BGHZ 98,135
NJW 1987, 121
Amtl. Leitsatz:
Ist streitig, ob der aus Delikt in Anspruch genommene Schädiger bei der Verursachung des Schadens bewußtlos war, so trifft ihn die Beweislast für die Bewußtlosigkeit; nicht etwa hat der Geschädigte den Beweis für eine vom Willen beherrschbare Handlung des Schädigers zu führen.
Der Ehemann der Klägerin befuhr am 1. Mai
1984 mit seinem Pkw die Bundesstraße von M. in Richtung L. Die Klägerin
war seine Beifahrerin. Gegen 15.20 Uhr kam ihnen bei einer Fahrzeugkolonne
Ernst St. mit seinem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Pkw entgegen.
Dieses Fahrzeug geriet auf die Gegenfahrbahn. Es streifte dort zwei Kraftfahrzeuge
und stieß sodann frontal gegen den Pkw des Ehemannes der Klägerin.
Die Klägerin wurde schwer verletzt; Ernst St. verstarb auf dem Transport
ins Krankenhaus. Die Beklagte hat ihre volle Haftung für den Unfallschaden
im Rahmen des Straßenverkehrsgesetzes anerkannt.
Die Klägerin verlangt die Zahlung eines Schmerzensgeldes.
Sie macht geltend, der Beweis des ersten Anscheins spreche dafür,
daß Ernst St. den Unfall verschuldet habe; zumindest stehe ihr ein
Anspruch aus § 829 BGB zu. Die Beklagte ist demgegenüber der
Ansicht, die gesamten Umstände des Unfallablaufs ließen nur
den Schluß zu, daß Ernst St. einen Herzinfarkt erlitten habe
und bereits bewußtlos gewesen sei, als sein Fahrzeug aus der Kolonne
ausscherte. Die Voraussetzungen des § 829 BGB seien nicht erfüllt.
Beide Vorinstanzen haben der Klägerin ein
Schmerzensgeld von 10000 DM zuerkannt. Die (zugelassene) Revision der Beklagten
führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.
Aus den Gründen:
I., II.
Das Berufungsurteil hält den Angriffen der
Revision nicht in allen Punkten stand.
1. Im Ergebnis mit Recht legt das Berufungsgericht
allerdings der Beklagten die Beweislast dafür auf, daß ihr Versicherungsnehmer
Ernst St. bewußtlos war, als er den Verkehrsunfall und die Verletzung
der Klägerin verursacht hat. Dieser Beweislastverteilung stehe nicht,
wie die Revision meint, der Umstand entgegen, daß die Klägerin
als Voraussetzung des von ihr geltend gemachten Anspruchs aus § 823
Abs. 1 BGB eine »willkürliche« Handlung des Ernst St.
zu beweisen habe.
a) Richtig ist der Ausgangspunkt der Revision,
daß - jedenfalls nach heutigem Verständnis - von einer »Handlung«
nur bei einem Verhalten gesprochen werden kann, das der Bewußtseinskontrolle
und Willenslenkung unterliegt und somit beherrschbar ist. Allein ein solches
»willkürliches« Verhalten kann dem Schädiger zugerechnet
werden; »unwillkürliche« Körperbewegungen, die vom
menschlichen Bewußtsein nicht kontrolliert werden können, denen
also jede Willenssteuerung von vornherein fehlt, vermögen eine Verschuldenshaftung
nicht zu begründen (BGHZ 39,103,106 ff.; BGB-RGRK 12. Aufl. §
823 Rdn. 72; MünchKomm/Mertens 2. Aufl. § 823 Rdn. 17; Larenz,
Schuldrecht II 12. Aufl. § 71 I a S. 589 f.; Esser/Schmidt, Schuldrecht
I 6. Aufl. § 25 III 1 S. 353).
b) Diese Erwägung rechtfertigt es jedoch
nicht, dem Geschädigten in allen Fällen, in denen der Schädiger
geltend macht, den Schaden nicht durch ein willensabhängiges selbsttätiges
Handeln herbeigeführt zu haben, den Beweis für eine willensgesteuerte
Handlung aufzuerlegen. Vielmehr ist insoweit zu unterscheiden, aus welchen
Gründen es möglicherweise an einem beherrschbaren Verhalten gefehlt
hat.
Bringt der Schädiger vor, der Verletzungsvorgang
sei unter physischem Zwang erfolgt oder als unwillkürlicher Reflex
durch fremde Einwirkung ausgelöst worden, so beruft er sich auf außerhalb
seiner Person liegende Umstände, welche die Willenssteuerung seines
Verhaltens ausgeschlossen haben sollen. In derartigen Fallgestaltungen,
bei denen bereits das äußere Erscheinungsbild eines eigenständigen
Handelns des Täters in Frage steht (vgl. Schewe, Reflexbewegung, Handlung,
Vorsatz, 1972, S. 24 ff. , 55,69), hat allerdings der Geschädigte
den Beweis für eine vom Willen getragene Handlung des Schädigers
zu führen (BGH = aaO). Anderes gilt jedoch für die Fälle,
in denen eine der Willenslenkung unterliegende Handlung des Schädigers
aufgrund innerer Vorgänge, nämlich deshalb fraglich erscheint,
weil der Täter möglicherweise bei der Schadensverursachung bewußtlos
war (a. A. Baumgärtel, Handbuch der Beweislast im Privatrecht §
823 BGB Rdn. 3 und § 827 BGB Rdn. 3). Im Gegensatz zu der Schadensverursachung
durch ein Reflex- oder Zwangsverhalten ist nämlich für die Verursachung
von Schäden im Zustand der Bewußtlosigkeit in § 827 Satz
1 BGB eine gesetzliche Regelung dahin getroffen worden, daß bei solcher
Sachlage (lediglich) die Verantwortlichkeit des Schädigers ausgeschlossen
ist.
