Reichsgericht vom 17.1.1908; RGZ 68, 6 ff: "Semilodei"-Fall


Leitsatz:

Nichtübereinstimmung des Willens infolge des Gebrauchs eines einem Telegraphenschlüssel entnommenen Phantasiewortes, den jede Partei einen anderen Sinn unterlegt.



Zentralproblem des Falles:

Der Fall betrifft eine ähnliche Problematik wie Ihering's berühmter "Speisekartenfall" (vgl. hierzu etwa Medicus AT Rn. 324 ff). Es geht um einen sog. "Totaldissens", d.h. um die Konstellation, daß aufgrund der unterschiedlichen (objektivierten) Empfängerhorizonte der Vertragsschließenden kein normativer Konsens der Erklärungen zu erreichen ist. In den (seltenen) Fällen dieser Art ist auch ein (anfechtbarer) Vertragsschluß zu verneinen, sondern nur noch eine Haftung aus c.i.c. (unter Anrechnung des Verschuldens von Mittelspersonen nach § 278 BGB!) zu prüfen.



Aus den Gründen:

"Die Beklagten hatten an R. zu New York am 16. April 1902 geschrieben, daß sie 6-8 Tonnen Weißmetall..., welche ohne jede Garantie, nach Angabe ihrer Lieferanten bei Bestellung des Materials enthalten müßten circa 86 Prozent Zinn, 7 ½ bis 8 Prozent Antimon, 7 ½ bis 8 Prozent Kupfer, freibleibend offerieren könnten fob Hamburg netto Kasse zum Preise von 188,75 Mark und daß sie feste Kabelordner erbäten. R. war nach der Feststellung des Berufungsgerichts von den Beklagten nicht ständig damit betraut, für sie Handelsgeschäfte zu vermitteln.
Die Beklagten bedienten sich seiner nur gelegentlich zur Vermittlung von Verkäufen in New York, sie hatten ihm weder allgemein, noch in dem hier streitigen Falle irgend eine Vertretungsmacht übertragen. R. trat in Unterhandlungen mit P. in New York - dem Rechtsvorgänger des Klägers -.
Das Berufungsgericht nimmt als bewiesen an: R. habe dem P. erklärt, daß er von den Beklagten beauftragt sei, eine Partie Weißmetall zu verkaufen, und daß die Beklagten die in ihrem Briefe vom 16. April angegebene Zusammensetzung garantierten; er habe ferner bei der Unterredung, in der man zum Abschlusse gelangte, dem P. den Brief der Beklagten vom 16. April gezeigt und diesen Brief, den weder P. noch die Zeugin T. wegen Unkenntnis der deutschen Sprache lesen konnten, fälschlich in das Englische dahin übersetzt, die Beklagten wollten die Garantie für die fragliche Gehaltsangabe übernehmen, während diese die Garantie in Wahrheit abgelehnt hätten. ..
Zwischen R. und den Beklagten war " Semilodei" als Kabelwort für die Erklärung einer festen Bestellung auf das freibleibende Angebot der Beklagten vom 16. April vereinbart. R. hatte dieses Kabelwort dem P. mitgeteilt und dahin erläutert, das brauche er nur den Beklagten zu kabeln, dann sei der Vertrag unter den verabredeten Bedingungen perfekt. Demzufolge hat P. am 6. Mai an die Beklagten das Kabeltelegramm gerichtet: "Accept R.'s Semilodei."...
Nach telegraphischen Zwischenverhandlungen über die Menge und über Zahlung des ganzen Kaufpreises gegen die Konnossemente nahmen die Beklagten durch Kabeltelegramm das Angebot des P. in dessen Kabeltelegramm vom 6. Mai an.
Nach Verschiffung der Ware und Einlösung der Konnossemente durch P.  wurde entdeckt, daß infolge des Verhaltens des R. der Käufer glaubte, mit Garantie gekauft zu haben, während die Beklagten - die Verkäufer - der Meinung waren, ohne Garantie verkauft zu haben.
Zur Klage auf Rückzahlung des Kaufpreises führt das Berufungsgericht aus: der Grund für die Tatsache, daß von den Parteien übereinstimmende Vertragserklärungen trotz nicht erzielter Willenseinigung über den wichtigen Punkt der Garantieübernahme abgegeben seien, liege darin, daß die Beklagten die von R. übermittelte Offerte richtig übermittelt glaubten, während sie unrichtig übermittelt war, und daß sie infolge dieses Irrtums auch über den Inhalt ihrer eigenen Erklärung im Irrtume gewesen seien. Werde die Sache, was in erster Reihe anzunehmen sei, so aufgefaßt, daß die Beklagten durch Annahme des Drahtangebotes des P. erklärt hätten, sie wollten zu den von R. dem P. mitgeteilten Bedingungen verkaufen, so seien sie über den Inhalt ihrer Erklärung im Irrtume gewesen und hätten danach ihre Vertragserklärung anfechten können. Hätten die Beklagten aber durch Annahme jener Drahtofferte erklärt, unter den Bedingungen ihrer an R. geschriebenen Mitteilung verkaufen zu wollen, so würde ihnen die Anfechtung auch aus § 120 B.G.B. zustehen. Die nach beiden Auffassungen zulässige Anfechtung wegen Irrtums über den Inhalt ihrer Vertragserklärungen hätten die Beklagten rechtzeitig durch den Brief vom 15. Juni 1902 erklärt, worin sie dem P., nachdem dieser ihnen den wirklichen Sachverhalt mitgeteilt hatte, erklärten, irgend eine etwa von R. geleistete Garantie gehe sie nichts an; der von diesem angeblich geschlossene Vertrag binde sie nicht. Aus der Richtigkeit des hiernach von den Beklagten angefochtenen Vertrages ergebe sich die Begründetheit des Anspruches auf Rückzahlung des Kaufpreises und Ersatz der von P. auf die Ware verwendeten Unkosten...
