Bindungswirkung von
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für
innerstaatliche Gerichte; Verhältnis von Grundgesetz und Völkerrecht
BVerfG, Beschl. v.
14.10.2004 - 2 BvR 1481/04
Fundstelle:
Originaldokument auf der Webseite des BVerfG:
rs20041014_2bvr148104.html
s. dazu auch die
Pressemeldung des BVerfG Nr. 92/2004 vom
19.10.2004
Amtl. Leitsätze:
1. Zur Bindung an Gesetz und Recht
(Art. 20 Abs. 3 GG) gehört die Berücksichtigung der Gewährleistungen der
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Rahmen
methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung. Sowohl die fehlende
Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des Gerichtshofs als auch deren
gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische "Vollstreckung" können
gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen.
2. Bei der Berücksichtigung von Entscheidungen des Gerichtshofs haben die
staatlichen Organe die Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung in ihre
Rechtsanwendung einzubeziehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich bei
dem einschlägigen nationalen Recht um ein ausbalanciertes Teilsystem des
innerstaatlichen Rechts handelt, das verschiedene Grundrechtspositionen
miteinander zum Ausgleich bringen will.
Gründe:
A. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem
die aus seiner Sicht mangelhafte Umsetzung des in seiner Sache ergangenen
Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 26.
Februar 2004 sowie die Missachtung von Völkerrecht durch das
Oberlandesgericht Naumburg.
I. 1. a) Der Beschwerdeführer ist der Vater des am 25. August 1999
nichtehelich geborenen Kindes Christofer. Die Kindesmutter, die den
Beschwerdeführer gegenüber den Behörden zunächst nicht als Vater benannte,
gab den Jungen einen Tag nach der Geburt zur Adoption frei und erklärte
erstmals mit notarieller Urkunde vom 1. November 1999 ihre - am
24. September 2002 wiederholte - Einwilligung zur Adoption durch die
Pflegeeltern. Bei diesen lebt der Junge seit dem 29. August 1999.Der
Beschwerdeführer erfuhr im Oktober 1999 von der Geburt des Kindes und der
Adoptionsfreigabe; der Kontakt zur Kindesmutter war bereits im Juli 1999
abgebrochen. Daraufhin begann er, sich seinerseits um die Adoption seines
Sohnes zu bemühen, was zunächst auf Schwierigkeiten stieß, weil seine
Vaterschaft nicht anerkannt wurde. Die Vaterschaft wurde schließlich durch
Urteil des Amtsgerichts Wittenberg vom 20. Juni 2000 festgestellt.
b) Mit Beschluss vom 9. März 2001 übertrug das Amtsgericht Wittenberg dem
Beschwerdeführer antragsgemäß die alleinige elterliche Sorge für Christofer.
Zuvor war es zu insgesamt vier Umgangskontakten zwischen dem Kind und dem
Beschwerdeführer gekommen. Auf das Rechtsmittel der Pflegeeltern und des
nach der Geburt zum Amtsvormund bestellten Jugendamtes Wittenberg wurde die
Sorgerechtsentscheidung des Amtsgerichts durch Beschluss des
Oberlandesgerichts Naumburg vom 20. Juni 2001 aufgehoben und der Antrag des
Beschwerdeführers auf Übertragung des Sorgerechts zurückgewiesen.
Gleichzeitig schloss das Oberlandesgericht von Amts wegen das Umgangsrecht
zwischen dem Beschwerdeführer und dem Jungen aus Gründen des Kindeswohls bis
zum 30. Juni 2002 aus.
c) Die gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts erhobene
Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers wurde von der 3. Kammer des
Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit unbegründetem Beschluss vom
31. Juli 2001 - 1 BvR 1174/01 - nicht zur Entscheidung angenommen.
2. a) In der Zwischenzeit hatte der Beschwerdeführer beim Amtsgericht ein
neues Verfahren auf Übertragung des Sorge- und Umgangsrechts anhängig
gemacht. Er versuchte an sieben verschiedenen Terminen, Kontakt zu
Christofer herzustellen. Diese Versuche seien erfolglos geblieben, weil die
Pflegeeltern nicht zur Zusammenarbeit bereit oder abwesend gewesen seien.
Zwei für Februar und Juli 2003 anberaumte Anhörungstermine vor dem
Amtsgericht wurden aufgehoben. Daraufhin bestellte das Amtsgericht am
22. Juli 2003 eine Verfahrenspflegerin sowohl im Sorge- als auch im
Umgangsrechtsverfahren.
Mit Beschluss vom 30. September 2003 wies das Oberlandesgericht Naumburg den
Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur
Regelung des Umgangs wegen der nach Auffassung des Gerichts fortbestehenden
Spannungen zwischen den Beteiligten und der unklaren Rechtslage ab.
b) Am 19. Januar 2001 war beim Amtsgericht Wittenberg der Antrag der
Pflegeeltern auf Adoption von Christofer eingegangen. Das Jugendamt
Wittenberg als Amtsvormund des Jungen hatte zuvor seine Zustimmung zur
Adoption erteilt. Nachdem der Beschwerdeführer die Einwilligung in
Christofers Adoption verweigert hatte, ersetzte das Amtsgericht durch
Beschluss vom 28. Dezember 2001 seine fehlende Einwilligung. Am 30. Oktober
2002 wies das Vormundschaftsgericht beim Landgericht Dessau den Antrag des
Beschwerdeführers auf Aussetzung des Adoptionsverfahrens bis zur endgültigen
Entscheidung im Sorge- und Umgangsrechtsverfahren ab. Auf die Beschwerde des
Beschwerdeführers hob das Oberlandesgericht Naumburg mit Beschluss vom
24. Juli 2003 die Entscheidung des Landgerichts auf. Das Oberlandesgericht
lehnte zwar die Aussetzung des Adoptionsverfahrens bis zur Entscheidung in
dem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (dazu
unter 3.) ab, wies in seiner Entscheidung aber darauf hin, dass die
zuständigen innerstaatlichen Gerichte gegebenenfalls ein Urteil dieses
Gerichtshofs zu berücksichtigen hätten. Stattdessen setzte es das
Beschwerdeverfahren in dem Adoptionsverfahren bis zur rechtskräftigen
Entscheidung des mittlerweile ebenfalls beim Oberlandesgericht anhängigen,
neuerlichen Sorgerechtsverfahrens aus.
3. a) Der Beschwerdeführer legte im September 2001 eine Individualbeschwerde
nach Art. 34 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten (EMRK) bei dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
ein. Er rügte insbesondere eine Verletzung von Art. 8 EMRK, der das Recht
auf Achtung des Privat- und Familienlebens schützt. Die Durchführung einer
Zwangsadoption unter Missachtung der Rechte des leiblichen Vaters verstoße
in eklatanter Weise gegen die Menschenwürde und das Grundrecht auf Familie.
Er habe das Recht, seinen Sohn selbst zu erziehen.
b) Mit Urteil vom 26. Februar 2004 erklärte eine Kammer der Dritten Sektion
des Gerichtshofs einstimmig, dass die Sorgerechtsentscheidung und der
Ausschluss des Umgangsrechts eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellten.
