Direkte Anwendbarkeit von Primärrecht - unmittelbare Wirkung
von Art. 25 (ex-Artikel 12) EGV (Verbot von Binnenzöllen); Zuständigkeit des Gerichtshofes
bei Art. 234 (ex-Artikel 177) EGV (Vorabentscheidung)
EuGH, Urteil v. 5.2.1963, Rs. 26/62 - VAN GEND EN LOOS
Fundstelle:
EuGH Slg. 1963, 1
Leitsätze
1. Voraussetzung für die Zuständigkeit des Gerichtshofes zur Vorabentscheidung
ist nur, dass die vorgelegte Frage klar erkennbar die Auslegung des Vertrages
betrifft.
2. Die Erwägungen, von denen das nationale Gericht bei der Formulierung
seiner Frage ausgegangen ist, sowie die Erheblichkeit, die es dieser Frage im
rahmen eines bei ihm anhängigen Rechtsstreites beimisst, sind im Verfahren
der Vorabentscheidung der Nachprüfung durch den Gerichtshof entzogen .
Vgl . Leitsatz Nr . 4 des Urteils in der Rechtssache 13/61. Zur Erhebung und
Beurteilung von Tatsachen ist der Gerichtshof im Verfahren nach Artikel 177
des Vertrages nicht befugt.
3. Die europäische Wirtschaftsgemeinschaft stellt eine neue Rechtsordnung
des Völkerrechts dar, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem
Rahmen, ihre Souveränitätsrecht eingeschränkt haben; eine Rechtsordnung,
deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die einzelnen
sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht
soll daher den einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte
verleihen . Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich
bestimmt, sondern auch auf Grund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag
den einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft
auferlegt.
4. Wenn der EWG-Vertrag in den Artikeln 169 und 170 der Kommission und den Mitgliedstaaten
die Möglichkeit einräumt, den Gerichtshof anzurufen, falls ein Staat
seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, so wird dadurch den einzelnen nicht
das Recht genommen, sich gegebenenfalls vor dem nationalen Richter auf diese
Verpflichtungen zu berufen.
5. Nach dem Geist, der Systematik und dem Wortlaut des EWG-Vertrages ist Artikel
12 dahin auszulegen, dass er unmittelbare Wirkungen erzeugt und individuelle
Rechte begründet, welche die staatlichen Gerichte zu beachten haben.
6. Aus dem Wortlaut und der systematischen Stellung von Artikel 12 des Vertrages
ergibt sich, dass bei der Feststellung, ob Zölle und Abgaben gleicher Wirkung
entgegen dem in der genannten Vorschrift enthaltenen Verbot erhöht worden
sind, von den zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrages tatsächlich
angewandten Zöllen und Abgaben ausgegangen werden muss . Vgl . Leitsatz
Nr . 1 des Urteils in der Rechtssache 10/61 . Aus der Auslegung der Artikel
12 und 14 des EWG-Vertrages nach ihrem Wortlaut ergibt sich, dass mit der Formel
" angewandte Zollsätze " im Sinne dieser Artikel nicht die gesetzlich
anwendbaren, sondern die tatsächlich angewandten Zollsätze gemeint
sind. Diese Auslegung wird durch Artikel 19 Absatz 2 Unterabsatz 3 des EWG-Vertrages
bestätigt; obwohl diese Vorschrift nur für den gemeinsamen Zolltarif
gilt, hat sie eine über dieses Teilgebiet hinausgehende Bedeutung, denn
sie gestattet den Schluss, dass sich die Verfasser des Vertrages des Unterschieds
zwischen den gesetzlich anwendbaren und den tatsächlich angewandten Zollsätzen
bewusst waren und mit den Worten " angewandte Zollsätze " die
tatsächlich angewandten Zollsätze meinten .
7. Die Belastung eines und desselben Erzeugnisses mit einem höheren Zoll
nach dem Inkrafttreten des EWG-Vertrages stellt eine unerlaubte Erhöhung
im Sinne von Artikel 12 des Vertrages dar, ohne dass es darauf ankommt, ob diese
Erhöhung sich aus einer Erhöhung des Zollsatzes im eigentlichen Sinne
oder aus einer Neugliederung des Tarifs ergibt, welche die Einordnung des Erzeugnisses
in eine höher belastete Tarifnummer zur Folge hat.
Gründe
I - Verfahren gegen die Ordnungsmäßigkeit des Ersuchens um Vorabentscheidung,
Dass die tariefcommissie, ein Gericht im Sinne von Artikel 177 EWG-Vertrag,
auf Grund dieses Artikels an den Gerichtshof gerichtet hat, sind keine Einwände
erhoben worden. Das Ersuchen gibt auch keine Veranlassung zu einer Beanstandung
von Amts wegen.
