Schmerzensgeldanspruch wegen Vernichtung einer Spermakonserve

BGH, Urteil v. 09.11.1993  - VI ZR 62/93 (Frankfurt a. M.)


Fundstellen:

BGHZ 124, 52
LM H. 3/1994 § 823 (Aa) BGB Nr. 151
MDR 1994, 140
JZ 1994, 464
FamRZ 1994, 154
BGHZ 124, 52



Amtl. Leitsatz:

Wird Sperma, das der Spender hat einfrieren lassen, um sich für eine vorhersehbare Unfruchtbarkeit die Möglichkeit zu erhalten, eigene Nachkommen zu haben, durch das Verschulden eines anderen vernichtet, dann steht dem Spender unter dem Gesichtspunkt der Körperverletzung ein Anspruch auf Schmerzensgeld zu.



Zum Sachverhalt:

Der damals 31 Jahre alte Kl. unterzog sich im Jahre 1987 wegen eines Harnblasenkarzinoms einer Operation, von der er wußte, daß sie zu seiner Zeugungsunfähigkeit führen werde. Um sich die Möglichkeit zu erhalten, einmal eigene Kinder zu haben, ließ er vor der Operation in der Universitätsklinik der Bekl. von ihm stammendes Sperma in einer Kryokonserve einlagern. Da die Lagerungskapazität der Bekl. begrenzt ist, fragte sie bei dem Kl. mit Schreiben vom 19. 1. 1989 an. ob er an einer weiteren Konservierung interessiert sei; sie kündigte in diesem Schreiben die Vernichtung der Spermakonserven an, wenn sie nicht innerhalb von vier Wochen eine gegenteilige Mitteilung des Kl. erhalte. Der Kl. antwortete daraufhin in einem eingeschriebenen Brief vom 26. 1. 1989, daß er die weitere Konservierung wünsche. Dieses Schreiben ging zwar bei der Bekl. ein, gelangte aber aus nicht mehr aufklärbaren Gründen nicht zu der bei der Bekl. über den Kl. geführten Akte. Die Spermakonserve wurde deshalb am 29. 5. 1989 vernichtet. Als sich der Kl., der im März 1989 geheiratet hatte, mit seiner Ehefrau den Wunsch nach einem gemeinsamen Kind erfüllen wollte, erfuhr er von der Bekl., daß in der Zwischenzeit sein Sperma vernichtet worden war. Mit der Klage verlangt der Kl. von der Bekl. die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes, das mindestens 25000 DM betragen soll. Hierzu macht er geltnd, seine Ehefrau hätte durch eine Insemination mit dem konservierten Sperma ohne weiteres ein Kind empfangen können. Sein Eigentum an dem Sperma werde von seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht überlagert, so daß ihm in Parallele zu der zum Ehrenschutz entwickelten Rechtsprechung des BGH eine Geldentschädigung zustehe. Außerdem könne er aus dem Gesichtspunkt der Körperverletzung ein Schmerzensgeld  verlangen; die Vernichtung der Sperma-Krykokonserve habe bei ihm zu psychosomatischen Störungen geführt. Die Bekl., die nicht bestreitet, daß es durch eine Sorgfaltspflichtverletzung in ihrem Bereich zu der Vernichtung des Spermas gekommen ist, hat ihre Verpflichtung zur Erstattung der Kosten anerkannt, die dem Kl. durch die Konservierung entstanden sind. Sie hält sich jedoch nicht für verpflichtet, an den Kl. ein Schmerzensgeld zu zahlen. Hierzu macht sie geltend, daß selbst dann, wenn die Entscheidungsfreiheit über das "Ob" und "Wann" der Fortpflanzung dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zugeordnet werde, dem Kl. ein Anspruch auf eine Entschädigung in Geld nicht zustehe, weil sie nur fahrlässig, nicht aber zielgerichtet in dieses Recht eingegriffen habe.
Das LG hat die Klage abgewiesen, das OLG hat die Berufung des Kl. zurückgewiesen. Die - zugelassene - Revision des Kl. hatte Erfolg.

Aus den Gründen:

I. Nach Auffassung des BerGer. steht dem Kl. gegen die Bekl. weder ein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes nach § 847 I BGB noch auf Zahlung einer Geldentschädigung wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu.
Aus dem Gesichtspunkt der Körperverletzung scheitere ein Schmerzensgeldanspruch schon im Ansatz, weil die behaupteten psychosomatischen Störungen nicht auf einem Eingriff in die körperliche Befindlichkeit des Kl. beruhten. Eine Gesundheitsverletzung i. S. von § 847 I BGB sei gleichfalls zu verneinen; seelische Beeinträchtigungen, wie sie der Kl. geltend mache, könnten nicht als Gesundheitsverletzung qualifiziert werden; der Kl. habe auch nicht schlüssig vorgetragen, daß die behaupteten psychosomatischen Störungen den Heilungsverlauf der Krebserkrankung ungünstig beeinflußt hätten. Auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Kl. sei nicht verletzt. Allerdings habe die Vernichtung des Spermas die Freiheit des Kl. verletzt zu entschieden, ob, wie und wann sein Sperma zur Befruchtung eingesetzt werde. Diese Freiheit werde jedoch vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht, das nur den Bestand der Rechtsposition schütze, nicht umfaßt; das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewähre einen Integritäts-, nicht aber einen Aktivitätsschutz. Der Kl. könne sich auch nicht auf ein "Recht auf Familienplanung" berufen; ein solches Recht könne nicht anerkannt werden. Im übrigen fehle es, da die Vernichtung der Spermakonserve nur auf einem fahrlässigen Verhalten der Bediensteten der Bekl. beruhe, an einem zielgerichteten Eingriff in die Rechtsposition des Kl. Auch aus diesem Grund scheide die Zubilligung einer Geldentschädigung aus.
II. Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
1. Die Revision beanstandet nicht die Überlegungen, mit denen das BerGer. wegen der behaupteten psychosomatischen Störungen und seelischen Beeinträchtigungen eine Körper- und Gesundheitsverletzung und damit einen Schmerzensgeldanspruch des Kl. schon deshalb aus § 847 I BGB verneint. Insoweit sind auch Rechtsfehler nicht erkennbar.
2. Der Schmerzensgeldanspruch des Kl. ist aber wegen der schuldhaften Vernichtung seines Spermas begründet.
a) Nach nicht unbestrittener, aber weit überwiegender Auffassung wird ein Körperteil, der vom Körper abgetrennt wird, zu einer Sache mit der Folge, daß sich das Recht des Betroffenen an seinem Körper in Sacheigentum am abgetrennten Körperteil umwandelt (vgl. etwa Kregel, in: RGRK, 12. Aufl., § 90 Rdnr. 2; Holch, in: MünchKomm, 3. Aufl., § 90 Rdnr. 21; Palandt/Heinrichs, BGB, 52. Aufl., § 90 Rdnr. 3; Staudinger/Dilcher, BGB, 12. Aufl., § 90 Rdnr. 15; Taupitz, JZ 1992, 1089 (1092); a. A. Bernat, Rechtsfragen medizinisch assistierter Zeugung, 1989, S. 115; Forkel, JZ 1974, 593). Teilweise wird die Auffassung vertreten, daß dies auch für das konservierte Sperma zu gelten habe (vgl. Holch, in: MünchKomm und Palandt/Heinrichs, jeweils aaO). Dieser Meinung ist auch das BerGer. Danach würde sich die Vernichtung des Spermas des Kl. nicht als Körperverletzung darstellen, an die § 847 BGB Schmerzensgeldansprüche knüpft.
Diese Betrachtung erscheint dem Senat indes zu eng. Der Senat hat den Begriff der Körperverletzung i. S. von §§ 832 I, 847 I BGB weit ausgelegt. Er versteht das Recht am eigenen Körper als gesetzlich ausgeformten Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und erblickt eine Verletzung des Körpers, die § 823 I BGB ausdrücklich neben der Verletzung der Gesundheit erwähnt, in jedem unbefugten, weil von der Einwilligung des Rechtsträgers nicht gedeckten Eingriff in die Integrität der körperlichen Befindlichkeit (vgl. Senat, NJW 1980, 1452 (1453), insoweit in BGHZ 76, 259 nicht abgedruckt). Schutzgut des § 823 I BGB ist nicht die Materie, sondern das Seins- und Bestimmungsfeld der Persönlichkeit, das in der körperlichen Befindlichkeit materialisiert ist (RGRK, 12. Aufl., § 823 Rdnr. 9). Die Vorschrift des § 823 I BGB schützt den Körper als Basis der Persönlichkeit.
Angesichts der heutigen medizinsichen Möglichkeiten gewinnt das aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgendes Selbstbestimmungsrecht des Rechtsträgers für das Schutzgut Körper eine zusätzliche Bedeutung. Der medizinische Fortschritt läßt es zu, dem Körper Bestandteile zu entnehmen und sie ihm später wieder einzugliedern. Das gilt beispielsweise für zur Eigentransplantation bestimmte Haut- oder Knochenbestandteile, für die zur Befruchtung entnommene Eizelle und für die Eigenblutspende. Werden dem Körper Bestandteile entnommen, um mit ihm nach dem Willen des Rechtsträgers zur Bewahrung der Körperfunktionen oder zu ihrer Verwirklichung später wieder vereinigt zu werden, dann führt eine Betrachtung, nach der § 823 I BGB die körperliche Integrität in Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Rechtsträgers umfassend schützt, zu dem Ergebnis, daß diese Bestandteile auch während ihrer Trennung vom Körper aus der Sicht des Schutzzweckes der Norm mit diesem weiterhin eine funktionale Einheit bilden. Damit erscheint es geboten, eine Beschädigung oder Vernichtung solcher ausgegliederten Körperbestandteile als Körperverletzung i. S. von §§ 823 I, 847 I BGB zu werten.