Der Gerichtshof sprach dem Beschwerdeführer auf der Grundlage von Art. 41
EMRK 15.000,-- € Schadensersatz und 1.500,-- € als Ersatz für Kosten und
Auslagen zu (vgl. EGMR, No. 74969/01, Urteil vom 26. Februar 2004 – Görgülü).
aa) Im Hinblick auf das Sorgerecht verwies der Gerichtshof zunächst auf
seine Rechtsprechung, wonach der Staat in Fällen, in denen nachweislich
Familienbande zu einem Kind bestünden, so handeln müsse, dass diese Bande
sich weiterentwickeln könnten. Daraus folge die Pflicht nach Art. 8 EMRK,
auf die Zusammenführung eines leiblichen Elternteils mit seinem Kind
hinzuwirken (EGMR, a.a.O., Ziffer 45 m.w.N.). Das Oberlandesgericht habe in
Anbetracht der Tatsache, dass der Beschwerdeführer Christofers leiblicher
Vater und unstreitig bereit und in der Lage sei, ihn zu betreuen, nicht alle
möglichen Wege zur Lösung des Problems geprüft (EGMR, a.a.O., Ziffer 46).
bb) Im Hinblick auf das Umgangsrecht kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis,
dass die Gründe, auf die das Oberlandesgericht Naumburg seine Entscheidung,
den Umgang des Beschwerdeführers mit seinem Kind für die Dauer eines Jahres
auszuschließen, gestützt habe, nicht ausreichend gewesen seien, um einen
derart schweren Eingriff in das Familienleben des Beschwerdeführers zu
rechtfertigen. Ungeachtet des Ermessensspielraums der innerstaatlichen
Behörden sei der Eingriff daher in Bezug auf die rechtmäßig verfolgten Ziele
nicht verhältnismäßig gewesen (EGMR, a.a.O., Ziffer 50). In der vorliegenden
Rechtssache müsse dem Beschwerdeführer deshalb mindestens der Umgang mit
seinem Kind ermöglicht werden (EGMR, a.a.O., Ziffer 64).
4. a) Daraufhin übertrug das Amtsgericht Wittenberg dem Beschwerdeführer mit
Beschluss vom 19. März 2004 in dem Parallelverfahren zum Sorgerecht
antragsgemäß die alleinige elterliche Sorge. Des Weiteren erließ das
Amtsgericht von Amts wegen mit Beschluss vom selben Tag und unter Bezugnahme
auf diese Sorgerechts-Entscheidung eine einstweilige Anordnung zum Umgang
des Beschwerdeführers mit seinem Sohn. Er erhielt das Recht, ab dem 3. April
2004 jeweils sonnabends für zwei Stunden - bis zum rechtskräftigen Abschluss
des Sorgerechtsverfahrens - Umgang mit seinem Sohn zu haben.
b) Der Amtsvormund und die Verfahrenspflegerin des Kindes erhoben Beschwerde
gegen den Umgangsrechts-Beschluss des Amtsgerichts. Das Oberlandesgericht
Naumburg setzte zunächst mit Beschluss vom 30. März 2004 die einstweilige
Anordnung außer Vollzug und hob diese mit weiterem Beschluss vom 30. Juni
2004 auf.
Eine Umgangsregelung könne nur auf Antrag getroffen werden. Da es an diesem
konstitutiven Erfordernis gefehlt habe, entbehre die ohne Antrag erlassene
Anordnung des Amtsgerichts ihrer prozessualen Grundlage. Dies gelte erst
recht in Anbetracht des bereits im September 2003 zurückgewiesenen
Eilantrags des Beschwerdeführers und der grundsätzlich unveränderten
Fortgeltung der seinerzeit maßgeblichen Ablehnungsgründe. Die Gewährung des
Umgangsrechts von Amts wegen sei generell ausgeschlossen und hätte
allenfalls zum Wohle des Kindes, nicht aber im hier ausschließlich berührten
Interesse des Kindesvaters angeordnet werden dürfen. Der Junge sei voll in
die Pflegefamilie integriert und fühle sich dort offensichtlich wohl.
Die in zulässiger Weise angefochtene Anordnung des Amtsgerichts zum
Umgangsrecht erweise sich auch in der Sache mangels Regelungsbedürfnis für
eine nicht beantragte Eilmaßnahme nach rund eindreivierteljähriger
Verfahrensdauer - auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen
Entscheidung des Gerichtshofs - als ungerechtfertigt.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung könne auch nicht mit der
Entscheidung des Gerichtshofs gerechtfertigt werden. Zwar lasse sich der
Entscheidung entnehmen, dass der im Juni 2001 angeordnete Ausschluss des
Umgangs das Recht des Beschwerdeführers und Kindesvaters nach Art. 8 EMRK
verletzt habe und dass - gemäß Ziffer 64 des Urteils - die Bundesrepublik
Deutschland auf Grund ihrer Verpflichtung aus Art. 46 EMRK dem
Beschwerdeführer zumindest das Recht auf Umgang einzuräumen habe. Der
Urteilsspruch binde jedoch nur die Bundesrepublik Deutschland als
Völkerrechtssubjekt, nicht hingegen deren Organe, Behörden und die nach
Art. 97 Abs. 1 GG unabhängigen Organe der Rechtsprechung. Die Wirkung des
Urteilsspruches erschöpfe sich demnach de iure und de facto, vorbehaltlich
einer innerstaatlichen Gesetzesänderung, in der Feststellung der
Sanktionierung einer in der Vergangenheit nach Ansicht des Gerichtshofs
liegenden Rechtsverletzung. Das Urteil des Gerichtshofs bleibe ein
jedenfalls für die nationalen Gerichte unverbindlicher Ausspruch ohne
Einfluss auf die Rechtskraft der angegriffenen Entscheidung. Weder die
Europäische Menschenrechtskonvention noch das Grundgesetz verpflichteten
dazu, einer die Konventionswidrigkeit eines deutschen Hoheitsaktes
feststellenden Entscheidung des Gerichtshofs eine die Rechtskraft
beseitigende Wirkung beizumessen.
Auf Grund des Ranges der Europäischen Menschenrechtskonvention als einfaches
Gesetzesrecht unterhalb der Verfassung sei der Gerichtshof im Verhältnis zu
den Gerichten der Vertragsparteien funktionell kein höherrangiges Gericht.
Deshalb könnten nationale Gerichte weder bei der Auslegung der Europäischen
Menschenrechtskonvention noch bei der Auslegung nationaler Grundrechte an
dessen Entscheidungen gebunden sein.
Im Übrigen hätten sich infolge des Zeitablaufs der maßgebliche Sachstand
ebenso wie die materielle und prozessuale Rechtslage zwischenzeitlich
nachhaltig verändert. Schon deshalb könne es eine irgendwie geartete Bindung
an die Entscheidung des Gerichtshofs, die rein prozessuale Fragen des
einstweiligen Rechtsschutzes nicht behandele, nicht geben.
II. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine
Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1, Art. 3 und Art. 6 GG sowie des
Rechts auf ein faires Verfahren. Gleichzeitig beantragt er den Erlass einer
einstweiligen Anordnung zum Umgang mit seinem Sohn.
Soweit sich der Beschwerdeführer auf eine Verletzung von Art. 6 EMRK (faires
Verfahren) beruft, sieht er auch einen Verstoß gegen das Völkerrecht als
gegeben an. Er werde als leiblicher Vater durch den angegriffenen Beschluss
des Oberlandesgerichts vom 30. Juni 2004 verletzt, weil das Gericht
rechtsfehlerhaft davon ausgehe, dass die Entscheidung des Gerichtshofs sich
nur auf die Vergangenheit beziehe. Dabei verkenne das Oberlandesgericht,
dass der Gerichtshof in seiner Entscheidung eindeutig einen zukünftigen
Umgang einfordere. Eine Entscheidung des Gerichtshofs binde das
Oberlandesgericht auch für die Zukunft, andernfalls hätte der Gerichtshof
nicht wiederholt darauf hingewiesen, dass sich das zukünftige Verhalten der
mit dem Fall befassten deutschen Behörden und Gerichte an der
Rechtsauffassung des Gerichtshofs zu orientieren habe.
