • Keine Vergleichbarkeit mit Anwartschaftsrecht, da dieses als solches existiert und nur einem anderen zusteht
      3. Argumente pro Zweiterwerb (M.M.):
        • Sofern Sache übergeben wird, besteht Rechtsschein des Besitzes
        • Nach Parteiwillen wie rechtsgeschäftliche Übertragung des Pfandrechts
        • G hätte sich auch als Eigentümer aufspielen können mit der Folge eines gutgläubigen Ersterwerbs
    2. Anwartschaftsrecht (vgl. Fall 7)

      1. Normalfall: E veräußert eine Stereoanlage unter Eigentumsvorbehalt an K; K verleiht die Anlage an L; L behauptet gegenüber D, er habe die Anlage unter Eigentumsvorbehalt gekauft und veräußert das Anwartschaftsrecht an D.
      2. Argumente gegen Zweiterwerb:
        • Rechtsschein des Besitzes zerstört, da D vom fehlenden Eigentum des L weiß
        • D "vertraut" nur auf Gerede des L
        • Möglichkeit der Rückfrage bei E
      3. Argumente pro Zweiterwerb:
        • Anwartschaftsrecht Vorstufe zum Eigentum
        • Besitz erzeugt auch Rechtsschein zugunsten einer Anwartschaft
        • Analogie zu §§ 1065, 1227 iVm 1006 BGB, wonach mit Besitz Vermutung für ein beschränkt dingliches Recht besteht (Nießbrauch, Pfand)
        • L hätte sich als Eigentümer aufspielen können
      4. Beachte: Nach ganz h.M. ist ein gutgläubiger Erwerb eines nicht existenten Anwartschaftsrechts ausgeschlossen, da die Bedingung des Eigentumserwerbs nicht eintreten kann; des weiteren besteht auch kein Gutglaubensschutz in bezug auf die Höhe der Forderung.
    3. Vormerkung (vgl. Fall 11)

      1. Normalfall: Bucheigentümer B bewilligt zugunsten des bösgläubigen K eine Auflassungsvormerkung; nach Eintragung der Vormerkung tritt K den Anspruch auf Übereignung an den gutgläubigen G ab.
      2. Argumente gegen Zweiterwerb:
        • Kein rechtsgeschäftlicher Erwerb; Vormerkung geht automatisch analog § 401 BGB mit über
        • Übertragung vollzieht sich gem. § 401 BGB außerhalb des Grundbuchs, so dass auch ein Nichteingetragener Vormerkungsberechtigter sein kann ("Heimlichkeitsprinzip" statt Publizitätsprinzip)
        • G könnte Neubestellung einer Vormerkung verlangen
      3. Argumente pro Zweiterwerb:
        • § 401 BGB schreibt nur fest, was vernünftige Parteien ohnehin geregelt hätten (Parteiwille)
        • G kann auf Grundbucheintragung des K vertrauen

  3. Grundpfandrechte

    1. Hypothek (vgl. Fall 12)
      • Nichtbestehen des Pfandrechts: § 892 BGB (bei Briefrechten ist jeweils § 1155 BGB mitzubeachten)
      • Nichtbestehen der Forderung: §§ 1138, 892 BGB
      • Einredefreier Erwerb: §§ 1157 S. 2, 892 BGB; §§ 1138, 892 BGB
    2. Sicherungshypothek
      • Nichtbestehen des Pfandrechts: § 892 BGB
      • Nichtbestehen der Forderung: kein gutgläubiger Erwerb möglich, vgl. § 1185 Abs. 2 BGB
      • Einredefreier Erwerb: §§ 1157 S. 2, 892 BGB
    3. Grundschuld (vgl. Fall 13)
      • Nichtbestehen des Pfandrechts: § 892 BGB (beachte bei Briefgrundschuld zudem § 1155 BGB)
      • Nichtbestehen der Forderung: irrelevant; nicht akzessorisch
      • Einredefreier Erwerb: §§ 1192 Abs. 1, 1157 S. 2, 892 BGB