Die Revision rügt, das Berufungsgericht nehme zu Unrecht an, daß die Beklagten wegen Irrtums angefochten hätten. Dieser Angriff ist gerechtfertigt. Zur Anfechtungserklärung wegen Irrtums genügt, aber ist auch nötig der Wille, das Geschäft wegen jenes Willensmangels nicht bestehen lassen zu wollen. Die Anfechtungserklärung erfordert danach als Mindestes Kenntnis der Möglichkeit eines Anfechtungsgrundes - hier Kenntnis der Möglichkeit eines Willensmangels -. Durch die Briefe vom 15. Juni und 21. Mai haben indes die Beklagten die Garantiezusage, auf die Von P. hingewiesen worden war, lediglich deshalb als unwirksam bezeichnet, weil dem R. die Vertretungsmacht zur Übernahme einer solchen Garantie gefehlt habe. Die Bezeichnung einer Garantiezusage als unwirksam, da dem Vermittler die Vertretungsmacht fehlte, enthält keine auch nur fürsorgliche Anfechtung der Zusage oder des Vertrages wegen eines angeblichen Willensmangels - hier wegen eines Irrtums über den Inhalt der Erklärung - in der Person des angeblich Nichtvertretenen. Der Erwägungsgrund, aus dem das Berufungsgericht zur Richtigkeit des Vertrages und zur Zuerkennung des Bereicherungsanspruches der Kläger gelangt, ist danach nicht haltbar.
Nach dem festgestellten Sachverhältnis kann indes die Entscheidung des Berufungsgerichtes aus anderen rechtlichen Gründen aufrecht erhalten werden. P. hat in seinem Telegramme vom 6. Mai erklärt "Semilodei"; die Beklagten haben durch ihre Telegramme angenommen die Erklärung "Semilodei". Semilodei ist indes an sich nur ein inhaltsloses Phantasiewort. Die Erklärung dieses Wortes ist, für sich allein betrachtet, die Erklärung eines inhaltlosen Nichts; gleiches gilt von der Annahme der Erklärung "Semilodei". Für P. war die Erklärung des Wortes "Semilodei" die Erklärung eines Kaufangebotes mit Garantiezusage; für die Beklagten war sie die Erklärung eines Kaufangebotes ohne Garantiezusage, und danach ihre Annahme der Erklärung "Semilodei" die Erklärung der Annahme eines Kaufangebotes ohne Garantiezusage. Diese Verschiedenheit hatte ihren Grund in den unrichtigen Mitteilungen des R. an P. Nach den rechtlich einwandfreien Ausführungen des Berufungsgerichtes hatte R. keine Vertretungsmacht der Beklagten; die Beklagten haften daher aus diesem rechtlichen Gesichtspunkte nicht für dessen unrichtige Übermittelung ihres freibleibenden Angebotes. Zuungunsten des P. kann nicht gesagt werden, er habe sich durch den Gebrauch des von der Beklagten gewählten Phantasiewortes das angeeignet, was die Beklagten damit bezeichnen wollten, und habe dies daher mit dem Erfolge gegen sich gelten zu lassen, daß der Vertrag ohne Garantiezusage zustande gekommen wäre. Aber auch die Auffassung zuungunsten der Beklagten ist abzulehnen, sie hätten mit der Möglichkeit rechnen müssen, daß R. ihren Vorschlag unrichtig mitgeteilt und P. durch die Erklärung "Semilodei" ein Kaufangebot anderen Inhaltes als das von ihnen an R. überschriebene erklärt habe, und sie hätten danach durch die Annahme der Erklärung "Semilodei" erklärt, allerdings nicht erklären wollen, das Kaufangebot anzunehmen, wie es von P. auf Grund der Mitteilungen des R. gestellt worden sei. Darum sind die beiden Auffassungen nicht haltbar, womit das Berufungsgericht zur Annahme eines äußerlich zustande gekommenen, von den Beklagten nur wegen Irrtums über den Inhalt der Erklärung anfechtbaren  Vertrages mit der Garantiezusage gelangt ist.
Vielmehr liegt infolge des Gebrauches des Phantasiewortes "Semilodei" zur Erklärung beider Vertragsteile der eigenartige Fall vor: äußerlich stimmen die Erklärungen des P. und der Beklagten überein; jener bietet "Semilodei" an, diese nehmen "Semilodei" an: in Wahrheit hat aber doch jeder Teil damit etwas anderes im rechtsgeschäftlichen Verkehre erklärt: P. ein Kaufangebot mit Garantiezusage, die Beklagten eine Annahme eines solchen ohne Garantiezusage. Danach decken sich die Erklärung des Kaufangebotes und die Erklärung seiner Annahme nicht. Die Parteien haben sich über den Punkt der Garantiezusage nicht geeinigt. Diesen Punkt hat das Berufungsgericht als "wichtigen" bezeichnet, und es kann seinem Bedenken unterliegen, daß die Parteien ohne eine Bestimmung über diesen Punkt den Kaufvertrag nicht geschlossen hätten. Deshalb ist wegen fehlender Willensübereinstimmung ein Vertrag überhaupt nicht zustande gekommen. Von dieser Grundlage aus ist der Anspruch auf Herausgabe des Kaufpreises mit Zinsen vom Tage der Zahlung an nach den Grundsätzen von der ungerechtfertigten Bereicherung begründet."...