Im Übrigen seien die Ausführungen des Oberlandesgerichts rechtsfehlerhaft,
weil etwa der zitierte Art. 97 Abs. 1 GG für den vorliegenden Fall nicht
einschlägig sei. Es gehe nicht um die Unabhängigkeit des Gerichts, sondern
um eine konkrete Bindungswirkung der Entscheidung des Gerichtshofs. Dieser
habe konkret entschieden, dass dem Kindesvater sofort Umgang zu gewähren
sei, damit die Familienbande sich verfestigen könnten. Mit seiner
Rechtsauffassung verstoße das Oberlandesgericht gegen Völkerrecht.
III. Das Bundesministerium der Justiz, die Staatskanzlei des Landes
Niedersachsen und das Ministerium der Justiz des Landes Sachsen-Anhalt sowie
das Jugendamt, die Verfahrenspflegerin und die Pflegeeltern haben in dem
Verfahren eine Stellungnahme abgegeben.
B. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sich der
Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 30. März
2004 wendet. Die Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG, wonach die
Verfassungsbeschwerde binnen eines Monats nach der Zustellung oder formlosen
Bekanntgabe der Entscheidung zu erheben und zu begründen ist, ist nicht
gewahrt.
Zwar handelt es sich bei einem Beschluss über die Aussetzung der Vollziehung
einer einstweiligen Anordnung um eine Zwischenentscheidung, deren
selbstständige Anfechtung mit der Verfassungsbeschwerde grundsätzlich
ausgeschlossen ist (vgl. BVerfGE 58, 1 [23] m.w.N.). In Fällen, in denen ein
dringendes schutzwürdiges Interesse besteht, kann über die
Verfassungsmäßigkeit einer Zwischenentscheidung jedoch unmittelbar und nicht
erst in Verbindung mit der Überprüfung der Endentscheidung erkannt werden.
Bei der Beurteilung, ob die Voraussetzungen einer Ausnahme vorliegen, ist
insbesondere zu berücksichtigen, ob die Zwischenentscheidung für den
Betroffenen bereits einen bleibenden rechtlichen Nachteil nach sich zieht,
der nicht mehr oder doch nicht vollständig behoben werden könnte (vgl.
BVerfGE 1, 322 [324 f.]; 58, 1 [23]).
Mit seinem Beschluss vom 30. März 2004 setzte das Oberlandesgericht Naumburg
den Vollzug der einstweiligen Anordnung des Amtsgerichts gemäß §§ 621 g,
620 e, 621 Abs. 1 Nr. 1 und 2 ZPO in Verbindung mit § 1684 Abs. 4 Satz 1 und
2 BGB aus. Die Entscheidung führte im Ergebnis dazu, dass der
Beschwerdeführer die vom Amtsgericht ihm zugesprochenen Umgangskontakte mit
seinem Sohn nicht wahrnehmen konnte. Insoweit ging mit der Entscheidung ein
rechtlicher Nachteil für den Beschwerdeführer einher. Aus diesem Grund hätte
er den Beschluss vom 30. März 2004 mit der Verfassungsbeschwerde
selbstständig anfechten müssen. Die am 20. Juli 2004 beim
Bundesverfassungsgericht per Telefax eingegangene Verfassungsbeschwerde hat
die Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine solche Anfechtung nicht
gewahrt.
Soweit die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss vom 30. Juni 2004
gerichtet ist, sind die Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt.
C. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Oberlandesgericht hat mit
seinem Beschluss vom 30. Juni 2004 gegen Art. 6 GG in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip verstoßen.
Die Behörden und Gerichte der Bundesrepublik Deutschland sind verpflichtet,
unter bestimmten Voraussetzungen die Europäische Menschenrechtskonvention in
der Auslegung durch den Gerichtshof bei ihrer Entscheidungsfindung zu
berücksichtigen (I.). Dieser Verpflichtung wird die angegriffene
Entscheidung des Oberlandesgerichts nicht gerecht, weil das Gericht das in
dem Fall des Beschwerdeführers ergangene Urteil des Gerichtshofs vom
26. Februar 2004 nicht in ausreichendem Maße würdigt (II.).
I. Die Europäische Menschenrechtskonvention gilt in der deutschen
Rechtsordnung im Range eines Bundesgesetzes und ist bei der Interpretation
des nationalen Rechts – auch der Grundrechte und rechtsstaatlichen
Garantien – zu berücksichtigen (1.). Die Bindungswirkung einer Entscheidung
des Gerichtshofs erstreckt sich auf alle staatlichen Organe und verpflichtet
diese grundsätzlich, im Rahmen ihrer Zuständigkeit und ohne Verstoß gegen
die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) einen fortdauernden
Konventionsverstoß zu beenden und einen konventionsgemäßen Zustand
herzustellen (2.). Die Art und Weise der Bindungswirkung hängt von dem
Zuständigkeitsbereich der staatlichen Organe ab und von dem Spielraum, den
vorrangig anwendbares Recht lässt. Gerichte sind zur Berücksichtigung eines
Urteils, das einen von ihnen bereits entschiedenen Fall betrifft, jedenfalls
dann verpflichtet, wenn sie in verfahrensrechtlich zulässiger Weise erneut
über den Gegenstand entscheiden und dem Urteil ohne materiellen
Gesetzesverstoß Rechnung tragen können (3.). Ein Beschwerdeführer kann die
Missachtung dieser Berücksichtigungspflicht als Verstoß gegen das in seinem
Schutzbereich berührte Grundrecht in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip
rügen (4.).
1. a) Die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle
sind völkerrechtliche Verträge. Die Konvention überlässt es den
Vertragsparteien, in welcher Weise sie ihrer Pflicht zur Beachtung der
Vertragsvorschriften genügen (EGMR, Urteil vom 6. Februar 1976, Series A No.
20, Ziffer 50 – Swedish Engine Drivers Union; EGMR, Urteil vom 21. Februar
1986, Series A No. 98, Ziffer 84 – James u.a.; vgl. Geiger, Grundgesetz und
Völkerrecht, 3. Aufl. 2002, S. 405; Ehlers, in: ders. [Hrsg.], Europäische
Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003, § 2 Rn. 2 f.). Der Bundesgesetzgeber
hat den genannten Übereinkommen jeweils mit förmlichem Gesetz gemäß Art. 59
Abs. 2 GG zugestimmt (Gesetz über die Konvention zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 7. August 1952, BGBl II S. 685; die
Konvention ist gemäß der Bekanntmachung vom 15. Dezember 1953, BGBl 1954 II
S. 14 am 3. September 1953 für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft
getreten; Neubekanntmachung der Konvention in der Fassung des
11. Zusatzprotokolls in BGBl 2002 II S. 1054). Damit hat er sie in das
deutsche Recht transformiert und einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl
erteilt. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung stehen die Europäische
Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle - soweit sie für die
Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten sind - im Range eines
Bundesgesetzes (vgl. BVerfGE 74, 358 [370]; 82, 106 [120]).
