Handlungsbegriff im Deliktsrecht, Beweislast für das Nichtvorliegen einer Handlung wg. Bewußtlosigkeit ("Herzinfarkt am Steuer")
BGH, Urt. vom 1. Juli 1986 - VI ZR 294/85
Fundstellen:

BGHZ 98,135
NJW 1987, 121


Amtl. Leitsatz:

Ist streitig, ob der aus Delikt in Anspruch genommene Schädiger bei der Verursachung des Schadens bewußtlos war, so trifft ihn die Beweislast für die Bewußtlosigkeit; nicht etwa hat der Geschädigte den Beweis für eine vom Willen beherrschbare Handlung des Schädigers zu führen.



Sachverhalt:

Der Ehemann der Klägerin befuhr am 1. Mai 1984 mit seinem Pkw die Bundesstraße von M. in Richtung L. Die Klägerin war seine Beifahrerin. Gegen 15.20 Uhr kam ihnen bei einer Fahrzeugkolonne Ernst St. mit seinem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Pkw entgegen. Dieses Fahrzeug geriet auf die Gegenfahrbahn. Es streifte dort zwei Kraftfahrzeuge und stieß sodann frontal gegen den Pkw des Ehemannes der Klägerin. Die Klägerin wurde schwer verletzt; Ernst St. verstarb auf dem Transport ins Krankenhaus. Die Beklagte hat ihre volle Haftung für den Unfallschaden im Rahmen des Straßenverkehrsgesetzes anerkannt.
Die Klägerin verlangt die Zahlung eines Schmerzensgeldes. Sie macht geltend, der Beweis des ersten Anscheins spreche dafür, daß Ernst St. den Unfall verschuldet habe; zumindest stehe ihr ein Anspruch aus § 829 BGB zu. Die Beklagte ist demgegenüber der Ansicht, die gesamten Umstände des Unfallablaufs ließen nur den Schluß zu, daß Ernst St. einen Herzinfarkt erlitten habe und bereits bewußtlos gewesen sei, als sein Fahrzeug aus der Kolonne ausscherte. Die Voraussetzungen des § 829 BGB seien nicht erfüllt.
Beide Vorinstanzen haben der Klägerin ein Schmerzensgeld von 10000 DM zuerkannt. Die (zugelassene) Revision der Beklagten führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.

Aus den Gründen:

I., II.
Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht in allen Punkten stand.
1. Im Ergebnis mit Recht legt das Berufungsgericht allerdings der Beklagten die Beweislast dafür auf, daß ihr Versicherungsnehmer Ernst St. bewußtlos war, als er den Verkehrsunfall und die Verletzung der Klägerin verursacht hat. Dieser Beweislastverteilung stehe nicht, wie die Revision meint, der Umstand entgegen, daß die Klägerin als Voraussetzung des von ihr geltend gemachten Anspruchs aus § 823 Abs. 1 BGB eine »willkürliche« Handlung des Ernst St. zu beweisen habe.
a) Richtig ist der Ausgangspunkt der Revision, daß - jedenfalls nach heutigem Verständnis - von einer »Handlung« nur bei einem Verhalten gesprochen werden kann, das der Bewußtseinskontrolle und Willenslenkung unterliegt und somit beherrschbar ist. Allein ein solches »willkürliches« Verhalten kann dem Schädiger zugerechnet werden; »unwillkürliche« Körperbewegungen, die vom menschlichen Bewußtsein nicht kontrolliert werden können, denen also jede Willenssteuerung von vornherein fehlt, vermögen eine Verschuldenshaftung nicht zu begründen (BGHZ 39,103,106 ff.; BGB-RGRK 12. Aufl. § 823 Rdn. 72; MünchKomm/Mertens 2. Aufl. § 823 Rdn. 17; Larenz, Schuldrecht II 12. Aufl. § 71 I a S. 589 f.; Esser/Schmidt, Schuldrecht I 6. Aufl. § 25 III 1 S. 353).
b) Diese Erwägung rechtfertigt es jedoch nicht, dem Geschädigten in allen Fällen, in denen der Schädiger geltend macht, den Schaden nicht durch ein willensabhängiges selbsttätiges Handeln herbeigeführt zu haben, den Beweis für eine willensgesteuerte Handlung aufzuerlegen. Vielmehr ist insoweit zu unterscheiden, aus welchen Gründen es möglicherweise an einem beherrschbaren Verhalten gefehlt hat.
Bringt der Schädiger vor, der Verletzungsvorgang sei unter physischem Zwang erfolgt oder als unwillkürlicher Reflex durch fremde Einwirkung ausgelöst worden, so beruft er sich auf außerhalb seiner Person liegende Umstände, welche die Willenssteuerung seines Verhaltens ausgeschlossen haben sollen. In derartigen Fallgestaltungen, bei denen bereits das äußere Erscheinungsbild eines eigenständigen Handelns des Täters in Frage steht (vgl. Schewe, Reflexbewegung, Handlung, Vorsatz, 1972, S. 24 ff. , 55,69), hat allerdings der Geschädigte den Beweis für eine vom Willen getragene Handlung des Schädigers zu führen (BGH = aaO). Anderes gilt jedoch für die Fälle, in denen eine der Willenslenkung unterliegende Handlung des Schädigers aufgrund innerer Vorgänge, nämlich deshalb fraglich erscheint, weil der Täter möglicherweise bei der Schadensverursachung bewußtlos war (a. A. Baumgärtel, Handbuch der Beweislast im Privatrecht § 823 BGB Rdn. 3 und § 827 BGB Rdn. 3). Im Gegensatz zu der Schadensverursachung durch ein Reflex- oder Zwangsverhalten ist nämlich für die Verursachung von Schäden im Zustand der Bewußtlosigkeit in § 827 Satz 1 BGB eine gesetzliche Regelung dahin getroffen worden, daß bei solcher Sachlage (lediglich) die Verantwortlichkeit des Schädigers ausgeschlossen ist.
Die Fassung des § 827 BGB ist in Anlehnung an die damalige Vorschrift des § 51 StGB erfolgt, daß eine strafbare Handlung nicht vorhanden sei, wenn der Täter »zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit« befand (vgl. Staudinger/Schäfer, BGB 12. Aufl. § 827 Rdn. 2). Die Einbettung der Bewußtlosigkeit in die Fälle der Zurechnungsunfähigkeit in § 827 BGB stellt eine gesetzgeberische Wertung dar: Die Bewußtseinslage ist deliktsrechtlich aus dem Begriff der Handlung ausgeklammert und als Element der Deliktsfähigkeit mit der Haftungsvoraussetzung des Verschuldens in der Weise verknüpft worden, daß der Schädiger die Beweislast für den Ausnahmefall einer Bewußtlosigkeit bei der Schadensverursachung trägt.
Dieser Wertung kann nicht entgegengehalten werden, der Gesetzgeber habe verkannt, daß es bei »völliger« Bewußtlosigkeit bereits an einer willensgesteuerten Handlung fehle; die Regelung des § 827 BGB könne sich deshalb allein auf graduell schwächere Formen der Bewußtseinsstörung (Schlaftrunkenheit, Rauschzustände, Halluzinationen o. ä.) beziehen. Wie sich aus den Motiven (Mot. II S. 731)
»Unwillkürliche Handlungen kommen als juristische Handlungen überhaupt nicht in Betracht, können nicht zugerechnet werden. Eine Anwendung dieses Grundsatzes enthält die Vorschrift des § 708 (jetzt: § 827 BGB), daß eine Person, welche, während sie des Vernunftgebrauchs beraubt war, einem anderen einen Schaden zugefügt hat, hierfür nicht verantwortlich ist«
ergibt, hat der Gesetzgeber dieses Problem bei seiner Wertung in § 827 BGB durchaus gesehen.
An dem Normgehalt des § 827 BGB ist trotz der Änderungen festgehalten worden, die im Strafrecht die Ausgangsvorschrift des § 51 StGB im Laufe der Jahre erfahren hat. Dort ist die »Bewußtlosigkeit« zunächst durch den Begriff »Bewußtseinsstörung« und in der jetzigen Fassung des § 20 StGB sodann durch die »tiefgreifende Bewußtseinsstörung« ersetzt worden (vgl. im einzelnen Staudinger/Schäfer aaO). Damit ist der Erwägung Rechnung getragen worden, daß es bei völligem Mangel des Bewußtseins im strafrechtlichen Sinne bereits an einer Handlung fehlt (vgl. RGSt 64,349,353). Dem hat der Zivilgesetzgeber die Vorschrift des § 827 BGB jedoch nicht angepaßt. Eine solche Angleichung kann nicht an seiner Stelle durch den Richter vorgenommen werden, zumal angesichts der Wesensverschiedenheit von Strafe und zivilrechtlicher Ersatzpflicht sachliche Gründe für eine unterschiedliche Behandlung sprechen (vgl. Staudinger/Schäfer aaO Rdn. 3). Insbesondere für die hier entscheidende Frage der Beweislast, die sich im Strafprozeß völlig anders darstellt, muß es deshalb für die Haftung aus unerlaubter Handlung nach § 827 Satz 1 BGB dabei verbleiben, daß der Beweis für einen Zustand der Bewußtlosigkeit bei der Schadensverursachung vom Schädiger zu führen ist.
Solange im Streitfall die Beklagte den Beweis für eine Bewußtlosigkeit ihres Versicherungsnehmers nicht erbringt, ist deshalb von einer zurechenbaren Handlung des Ernst St. auszugehen, die nach Maßgabe der in der Rechtsprechung dazu entwickelten Kriterien als Grundlage eines Anscheinsbeweises für einen Fahrfehler in Betracht kommt (vgl. zuletzt Senatsurteil vom 19. November 1985 -VI ZR 176/84 -VersR 1986,343,344 m. w. Nachw.).
2. Das Berufungsurteil kann aber deshalb keinen Bestand haben, weil die Überzeugungsbildung des Berufungsrichters, die Beklagte könne eine Bewußtlosigkeit ihres Versicherungsnehmers bei der Schadensverursachung nicht beweisen, von Rechtsfehlern beeinflußt ist... (wird ausgeführt).


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