Anders liegen die Dinge, wenn die ausgegliederten Körperbestandteile nicht nach dem Willen des Rechtsträgers dazu bestimmt sind, seinem Körper wieder eingeglieder zu werden. Für solche Fälle der endgültigen Trennung bleibt es dabei, daß die abgetrennten Körperbestandteile mit der Abtrennung ihre Zuordnung zum Schutzgut Körper verlieren und zu Sachen im Rechtssinn werden; dies deshalb, weil hier der Gedanke, nach dem das Selbstbestimmungsrecht des Rechtsträgers den Körper und seine ausgegliederten Bestandteile weiterhin als eine funktionale Einheit erscheinen läßt, nicht zum Tragen gelangt. Das gilt insbesondere für gespendete Organe, die nach dem Willen des Spenders dazu bestimmt sind, einer anderen Person implantiert zu werden, oder für fremdbestimmte Blutspenden. In solchen Fällen können zwar auch Entschädigungsansprüche entstehen, wenn die Spende gegen den ausdrücklichen oder stillschweigend erklärten Willen des Spenders verwendet oder vernichtet wird, weil auch das Sacheigentum hier von dem Persönlichkeitsrecht überlagert wird (vgl. Bernat, S. 115; Coester-Waltjen, Verh. d. 56. DJT, Bd. I Teil B S. 32; Deutsch, MDR 1985, 179; VersR 1985, 1004; NJW 1986, 1974; Giesen, FamRZ 1970, 569; Heldrich, JuS 1969, 461; Laufs, JZ 1986, 772; Püttner/Brühl, JZ 1987, 532; Taupitz, JZ 1992, 1093); dies aber nur unter den besonderen, für die Fälle einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts  entwickelten einschränkenden Voraussetzungen.
b) Auf dem Boden dieser Erwägungen stellt das konservierte Sperma, das nach dem Willen des Rechtsträgers dazu bestimmt ist, zu seiner Fortpflanzung verwendet zu werden, einen Sonderfall dar. Einerseits ist das Sperma endgültig vom Körper des Rechtsträgers getrennt, andererseits ist es dazu bestimmt, eine körpertypische Funktion, die der Fortpflanzung des Rechtsträgers, zu erfüllen. Jedenfalls wenn wie hier die Spermakonserve die verlorene Fortpflanzungsfähigkeit substituieren soll, hat sie für die körperliche Integrität des Rechtsträgers und die in dieser begriffene personale Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung nach Gewicht und Inhalt keine geringere Bedeutung als die Eizelle oder andere körperliche Bestandteile, die nach dem zuvor Gesagten auch nach ihrer Entnahme aus dem Körper von dessen Schutz durch die §§ 823 I, 847 I BGB erfaßt sind. Ebenso wie die zur Befruchtung entnommene und zur Reimplantation bestimmte Eizelle verkörpert das konservierte Sperma für seinen Rechtsträger die im Streitfall einzige Möglichkeit, seine körperlichen Funktionen zur Hervorbringung von Nachkommen, denen er seine genetischen Erbinformationen weitergibt, zur Geltung zu bringen. Dieser Gleichartigkeit und Gleichwertigketi im deliktischen Schutzbedürfnis ebenso wie im deliktischen Schutzzweck muß nach Auffassung des Senats auch in den deliktsrechtlichen Folgen Rechnung getragen werden. Sollte gleichwohl das konservierte Sperma selbst in Fällen wie diesem allein deshalb, weil es nicht in den Körper des Rechtsträgers zurückkehrt, tatbestandlich in dem Schutzgut der körperlichen Integrität nach Maßgabe dieser Vorschriften nicht erfaßt sein, so sind diese  jedenfalls unter den genannten Voraussetzungen entsprechend anzuwenden. Zu solcher die §§ 823 I, 847 I BGB erweiternden Rechtsanwendung auch in diesem Fall legitimiert das Persönlichkeitsrecht des Rechtsträgers, das durch die Vernichtung der Spermakonserve nicht anders und nicht geringer betroffen ist als das Persönlichkeitsrecht der Frau durch die Vernichtung einer ihrem Körper entnommenen und zur Reimplantation bestimmten Eizelle. Ebenso wie der betroffenen Frau in jenem Fall, so steht dem Kl. hier auf der Grundlage des § 847 I BGB ein Anspruch auf Schmerzensgeld zu.
3. Zur Bestimmung der Höhe des Schmerzensgeldes bedarf es keiner weiteren tatrichterlichen Feststellungen; die für die Schmerzensgeldbemessung maßgeblichen Beurteilungselemente sind unstreitig. Für die Bestimmung des Schmerzensgeldes kommt es nicht darauf an, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, mit der die Ehefrau des Kl. ein Kind bekommen hätte, wenn eine Insemination mit dem Sperma des Kl. vorgenommen worden wäre. Entscheidend ist die Belastung, der der Kl. ausgesetzt ist, weil er die einzige ihm noch verbliebene Chance verloren hat, mit seiner Ehefrau ein gemeinsames Kind zu haben. Diese Belastung wiegt schwer. Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, daß die Vernichtung des Spermas auf einem Versehen beruht, das den Bediensteten der Bekl. im Zuge von Bemühungen unterlaufen ist, die gerade darauf gerichtet waren, das Selbstbestimmungsrecht des Kl. zu wahren. In Würdigung dieser Umstände hält der Senat ein Schmerzensgeld von 25000 DM für angemessen.



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