Diese Rangzuweisung führt dazu, dass deutsche Gerichte die Konvention wie
anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung
zu beachten und anzuwenden haben. Die Gewährleistungen der Europäischen
Menschenrechtskonvention und ihrer Zusatzprotokolle sind allerdings in der
deutschen Rechtsordnung auf Grund dieses Ranges in der Normenhierarchie kein
unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab (vgl. Art. 93 Abs. 1
Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG). Ein Beschwerdeführer kann insofern vor dem
Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar die Verletzung eines in der
Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Menschenrechts mit einer
Verfassungsbeschwerde rügen (vgl. BVerfGE 74, 102 [128] m.w.N.; Beschluss
der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März
2004 – 2 BvR 1570/03 -, EuGRZ 2004, S. 317 [318]). Die Gewährleistungen der
Konvention beeinflussen jedoch die Auslegung der Grundrechte und
rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes. Der Konventionstext und die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf
der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von
Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des
Grundgesetzes, sofern dies nicht zu einer - von der Konvention selbst nicht
gewollten (vgl. Art. 53 EMRK) - Einschränkung oder Minderung des
Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt (vgl. BVerfGE 74, 358 [370];
83, 119 [128]; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2000 - 2 BvR 591/00 -, NJW 2001,
S. 2245 ff.).
b) Diese verfassungsrechtliche Bedeutung eines völkerrechtlichen Vertrages,
der auf regionalen Menschenrechtsschutz zielt, ist Ausdruck der
Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, das die Betätigung staatlicher
Souveränität durch Völkervertragsrecht und internationale Zusammenarbeit
sowie die Einbeziehung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts fördert und
deshalb nach Möglichkeit so auszulegen ist, dass ein Konflikt mit
völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht
entsteht. Das Grundgesetz hat die deutsche öffentliche Gewalt programmatisch
auf die internationale Zusammenarbeit (Art. 24 GG) und auf die europäische
Integration (Art. 23 GG) festgelegt. Das Grundgesetz hat den allgemeinen
Regeln des Völkerrechts Vorrang vor dem einfachen Gesetzesrecht eingeräumt
(Art. 25 Satz 2 GG) und das Völkervertragsrecht durch Art. 59 Abs. 2 GG in
das System der Gewaltenteilung eingeordnet. Es hat zudem die Möglichkeit der
Einfügung in Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit eröffnet (Art. 24
Abs. 2 GG), den Auftrag zur friedlichen Beilegung zwischenstaatlicher
Streitigkeiten im Wege der Schiedsgerichtsbarkeit erteilt (Art. 24 Abs. 3
GG) und die Friedensstörung, insbesondere den Angriffskrieg, für
verfassungswidrig erklärt (Art. 26 GG). Mit diesem Normenkomplex zielt die
deutsche Verfassung, auch ausweislich ihrer Präambel, darauf, die
Bundesrepublik Deutschland als friedliches und gleichberechtigtes Glied in
eine dem Frieden dienende Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft
einzufügen (vgl. auch BVerfGE 63, 343 [370]).
Das Grundgesetz ist jedoch nicht die weitesten Schritte der Öffnung für
völkerrechtliche Bindungen gegangen. Das Völkervertragsrecht ist
innerstaatlich nicht unmittelbar, das heißt ohne Zustimmungsgesetz nach
Art. 59 Abs. 2 GG, als geltendes Recht zu behandeln und - wie auch das
Völkergewohnheitsrecht (vgl. Art. 25 GG) - nicht mit dem Rang des
Verfassungsrechts ausgestattet. Dem Grundgesetz liegt deutlich die
klassische Vorstellung zu Grunde, dass es sich bei dem Verhältnis des
Völkerrechts zum nationalen Recht um ein Verhältnis zweier unterschiedlicher
Rechtskreise handelt und dass die Natur dieses Verhältnisses aus der Sicht
des nationalen Rechts nur durch das nationale Recht selbst bestimmt werden
kann; dies zeigen die Existenz und der Wortlaut von Art. 25 und Art. 59
Abs. 2 GG. Die Völkerrechtsfreundlichkeit entfaltet Wirkung nur im Rahmen
des demokratischen und rechtsstaatlichen Systems des Grundgesetzes.
Das Grundgesetz erstrebt die Einfügung Deutschlands in die
Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten, verzichtet aber
nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende
Souveränität. Insofern widerspricht es nicht dem Ziel der
Völkerrechtsfreundlichkeit, wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise
Völkervertragsrecht nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß
gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist.
Das Grundgesetz will eine weitgehende Völkerrechtsfreundlichkeit,
grenzüberschreitende Zusammenarbeit und politische Integration in eine sich
allmählich entwickelnde internationale Gemeinschaft demokratischer
Rechtsstaaten. Es will jedoch keine jeder verfassungsrechtlichen Begrenzung
und Kontrolle entzogene Unterwerfung unter nichtdeutsche Hoheitsakte. Selbst
die weitreichende supranationale europäische Integration, die sich für den
aus der Gemeinschaftsquelle herrührenden innerstaatlich unmittelbar
wirkenden Normanwendungsbefehl öffnet, steht unter einem, allerdings weit
zurückgenommenen Souveränitätsvorbehalt (vgl. Art. 23 Abs. 1 GG).
Völkervertragsrecht gilt innerstaatlich nur dann, wenn es in die nationale
Rechtsordnung formgerecht, und in Übereinstimmung mit materiellem
Verfassungsrecht inkorporiert worden ist.
c) Die Rechtswirkung der Entscheidungen eines völkervertraglich ins Leben
gerufenen internationalen Gerichts bemisst sich auf dieser Grundlage nach
dem Inhalt des inkorporierten völkerrechtlichen Vertrages und den
entsprechenden Geltungsanordnungen des Grundgesetzes. Wenn das
Konventionsrecht der Europäischen Menschenrechtskonvention und mit ihm der
Bundesgesetzgeber auf der Grundlage von Art. 59 Abs. 2 GG eine unmittelbare
Geltung der Rechtsentscheide angeordnet haben, so entfalten sie unterhalb
des Verfassungsrechts diese Wirkung. Diese Rechtswirkung festzustellen, ist
innerstaatlich zunächst Sache der zuständigen Fachgerichte.
2. a) Eine besondere Bedeutung für das Konventionsrecht als
Völkervertragsrecht haben die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte, weil sich in ihnen der aktuelle Entwicklungsstand der
Konvention und ihrer Protokolle widerspiegelt. Das Konventionsrecht selbst
misst den Sachentscheidungen des Gerichtshofs unterschiedliche
Rechtswirkungen zu. Nach Art. 42 und Art. 44 EMRK werden die Urteile des
Gerichtshofs endgültig und erwachsen damit in formelle Rechtskraft. Die
Vertragsparteien haben sich durch Art. 46 EMRK verpflichtet, in allen
Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des
Gerichtshofs zu befolgen. Aus dieser Vorschrift folgt, dass die Urteile des
Gerichtshofs für die an dem Verfahren beteiligten Parteien verbindlich sind
und damit auch begrenzte materielle Rechtskraft haben (vgl. H.-J. Cremer,
in: Grote/Marauhn [Hrsg.], Konkordanzkommentar, 2004, Entscheidung und
Entscheidungswirkung, Rn. 56 f. m.w.N.).
