Voraussetzungen des Ausschlusses der freien Willensbestimmung


BGH, Urteil v. 05.12.1995 - XI ZR 70/95 (KG) 

Amtlicher Leitsatz:

Ein Ausschluß der freien Willensbestimmung liegt vor, wenn jemand nicht imstande ist, einen Willen frei und unbeeinflußt von einer vorliegenden Geistesstörung zu bilden und nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln.



Fundstellen:

NJW 1996, 918
LM H. 4/1996 § 104 BGB Nr. 11
MDR 1996, 348
DB 1996, 518
WM 1996, 104


Zum Sachverhalt:

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit eines Kreditvertrages. Die bekl. Bank gewährte dem Kl. ein Darlehen über 123000 DM zur Finanzierung einer Eigentumswohnung. Der Kl., für den seit Juni 1992 wegen erheblicher Minderbegabung bei bestehendem Analphabetismus ein Betreuer mit dem Aufgabenkreis Vermögensangelegenheiten bestellt ist, behauptet, er sei bei Abschluß des Kreditvertrages im Februar 1990 geschäftsunfähig gewesen; wegen geistiger Behinderung sei er nicht in der Lage, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Die Vorinstanzen haben seine Klage, die Nichtigkeit des Kreditvertrages festzustellen, abgewiesen. Die Revision des Kl. führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.

Aus den Gründen:

I. Das BerGer. hat zur Begründung der Klageabweisung ausgeführt: Der Vortrag des Kl. rechtfertige nicht den Schluß, er sei geschäftsunfähig. Es könne dahinstehen, ob die erhebliche Minderbegabung des Kl. bereits als krankhafte Störung der Geistestätigkeit einzustufen sei. Weder aus dem von ihm vorgelegten Bericht der Amtsärztin noch aus seinem sonstigen Vorbringen sei zu entnehmen, daß er sich im Jahre 1990 aufgrund Minderbegabung in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand befunden habe. Zwar werde im amtsärztlichen Bericht Geschäftsunfähigkeit des Kl. bejaht. Dies beruhe auf einer unzutreffenden rechtlichen Würdigung. Der Kl. gehe seit Jahren einer geregelten Tätigkeit als Bauhelfer nach, könne seinen Willen kundtun und sei in der Lage, die von der Betreuung ausdrücklich ausgenommenen Geschäfte des täglichen Lebens zu bewältigen. Daß ihm die Einsicht in die rechtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge des abgeschlossenen Vertrages fehle, sei ohne Belang. Eine auf schwierige Geschäfte beschränkte relative Geschäftsunfähigkeit sei abzulehnen.
II. Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
1. Von der Zulässigkeit der Feststellungsklage nach § 256 I ZPO ist das BerGer. allerdings zu Recht auch insoweit ausgegangen, als der Kl. auf Rückzahlung bereits erbrachter Zins- und Tilgungsleistungen hätte klagen können. Zwar fehlt es im allgemeinen an dem erforderlichen Feststellungsinteresse, soweit eine Leistungsklage möglich ist. Der Vorrang der Leistungsklage gilt aber nicht ausnahmslos. Wenn eine Feststellungsklage zur endgültigen Erledigung der aufgetretenen Streitpunkte führt, bestehen gegen die Zulässigkeit keine Bedenken (Senat, NJW 1995, 2219 = LM H. 11/1995 § 9 (Cg) AGBG Nr. 27 = WM 1995, 1219 (1220); NJW 1995, 2221 = LM H. 11/1995 § 9 (Cg) AGBG Nr. 28 = WM 1995, 1264 (1266)). So liegt der Fall hier.
2. Die Ausführungen zur Begründetheit der Feststellungsklage halten den Angriffen der Revision dagegen nicht stand. Sie rügt zu Recht, daß das BerGer. kein Sachverständigengutachten zu der Frage eingeholt hat, ob die freie Willensbestimmung des Kl. bei Abschluß des Kreditvertrages infolge krankhafter Störung der Geistestätigkeit ausgeschlossen war.
a) Das BerGer. hat dahinstehen lassen, ob die erhebliche Minderbegabung des Kl. bereits als krankhafte Geistesstörung anzusehen ist. Für die Revision ist deshalb davon auszugehen.
b) Den für Geschäftsunfähigkeit nach § 104 Nr. 2 BGB weiter erforderlichen Ausschluß freier Willensbestimmung meint das BerGer. weder dem Vortrag des Kl. noch dem vorgelegten Bericht der Amtsärztin entnehmen zu können. Dem kann nicht gefolgt werden.
aa) Ein Ausschluß der freien Willensbestimmung liegt vor, wenn jemand nicht imstande ist, seinen Willen frei und unbeeinflußt von der vorliegenden Geistesstörung zu bilden und nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln. Abzustellen ist dabei darauf, ob eine freie Entscheidung nach Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann, etwa weil infolge der Geistesstörung Einflüsse dritter Personen den Willen übermäßig beherrschen (BGH, NJW 1953, 1342 = LM § 739 ZPO Nr. 2; NJW 1970, 1680 (1681) = LM § 104 BGB Nr. 7; WM 1984, 1063 (1064)). Substantiiert dargelegt ist ein solcher Ausschluß nach allgemeinen Grundsätzen, wenn das Gericht auf der Grundlage des Klägervorbringens zu dem Ergebnis kommen muß, die Voraussetzungen des § 104 Nr. 2 BGB lägen vor. Auf die Wahrscheinlichkeit des Vortrags kommt es nicht an (BGH, NJW-RR 1993, 189; NJW 1995, 1958 (1959) = LM H. 10/1995 § 89b HGB Nr. 103).
bb) Gemessen darin ist das Vorbringen des Kl. jedenfalls unter Berücksichtigung des von ihm vorgelegten amtsärztlichen Berichts noch hinreichend substantiiert. Der Kl. hat ausdrücklich behauptet, er sei "nicht dazu in der Lage, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen". Bei Abschluß des Vertrages habe er nicht einmal den Sachverhalt erfassen können, sondern ganz unter dem Einfluß seines Bruders gestanden. Das BerGer. sei in seinem Beschluß, durch den Prozeßkostenhilfe verweigert wurde, fälschlich davon ausgegangen, daß er "in der Lage sei, seinen Willen frei zu betätigen". Dieses im Berufungsurteil nicht angesprochene, unter Sachverständigenbeweis gestellte Vorbringen erfüllt das Tatbestandsmerkmal "Ausschluß der freien Willensbestimmung", zumal der amtsärztliche Bericht Beispiele für völlig unvernünftiges Verhalten des Kl. enthält. Danach hat er, obwohl Analphabet, mindestens zweimal teure Lexika gekauft.
Hinzu kommt, daß die Amtsärztin den Kl. nach Untersuchung als "geschäftsunfähig" bezeichnet hat. Daß sie die Voraussetzungen des § 104 Nr. 2 BGB verkannt hat und nur relative Geschäftsunfähigkeit des Kl. gegeben ist, ist ihrem Bericht nicht zu entnehmen. Darin heißt es vielmehr ohne Einschränkung, der Kl. sei "nicht in der Lage, aufgrund des oben genannten mangelnden Kritikvermögens seine finanziellen Angelegenheiten sowie Rechtsangelegenheiten selbst zu besorgen." Entgegen der Ansicht des BerGer. besagt es insoweit nichts, daß der Kl. seinen Willen kundtun kann. Im Rahmen des § 104 Nr. 2 BGB kommt es auf die freie Willensbestimmung, nicht auf die Möglichkeit der Willenskundgabe an. Daß der Kl. seit Jahren als Bauhelfer berufstätig ist und geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens von der angeordneten Betreuung ausgenommen sind, mag seine absolute Geschäftsunfähigkeit zwar, ohne sie auszuschließen, weniger wahrscheinlich machen. Auf die Wahrscheinlichkeit kommt es für die Schlüssigkeit des Klägervorbringens jedoch, wie dargelegt, nicht an.



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