Die Fassung des § 827 BGB ist in Anlehnung
an die damalige Vorschrift des § 51 StGB erfolgt, daß eine strafbare
Handlung nicht vorhanden sei, wenn der Täter »zur Zeit der Begehung
der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit« befand
(vgl. Staudinger/Schäfer, BGB 12. Aufl. § 827 Rdn. 2). Die Einbettung
der Bewußtlosigkeit in die Fälle der Zurechnungsunfähigkeit
in § 827 BGB stellt eine gesetzgeberische Wertung dar: Die Bewußtseinslage
ist deliktsrechtlich aus dem Begriff der Handlung ausgeklammert und als
Element der Deliktsfähigkeit mit der Haftungsvoraussetzung des Verschuldens
in der Weise verknüpft worden, daß der Schädiger die Beweislast
für den Ausnahmefall einer Bewußtlosigkeit bei der Schadensverursachung
trägt.
Dieser Wertung kann nicht entgegengehalten werden,
der Gesetzgeber habe verkannt, daß es bei »völliger«
Bewußtlosigkeit bereits an einer willensgesteuerten Handlung fehle;
die Regelung des § 827 BGB könne sich deshalb allein auf graduell
schwächere Formen der Bewußtseinsstörung (Schlaftrunkenheit,
Rauschzustände, Halluzinationen o. ä.) beziehen. Wie sich aus
den Motiven (Mot. II S. 731)
»Unwillkürliche Handlungen kommen als
juristische Handlungen überhaupt nicht in Betracht, können nicht
zugerechnet werden. Eine Anwendung dieses Grundsatzes enthält die
Vorschrift des § 708 (jetzt: § 827 BGB), daß eine Person,
welche, während sie des Vernunftgebrauchs beraubt war, einem anderen
einen Schaden zugefügt hat, hierfür nicht verantwortlich ist«
ergibt, hat der Gesetzgeber dieses Problem bei
seiner Wertung in § 827 BGB durchaus gesehen.
An dem Normgehalt des § 827 BGB ist trotz
der Änderungen festgehalten worden, die im Strafrecht die Ausgangsvorschrift
des § 51 StGB im Laufe der Jahre erfahren hat. Dort ist die »Bewußtlosigkeit«
zunächst durch den Begriff »Bewußtseinsstörung«
und in der jetzigen Fassung des § 20 StGB sodann durch die »tiefgreifende
Bewußtseinsstörung« ersetzt worden (vgl. im einzelnen
Staudinger/Schäfer aaO). Damit ist der Erwägung Rechnung getragen
worden, daß es bei völligem Mangel des Bewußtseins im
strafrechtlichen Sinne bereits an einer Handlung fehlt (vgl. RGSt 64,349,353).
Dem hat der Zivilgesetzgeber die Vorschrift des § 827 BGB jedoch nicht
angepaßt. Eine solche Angleichung kann nicht an seiner Stelle durch
den Richter vorgenommen werden, zumal angesichts der Wesensverschiedenheit
von Strafe und zivilrechtlicher Ersatzpflicht sachliche Gründe für
eine unterschiedliche Behandlung sprechen (vgl. Staudinger/Schäfer
aaO Rdn. 3). Insbesondere für die hier entscheidende Frage der Beweislast,
die sich im Strafprozeß völlig anders darstellt, muß es
deshalb für die Haftung aus unerlaubter Handlung nach § 827 Satz
1 BGB dabei verbleiben, daß der Beweis für einen Zustand der
Bewußtlosigkeit bei der Schadensverursachung vom Schädiger zu
führen ist.
Solange im Streitfall die Beklagte den Beweis
für eine Bewußtlosigkeit ihres Versicherungsnehmers nicht erbringt,
ist deshalb von einer zurechenbaren Handlung des Ernst St. auszugehen,
die nach Maßgabe der in der Rechtsprechung dazu entwickelten Kriterien
als Grundlage eines Anscheinsbeweises für einen Fahrfehler in Betracht
kommt (vgl. zuletzt Senatsurteil vom 19. November 1985 -VI ZR 176/84 -VersR
1986,343,344 m. w. Nachw.).
2. Das Berufungsurteil kann aber deshalb keinen
Bestand haben, weil die Überzeugungsbildung des Berufungsrichters,
die Beklagte könne eine Bewußtlosigkeit ihres Versicherungsnehmers
bei der Schadensverursachung nicht beweisen, von Rechtsfehlern beeinflußt
ist... (wird ausgeführt).
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