Die materielle Rechtskraft im Individualbeschwerdeverfahren nach Art. 34
EMRK ist durch die personellen, sachlichen und zeitlichen Grenzen des
Streitgegenstandes begrenzt (vgl. Beschluss des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts [Vorprüfungsausschuss] vom 11. Oktober 1985
– 2 BvR 336/85 - Pakelli, EuGRZ 1985, S. 654 [656]; siehe auch E. Klein,
Binding effect of ECHR judgments, Festschrift für Ryssdal, 2000, S. 705
[706 ff.]). Die Entscheidungen des Gerichtshofs in Verfahren gegen andere
Vertragsparteien geben den nicht beteiligten Staaten lediglich Anlass, ihre
nationale Rechtsordnung zu überprüfen und sich bei einer möglicherweise
erforderlichen Änderung an der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs
zu orientieren (vgl. Ress, Wirkung und Beachtung der Urteile und
Entscheidungen der Straßburger Konventionsorgane, EuGRZ 1996, S. 350). Das
Konventionsrecht verfügt insoweit nicht über eine § 31 Abs. 1 BVerfGG
vergleichbare Vorschrift, wonach alle Verfassungsorgane des Bundes und der
Länder sowie alle Gerichte und Behörden an die Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts gebunden sind. Art. 46 Abs. 1 EMRK spricht nur
eine Bindung der beteiligten Vertragspartei an das endgültige Urteil in
Bezug auf einen bestimmten Streitgegenstand aus (res iudicata).
b) In der Sachfrage erlässt der Gerichtshof ein Feststellungsurteil; mit der
Entscheidung steht fest, dass die betroffene Vertragspartei - bezogen auf
den konkreten Streitgegenstand - die Konvention gewahrt oder sich zu ihr in
Widerspruch gesetzt hat; eine kassatorische Entscheidung, die die
angegriffene Maßnahme der Vertragspartei unmittelbar aufheben würde, ergeht
hingegen nicht (vgl. Ehlers, a.a.O., § 2 Rn. 52; Polakiewicz, Die
Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte, 1993, S. 217 ff.; Steinberger, Human Rights Law Journal
1985, S. 402 [407]).
Aus der Feststellung einer Konventionsverletzung folgt zunächst, dass die
Vertragspartei nicht mehr die Ansicht vertreten kann, ihr Handeln sei
konventionsgemäß gewesen (vgl. Frowein, in: Isensee/Kirchhof [Hrsg.],
Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 180 Rn. 14). Die Entscheidung
verpflichtet die betroffene Vertragspartei in Bezug auf den Streitgegenstand
im Grundsatz ferner dazu, den ohne die festgestellte Konventionsverletzung
bestehenden Zustand nach Möglichkeit wiederherzustellen (vgl. Polakiewicz,
a.a.O., S. 97 ff.; zu den Möglichkeiten, das Ziel einer restitutio in
integrum zu erreichen, siehe die Empfehlung des Ministerkomitees des
Europarates Nr. R [2000] 2 vom 19. Januar 2000). Dauert die festgestellte
Verletzung noch an - etwa im Fall der fortdauernden Inhaftierung unter
Verstoß gegen Art. 5 EMRK oder eines Eingriffs in das Privat- und
Familienleben unter Verstoß gegen Art. 8 EMRK -, so ist die Vertragspartei
verpflichtet, diesen Zustand zu beenden (vgl. jüngst EGMR, No. 71503/01,
Urteil vom 8. April 2004, Ziffer 198 – Assanidze, EuGRZ 2004, S. 268
[275];
siehe auch Breuer, EuGRZ 2004, S. 257 [259]; Grabenwarter, Europäische
Menschenrechtskonvention, 2003, § 16 Rn. 3; Polakiewicz, a.a.O., S. 63 ff.;
Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1999, § 13
Rn. 233). Insoweit würde die Vertragspartei durch die Nichtbeendigung oder
Wiederholung ihres als konventionswidrig festgestellten Verhaltens gegenüber
dem Beschwerdeführer erneut die Europäische Menschenrechtskonvention
verletzen (vgl. E. Klein, Binding effect of ECHR judgments, Festschrift für
Ryssdal, 2000, S. 705 [708]). Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass
die Entscheidungswirkung nur auf die res iudicata bezogen ist und sich bis
zu einem erneuten nationalen Verfahren unter Beteiligung des
Beschwerdeführers die Sach- und Rechtslage entscheidend ändern kann.
c) Dass die Konvention allerdings der betroffenen Vertragspartei im Hinblick
auf die Korrektur bereits getroffener, rechtskräftiger Entscheidungen
Spielraum einräumt, zeigt sich darin, dass dem Beschwerdeführer durch den
Gerichtshof eine "gerechte Entschädigung" in Geld zugesprochen werden kann,
wenn das innerstaatliche Recht der betroffenen Vertragspartei nur eine
unvollkommene Wiedergutmachung gestattet (vgl. Art. 41 EMRK).
Der Gerichtshof weist in seiner neueren Rechtsprechung im Zusammenhang mit
Art. 41 EMRK allerdings darauf hin, dass sich die Vertragsparteien mit der
Ratifikation verpflichtet haben, sicherzustellen, dass ihre innerstaatliche
Rechtsordnung mit der Konvention übereinstimmt (Art. 1 EMRK). Folglich sei
es Sache des beklagten Staates, jedes Hindernis im innerstaatlichen Recht zu
beseitigen, das einer Wiedergutmachung der Situation des Beschwerdeführers
entgegensteht (vgl. EGMR, a.a.O., EuGRZ 2004, S. 268 [275] unter Hinweis auf
EGMR, No. 39748/98, Urteil vom 17. Februar 2004, Ziffer 47 – Maestri).
Wird die betroffene Vertragspartei zur Zahlung einer Entschädigung an den
erfolgreichen Beschwerdeführer gemäß Art. 41 EMRK verurteilt, folgt aus
diesem Ausspruch des Gerichtshofs eine Leistungspflicht (vgl. Stöcker,
Wirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in
der Bundesrepublik, NJW 1982, S. 1905 [1908]). Die Gewährung einer
Entschädigung ist nicht notwendig Bestandteil der Entscheidung in der
Hauptsache, sondern kann zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen, um den
Beteiligten die Gelegenheit zu einer gütlichen Einigung zu geben. Dadurch
erkennt das Konventionsrecht an, dass regelmäßig nur die betroffene
Vertragspartei beurteilen kann, welche rechtlichen Handlungsmöglichkeiten in
der nationalen Rechtsordnung für die Umsetzung des Entscheidungsausspruchs
bestehen.
d) Die Rechtswirkung einer Entscheidung des Gerichtshofs richtet sich nach
den völkerrechtlichen Grundsätzen zunächst auf die Vertragspartei als
solche. Die Konvention verhält sich grundsätzlich indifferent zur
innerstaatlichen Rechtsordnung und soll anders als das Recht einer
supranationalen Organisation nicht in die staatliche Rechtsordnung
unmittelbar eingreifen. Innerstaatlich werden durch entsprechende
Konventionsbestimmungen in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz sowie durch
rechtsstaatliche Anforderungen (Art. 20 Abs. 3, Art. 59 Abs. 2 GG in
Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG) alle Träger der deutschen öffentlichen
Gewalt grundsätzlich an die Entscheidungen des Gerichtshofs gebunden.
Diese Rechtslage entspricht der Konzeption der Europäischen
Menschenrechtskonvention als eines Instruments zum Schutz und zur
Durchsetzung bestimmter Menschenrechte. Die durch das Zustimmungsgesetz in
das Bundesrecht übernommene Verpflichtung der Vertragsparteien, eine
innerstaatliche Instanz zu schaffen, bei der die betroffene Person eine
"wirksame Beschwerde" gegen ein bestimmtes staatliches Handeln einlegen kann
(Art. 13 EMRK), reicht bereits in die institutionelle Gliederung der
Staatlichkeit hinab und ist nicht auf die zum auswärtigen Handeln berufene
Exekutive begrenzt. Des Weiteren haben die Vertragsparteien die "wirksame
Anwendung aller Bestimmungen" der Europäischen Menschenrechtskonvention in
ihrem innerstaatlichen Recht zu gewährleisten (vgl. Art. 52 EMRK), was in
einem durch den Grundsatz der Gewaltenteilung beherrschten demokratischen
Rechtsstaat nur möglich ist, wenn alle Träger hoheitlicher Gewalt an die
Gewährleistungen der Konvention gebunden werden (vgl. dazu Beschluss des
Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts [Vorprüfungsausschuss] vom 11.
Oktober 1985 - 2 BvR 336/85 - Pakelli, EuGRZ 1985, S. 654
[656]). Danach
unterliegen auch die deutschen Gerichte einer Pflicht zur Berücksichtigung
der Entscheidungen des Gerichtshofs.
3. Die Bindungswirkung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte hängt von dem jeweiligen Zuständigkeitsbereich der
staatlichen Organe und des einschlägigen Rechts ab. Verwaltungsbehörden und
Gerichte können sich nicht unter Berufung auf eine Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von der rechtsstaatlichen
Kompetenzordnung und der Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG)
lösen. Zur Bindung an Gesetz und Recht gehört aber auch die Berücksichtigung
der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der
Entscheidungen des Gerichtshofs im Rahmen methodisch vertretbarer
Gesetzesauslegung. Sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einer
Entscheidung des Gerichtshofs als auch deren gegen vorrangiges Recht
verstoßende schematische "Vollstreckung" können deshalb gegen Grundrechte in
Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen.
a) Die über das Zustimmungsgesetz ausgelöste Pflicht zur Berücksichtigung
der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der
Entscheidungen des Gerichtshofs erfordert zumindest, dass die entsprechenden
Texte und Judikate zur Kenntnis genommen werden und in den
Willensbildungsprozess des zu einer Entscheidung berufenen Gerichts, der
zuständigen Behörde oder des Gesetzgebers einfließen. Das nationale Recht
ist unabhängig von dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im
Einklang mit dem Völkerrecht auszulegen (vgl. BVerfGE 74, 358 [370]).
Sind für die Beurteilung eines Sachverhalts Entscheidungen des Gerichtshofs
einschlägig, so sind grundsätzlich die vom Gerichtshof in seiner Abwägung
berücksichtigten Aspekte auch in die verfassungsrechtliche Würdigung,
namentlich die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzubeziehen, und es hat eine
Auseinandersetzung mit den vom Gerichtshof gefundenen Abwägungsergebnissen
stattzufinden (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 2004 – 2 BvR 1570/03 -, EuGRZ 2004
S. 317 [319]).
Hat der Gerichtshof in einem konkreten Beschwerdeverfahren unter Beteiligung
der Bundesrepublik Deutschland einen Konventionsverstoß festgestellt und
dauert dieser Verstoß an, so ist die Entscheidung des Gerichtshofs im
innerstaatlichen Bereich zu berücksichtigen, das heißt die zuständigen
Behörden oder Gerichte müssen sich mit der Entscheidung erkennbar
auseinander setzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen, warum sie
der völkerrechtlichen Rechtsauffassung gleichwohl nicht folgen. Gerade in
Fällen, in denen staatliche Gerichte wie im Privatrecht mehrpolige
Grundrechtsverhältnisse auszugestalten haben, kommt es regelmäßig auf
sensible Abwägungen zwischen verschiedenen subjektiven Rechtspositionen an,
die bei einer Änderung der Subjekte des Rechtsstreits oder durch eine
Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse im Ergebnis anders
ausfallen können. Es kann insofern zu verfassungsrechtlichen Problemen
führen, wenn einer der Grundrechtsträger im Konflikt mit einem anderen einen
für ihn günstigen Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte gegen die Bundesrepublik Deutschland erstreitet und deutsche
Gerichte diese Entscheidung schematisch auf das Privatrechtsverhältnis
anwenden, mit der Folge, dass der insofern "unterlegene" und möglicherweise
nicht im Verfahren vor dem Gerichtshof beteiligte Grundrechtsträger gar
nicht mehr als Verfahrenssubjekt wirksam in Erscheinung treten könnte.
b) aa) Hat der Gerichtshof eine innerstaatliche Vorschrift für
konventionswidrig erklärt, so kann diese Vorschrift entweder in der Rechtsanwendungspraxis völkerrechtskonform ausgelegt werden, oder der
Gesetzgeber hat die Möglichkeit, diese mit der Konvention unvereinbare
innerstaatliche Vorschrift zu ändern. Liegt der Konventionsverstoß in dem Erlass eines bestimmten Verwaltungsaktes, so hat die zuständige Behörde die
Möglichkeit, diesen nach den Regelungen des Verwaltungsverfahrensrechts
aufzuheben (vgl. § 48 VwVfG). Eine konventionswidrige Verwaltungspraxis kann
geändert werden, die Pflicht dazu können Gerichte feststellen.
bb) Bei einem Konventionsverstoß durch Gerichtsentscheidungen verpflichten
weder die Europäische Menschenrechtskonvention noch das Grundgesetz dazu,
einem Urteil des Gerichtshofs, in dem festgestellt wird, dass die
Entscheidung eines deutschen Gerichts unter Verletzung der Europäischen
Menschenrechtskonvention zustande gekommen sei, eine die Rechtskraft dieser
Entscheidung beseitigende Wirkung beizumessen (vgl.
Bundesverfassungsgericht, EuGRZ 1985, S. 654). Daraus ist freilich nicht der Schluss zu ziehen, dass Entscheidungen des Gerichtshofs von deutschen
Gerichten nicht berücksichtigt werden müssten.
Die Rechtsprechung ist nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden.
Der dem Gesetz unterworfene Richter wird durch diese aus dem
Rechtsstaatsprinzip hergeleitete Bindung in seiner verfassungsmäßig
garantierten Unabhängigkeit nicht berührt (Art. 97 Abs. 1 GG; vgl. BVerfGE
18, 52 [59]; 19, 17 [31 f.]). Sowohl die Rechtsbindung als auch die
Gesetzesunterworfenheit konkretisieren die den Richtern anvertraute Aufgabe
der rechtsprechenden Gewalt (Art. 92 GG). Da die Europäische
Menschenrechtskonvention - in der Auslegung durch den Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte - im Range eines förmlichen Bundesgesetzes
gilt, ist sie in den Vorrang des Gesetzes einbezogen und muss insoweit von
der rechtsprechenden Gewalt beachtet werden.
Im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit ist festzuhalten, dass
der Bundesgesetzgeber im Jahr 1998 mit § 359 Nr. 6 StPO einen neuen
Wiederaufnahmegrund für strafrechtliche Verfahren in das Strafprozessrecht
eingefügt hat (Gesetz zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts
vom 9. Juli 1998, BGBl I S. 1802). Danach ist die Wiederaufnahme eines durch
rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten
zulässig, wenn der Gerichtshof eine Verletzung der Europäischen
Menschenrechtskonvention oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das
deutsche Urteil auf dieser Verletzung beruht. Diese Gesetzesänderung beruht
auf dem Gedanken, dass eine im konkreten Einzelfall in ihrer Wirkung
andauernde Konventionsverletzung jedenfalls in dem besonders
grundrechtssensiblen Bereich des Strafrechts ungeachtet bereits
eingetretener Rechtskraft beendet werden soll (vgl. § 79 Abs. 1 BVerfGG),
wenn das Urteil des Gerichtshofs für das nationale Verfahren
entscheidungserheblich ist. Das zuständige Gericht erhält somit die
Gelegenheit, sich auf Antrag erneut mit dem an sich abgeschlossenen Fall zu
befassen und die neuen Rechtstatsachen in seine Willensbildung einzustellen.
Dabei äußert das Gesetz die grundsätzliche Erwartung, dass das Gericht seine
ursprüngliche – konventionswidrige - Entscheidung ändert, soweit diese auf
der Verletzung beruht.
In anderen Verfahrensordnungen ist die Frage, wie die Bundesrepublik
Deutschland im Fall ihrer Verurteilung durch den Gerichtshof reagieren soll,
wenn nationale Gerichtsverfahren rechtskräftig abgeschlossen sind, nicht
abschließend beantwortet. Es kann Sachlagen geben, in denen deutsche
Gerichte zwar nicht über die res iudicata, so doch über den Gegenstand, zu
dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Konventionsverstoß
der Bundesrepublik Deutschland festgestellt hat, erneut entscheiden können.
Dies kann etwa der Fall sein, wenn eine erneute Befassung des Gerichts auf
Grund neuen Antrags oder veränderter Umstände vorgesehen oder das Gericht in
einer anderen Konstellation mit der Sache noch befasst ist. Letztendlich ist
ausschlaggebend, ob ein Gericht im Rahmen des geltenden Verfahrensrechts die
Möglichkeit zu einer weiteren Entscheidung hat, bei der es das einschlägige
Urteil des Gerichtshofs berücksichtigen kann.
In solchen Fallkonstellationen wäre es nicht hinnehmbar, den
Beschwerdeführer lediglich auf eine Entschädigung in Geld zu verweisen,
obwohl eine Restitution weder an tatsächlichen noch an rechtlichen Gründen
scheitern würde.
c) Bei der Berücksichtigung von Entscheidungen des Gerichtshofs haben die
staatlichen Organe die Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung in ihre
Rechtsanwendung einzubeziehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um
ein in seinen Rechtsfolgen ausbalanciertes Teilsystem des innerstaatlichen
Rechts handelt, das verschiedene Grundrechtspositionen miteinander zum
Ausgleich bringen will.
Das Individualbeschwerdeverfahren nach Art. 34 EMRK vor dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte ist darauf ausgerichtet, konkrete Einzelfälle
am Maßstab der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer
Zusatzprotokolle im zweiseitigen Verhältnis zwischen Beschwerdeführer und
Vertragspartei zu entscheiden. Die Entscheidungen des Gerichtshofs können
auf durch eine differenzierte Kasuistik geformte nationale Teilrechtssysteme
treffen. In der deutschen Rechtsordnung kann dies insbesondere im Familien-
und Ausländerrecht sowie im Recht zum Schutz der Persönlichkeit eintreten
(siehe dazu jüngst EGMR, No. 59320/00, Urteil vom 24. Juni 2004 - von
Hannover gegen Deutschland, EuGRZ 2004, S. 404 ff.), in denen
widerstreitende Grundrechtspositionen durch die Bildung von Fallgruppen und
abgestuften Rechtsfolgen zu einem Ausgleich gebracht werden. Es ist die
Aufgabe der nationalen Gerichte, eine Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte in den betroffenen Teilrechtsbereich der
nationalen Rechtsordnung einzupassen, weil es weder der völkervertraglichen
Grundlage noch dem Willen des Gerichtshofs entsprechen kann, mit seinen
Entscheidungen gegebenenfalls notwendige Anpassungen innerhalb einer
nationalen Teilrechtsordnung unmittelbar selbst vorzunehmen.
Bei der insoweit erforderlichen wertenden Berücksichtigung durch die
nationalen Gerichte kann auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass das
Individualbeschwerdeverfahren vor dem Gerichtshof, insbesondere bei
zivilrechtlichen Ausgangsverfahren, die beteiligten Rechtspositionen und
Interessen möglicherweise nicht vollständig abbildet. Verfahrensbeteiligte
vor dem Gerichtshof ist neben dem Beschwerdeführer nur die betroffene
Vertragspartei; die Möglichkeit einer Beteiligung Dritter an dem
Beschwerdeverfahren (vgl. Art. 36 Abs. 2 EMRK) ist kein institutionelles
Äquivalent für die Rechte und Pflichten als Prozesspartei oder weiterer
Beteiligter im nationalen Ausgangsverfahren.
4. Für die verfassungsgerichtliche Nachprüfung der Auslegung und Anwendung
völkerrechtlicher Verträge, die durch Gesetz die Kraft innerstaatlichen
deutschen Rechts erhalten haben, gelten dieselben Grundsätze, die auch sonst
die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, Gerichtsentscheidungen zu
überprüfen, begrenzen. Die fachgerichtliche Auslegung und Anwendung
völkerrechtlicher Abkommen können grundsätzlich nur daraufhin geprüft
werden, ob sie willkürlich sind oder auf einer grundsätzlich unrichtigen
Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts beruhen oder mit anderen
verfassungsrechtlichen Vorschriften unvereinbar sind (vgl. BVerfGE 18, 441 [450]; 94, 315
[328]).
Allerdings ist das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Zuständigkeit
auch dazu berufen, Verletzungen des Völkerrechts, die in der fehlerhaften
Anwendung oder Nichtbeachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen durch
deutsche Gerichte liegen und eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit
Deutschlands begründen können, nach Möglichkeit zu verhindern und zu
beseitigen (vgl. BVerfGE 58, 1 [34]; 59, 63 [89]; 109, 13 [23]). Das
Bundesverfassungsgericht steht damit mittelbar im Dienst der Durchsetzung
des Völkerrechts und vermindert dadurch das Risiko der Nichtbefolgung
internationalen Rechts. Aus diesem Grund kann es geboten sein, abweichend
von dem herkömmlichen Maßstab die Anwendung und Auslegung völkerrechtlicher
Verträge durch die Fachgerichte zu überprüfen.
Dies gilt in besonderem Maße für die völkerrechtlichen Verpflichtungen aus
der Europäischen Menschenrechtskonvention, die dazu beiträgt, eine
gemeineuropäische Grundrechtsentwicklung zu fördern. Das Grundgesetz weist
mit Art. 1 Abs. 2 GG dem Kernbestand an internationalen Menschenrechten
einen besonderen Schutz zu. Dieser ist in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG
die Grundlage für die verfassungsrechtliche Pflicht, auch bei der Anwendung
der deutschen Grundrechte die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer
konkreten Ausgestaltung als Auslegungshilfe heranzuziehen (vgl. BVerfGE 74,
358 [370]). Solange im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs-
und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft deutsche Gerichte die Pflicht,
der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben. Etwas anderes gilt
nur dann, wenn die Beachtung der Entscheidung des Gerichtshofs etwa wegen
einer geänderten Tatsachenbasis gegen eindeutig entgegenstehendes
Gesetzesrecht oder deutsche Verfassungsbestimmungen, namentlich auch gegen
Grundrechte Dritter verstößt. "Berücksichtigen" bedeutet, die
Konventionsbestimmung in der Auslegung des Gerichtshofs zur Kenntnis zu
nehmen und auf den Fall anzuwenden, soweit die Anwendung nicht gegen
höherrangiges Recht, insbesondere gegen Verfassungsrecht verstößt. Die
Konventionsbestimmung muss in der Auslegung des Gerichtshofs jedenfalls in
die Entscheidungsfindung einbezogen werden, das Gericht muss sich zumindest
gebührend mit ihr auseinander setzen. Bei einem zwischenzeitlich veränderten
oder bei einem anderen Sachverhalt werden die Gerichte ermitteln müssen,
worin der spezifische Konventionsverstoß nach Auffassung des Gerichtshofs
gelegen hat und warum eine geänderte Tatsachenbasis eine Anwendung auf den
Fall nicht erlaubt. Dabei wird es immer auch von Bedeutung sein, wie sich
die Berücksichtigung der Entscheidung im System des jeweiligen
Rechtsgebietes darstellt. Auch auf der Ebene des Bundesrechts genießt die
Konvention nicht automatisch Vorrang vor anderem Bundesrecht, zumal wenn es
in diesem Zusammenhang nicht bereits Gegenstand der Entscheidung des
Gerichtshofs war.
Vor diesem Hintergrund muss es jedenfalls möglich sein, gestützt auf das
einschlägige Grundrecht, in einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
zu rügen, staatliche Organe hätten eine Entscheidung des Gerichtshofs
missachtet oder nicht berücksichtigt. Dabei steht das Grundrecht in einem
engen Zusammenhang mit dem im Rechtsstaatsprinzip verankerten Vorrang des
Gesetzes, nach dem alle staatlichen Organe im Rahmen ihrer Zuständigkeit an
Gesetz und Recht gebunden sind (vgl. BVerfGE 6, 32 [41]).
II. Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg vom 30.
Juni 2004 verstößt gegen Art. 6 GG in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip. Das Oberlandesgericht hat das Urteil des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte vom 26. Februar 2004 bei seiner
Entscheidungsfindung nicht hinreichend berücksichtigt, obwohl es dazu
verpflichtet war.
1. Die angegriffene Entscheidung lässt nicht erkennen, ob und in welchem
Umfang sich das Oberlandesgericht damit auseinander gesetzt hat, dass das
vom Beschwerdeführer geltend gemachte Umgangsrecht grundsätzlich unter dem
Schutz des Art. 6 GG steht. Dieser verfassungsrechtliche Schutz ist vor dem
Hintergrund seiner Ausführungen zur komplementären Garantie in Art. 8 EMRK
zu sehen. Das Oberlandesgericht hätte sich in einer nachvollziehbaren Form
damit auseinander setzen müssen, wie Art. 6 GG in einer den
völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland
entsprechenden Art und Weise hätte ausgelegt werden können.
Dabei ist von zentraler Bedeutung, dass der vom Gerichtshof festgestellte
Verstoß der Bundesrepublik Deutschland gegen Art. 8 EMRK aus der Perspektive
des Konventionsrechts andauert, weil der Beschwerdeführer weiterhin keinen
Umgang mit seinem Sohn hat. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil
festgestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland bei der Wahl der Mittel,
mit denen das Urteil innerstaatlich umgesetzt werden muss, frei ist, sofern
diese Mittel mit den Schlussfolgerungen aus dem Urteil vereinbar sind. Nach
Ansicht des Gerichtshofs bedeutet dies, dass dem Beschwerdeführer mindestens
der Umgang mit seinem Kind ermöglicht werden müsse (EGMR, Urteil vom
26. Februar 2004, Ziffer 64). Diese Auffassung des Gerichtshofs hätte das
Oberlandesgericht veranlassen müssen, sich der Frage zu widmen, ob und
inwieweit ein persönlicher Umgang des Beschwerdeführers mit seinem Kind
gerade auch dessen Wohl entsprechen könnte und welche – gegebenenfalls durch
ein neues Sachverständigengutachten – belegbaren Hindernisse die
Berücksichtigung des Kindeswohls dem vom Gerichtshof für geboten erachteten
und von Art. 6 Abs. 2 GG geschützten Umgang entgegenstellt.
2. Das Oberlandesgericht nimmt insbesondere in verfassungsrechtlich nicht
haltbarer Weise an, dass ein Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte nur die Bundesrepublik Deutschland als Völkerrechtssubjekt,
nicht aber deutsche Gerichte binde. Alle staatlichen Organe der
Bundesrepublik Deutschland sind - in dem hier unter C. I. entwickelten
Umfang - an die Konvention und die für Deutschland in Kraft getretenen
Zusatzprotokolle im Rahmen ihrer Zuständigkeit kraft Gesetzes gebunden. Sie
haben die Gewährleistungen der Konvention und die Rechtsprechung des
Gerichtshofs bei der Auslegung von Grundrechten und rechtsstaatlichen
Gewährleistungen zu berücksichtigen.
Im vorliegenden Fall hatte das Oberlandesgericht durch das Urteil des
Gerichtshofs vom 26. Februar 2004 besondere Veranlassung zu einer
Auseinandersetzung mit dessen Gründen, weil die Entscheidung, mit der ein
Verstoß der Bundesrepublik Deutschland gegen die Konvention festgestellt
wurde, zu dem Gegenstand ergangen war, mit dem das Oberlandesgericht erneut
befasst war. Die Berücksichtigungspflicht beeinträchtigt das
Oberlandesgericht weder in seiner verfassungsrechtlich garantierten
Unabhängigkeit, noch zwingt sie das Gericht zu einem unreflektierten Vollzug
der Entscheidung des Gerichtshofs. Das Oberlandesgericht ist jedoch an
Gesetz und Recht gebunden, wozu nicht nur das bürgerliche Recht und das
einschlägige Verfahrensrecht gehören, sondern auch die im Range eines
einfachen Bundesgesetzes stehende Europäische Menschenrechtskonvention.
Bei der rechtlichen Würdigung insbesondere neuer Tatsachen, der Abwägung
widerstreitender Grundrechtspositionen wie derer der Pflegefamilie und der
Einordnung des Einzelfalls in den Gesamtzusammenhang familienrechtlicher
Fälle mit Bezug zum Umgangsrecht ist das Oberlandesgericht im konkreten
Ergebnis nicht gebunden. Es fehlt dem angegriffenen Beschluss aber an einer
Erörterung der genannten Zusammenhänge.
3. Es kann dahinstehen, ob das Oberlandesgericht in verfassungsrechtlich
nicht zu vertretender Weise davon, dass eine einstweilige Anordnung nur auf
Antrag und nicht - wie im vorliegenden Fall - auch von Amts wegen ergehen
kann, und damit von der Zulässigkeit der Beschwerde ausgegangen ist (vgl.
etwa OLG Saarbrücken, OLG-Report 2001, S. 269 einerseits, OLG Brandenburg,
OLG-NL 1994, S. 159 und OLG Naumburg, JMBl ST 2003, S. 346 andererseits).
Das Oberlandesgericht hat jedenfalls auch seine prozessrechtlichen
Darlegungen ohne zutreffende Berücksichtigung des Urteils des Gerichtshofs
vom 26. Februar 2004 angestellt. Dies war aber für die Frage von Bedeutung,
ob das Amtsgericht verpflichtet oder berechtigt war, von Amts wegen die
Einräumung eines Umgangsrechts zu prüfen und beim Vorliegen der
Tatbestandsvoraussetzungen - wie auch geschehen - Umgangskontakte im Wege
der einstweiligen Anordnung zu ermöglichen.
D. Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache
erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
E. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2
BVerfGG.
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