II. Zur ersten Frage
A Zur Zuständigkeit des Gerichtshofes
Die niederländische Regierung und die belgische Regierung bestreiten die
Zuständigkeit des Gerichtshofes mit der Begründung, das Ersuchen betreffe
nicht die Auslegung des Vertrages, sondern seine Anwendbarkeit im Rahmen des
niederländischen Verfassungsrechts. Der Gerichtshof sei insbesondere nicht
für die Entscheidung darüber zuständig, ob den Vorschriften des
EWG-Vertrages der Vorrang vor niederländischen Gesetzesvorschriften und
vor anderen von den Niederlanden abgeschlossenen und in das innerstaatliche
Recht aufgenommenen Vereinbarungen zukomme. Über solche Fragen hätten
vorbehaltlich der Klagemöglichkeit nach den Vorschriften der Artikel 169
und 170 des Vertrages ausschließlich die nationalen Gerichte zu befinden.
Der Gerichtshof ist aber im vorliegenden Fall nicht angerufen, um über
die Anwendbarkeit des Vertrages nach den Grundsätzen des niederländischen
Rechts zu urteilen - diese Entscheidung ist Sache der nationalen Gerichte -,
er ist vielmehr ausschließlich darum ersucht, gemäss Artikel 177
Buchstabe a des Vertrages die Tragweite von Artikel 12 des Vertrages im Rahmen
des Gemeinschaftsrechtes unter dem Gesichtspunkt seiner Geltung für die
einzelnen festzustellen . Der Einwand ist daher nicht begründet . Die belgische
Regierung macht die Unzuständigkeit des Gerichtshofes ferner mit der Begründung
geltend, es sei keine Entscheidung des Gerichtshofes über die erste Frage
der Tariefcommissie denkbar, die für den Ausgang des bei diesem Gericht
anhängigen Rechtsstreites von Bedeutung sein könne . S . 24 Voraussetzung
für die Zuständigkeit des Gerichtshofes in der vorliegenden Rechtssache
ist indessen nur, dass die vorgelegte Frage klar erkennbar die Auslegung des
Vertrages betrifft . Die Erwägungen, von denen das nationale Gericht bei
der Formulierung seiner Frage ausgegangen ist, sowie die Erheblichkeit, die
es dieser Frage im Rahmen eines bei ihm anhängigen Rechtsstreites beimisst,
sind der Nachprüfung durch den Gerichtshof entzogen . Die vorgelegten Fragen
beziehen sich nach ihrem Wortlaut auf die Auslegung des Vertrages . Der Gerichtshof
ist daher für ihre Beantwortung zuständig . Dieser Einwand ist somit
ebenfalls nicht begründet .
B. Zur Vertragsauslegung
Die Tariefcommissie stellt in erster Linie die Frage, ob Artikel 12 in dem Sinne
unmittelbare Wirkung im innerstaatlichen Recht hat, dass die einzelnen aus diesem
Artikel Rechte herleiten können, die vom nationalen Richter zu beachten
sind . Ob die Vorschriften eines völkerrechtlichen Vertrages eine solche
Tragweite haben, ist vom Geist dieser Vorschriften, von ihrer Systematik und
von ihrem Wortlaut her zu entscheiden . Das Ziel des EWG-Vertrages ist die Schaffung
eines gemeinsamen Marktes, dessen funktionieren die der Gemeinschaft Angehörigen
einzelnen unmittelbar betrifft; damit ist zugleich gesagt, dass dieser Vertrag
mehr ist als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den
vertragsschließenden Staaten begründet . Diese Auffassung wird durch
die Präambel des Vertrages bestätigt, die sich nicht nur an die Regierungen,
sondern auch an die Völker richtet . Sie findet eine noch augenfälligere
Bestätigung in der Schaffung von Organen, welchen Hoheitsrechte übertragen
sind, deren Ausübung in gleicher weise die Mitgliedstaaten wie die Staatsbürger
berührt . Zu beachten ist ferner, dass die Staatsangehörigen der in
der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten dazu berufen sind, durch das
europäische Parlament und den Wirtschafts - und Sozialausschuss zum funktionieren
dieser Gemeinschaft beizutragen . Auch die dem Gerichtshof im Rahmen von Artikel
177, der die einheitliche Auslegung des Vertrages durch die nationalen Gerichte
gewährleisten soll, zukommende Aufgabe ist ein beweis dafür, dass
die Staaten davon ausgegangen sind, die Bürger müssten sich vor den
nationalen Gerichten auf das gemeinschaftsrecht berufen können . Aus alledem
ist zu schließen, dass die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts
darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre
souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung,
deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die einzelnen
sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht
soll daher den einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte
verleihen . Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich
bestimmt, sondern auch auf Grund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag
den einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft
auferlegt . Zur Systematik des Vertrages auf dem Gebiet der Zölle und Abgaben
gleicher Wirkung ist zu bemerken, dass Artikel 9, wonach Grundlage der Gemeinschaft
eine Zollunion ist, als wesentlichste Norm das Verbot der Zölle und Abgaben
gleicher Wirkung enthält. Diese Vorschrift steht am Anfang des Vertragsteiles,
der die " Grundlagen der Gemeinschaft " umschreibt; sie wird in Artikel
12 angewandt und erläutert. Der Wortlaut von Artikel 12 enthält ein
klares und uneingeschränktes Verbot, eine Verpflichtung, nicht zu einem
Tun, sondern zu einem Unterlassen . Diese Verpflichtung ist im übrigen
auch durch keinen Vorbehalt der Staaten eingeschränkt, der ihre Erfüllung
von einem internen Rechtssetzungsakt abhängig machen würde . Das Verbot
des Artikels 12 eignet sich seinem Wesen nach vorzüglich dazu, unmittelbare
Wirkungen in den Rechtsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den ihrem
Recht unterworfenen einzelnen zu erzeugen. Der Vollzug von Artikel 12 bedarf
keines Eingriffs der staatlichen Gesetzgeber . Der Umstand, dass dieser Artikel
die Mitgliedstaaten als Adressaten der Unterlassungspflicht bezeichnet, schließt
nicht aus, dass dieser Verpflichtung rechte der einzelnen gegenüberstehen
können . Der Hinweis der drei Regierungen, die bei dem Gerichtshof schriftliche
Erklärungen eingereicht haben, auf die Artikel 169 und 170 des Vertrages
geht fehl . Wenn der Vertrag in den genannten Artikeln der Kommission und den
Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, den Gerichtshof anzurufen,
falls ein Staat seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, so bedeutet dies nicht,
dass es für den einzelnen unmöglich wäre, sich gegebenenfalls
vor dem nationalen Richter auf diese Verpflichtungen zu berufen, ebenso wenig
wie die Tatsache, dass der Vertrag der Kommission Mittel zur Verfügung
stellt, um die Einhaltung der den Vertragsunterworfenen obliegenden Verpflichtungen
zu gewährleisten, die Möglichkeit ausschließt, die Verletzung
dieser Verpflichtungen in Prozessen zwischen Privatpersonen vor nationalen Gerichten
geltend zu machen . Würden die Garantien gegen Verletzungen von Artikel
12 durch die Mitgliedstaaten auf die in den Artikeln 169 und 170 vorgesehenen
verfahren allein beschränkt, so wäre jeder unmittelbare gerichtliche
Schutz der individuellen rechte der Einzelnen ausgeschlossen . Die Anwendung
dieser Vorschriften wäre im übrigen wirkungslos, wenn sie nach dem
Vollzug einer in Verkennung der Vertragsvorschriften ergangenen staatlichen
Entscheidung erfolgte . Die Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten
einzelnen stellt eine wirksame Kontrolle dar, welche die durch die Kommission
und die Mitgliedstaaten gemäss den Artikeln 169 und 170 ausgeübte
Kontrolle ergänzt . S . 27 aus den vorstehenden Erwägungen ergibt
sich, dass nach dem Geist, der Systematik und dem Wortlaut des Vertrages Artikel
12 dahin auszulegen ist, dass er unmittelbare Wirkungen erzeugt und individuelle
Rechte begründet, welche die staatlichen Gerichte zu beachten haben . Iii
-
III. Zur zweiten Frage
A. Zur Zuständigkeit des Gerichtshofes
Der belgischen und der niederländischen Regierung zufolge erfordert diese
Frage ihrem Wortlaut nach, dass der Gerichtshof bei ihrer Entscheidung die tarifliche
Einordnung überprüft, der das Harnstoff-formaldehyd bei der einfuhr
in die Niederlande unterworfen war; diese Nachprüfung sei vor allem erforderlich,
weil die Firma van Gend und Loos und der Inspekteur der Einfuhrzölle und
Verbrauchssteuern in Zaandam zu dieser Einordnung nach dem tariefbesluit 1947
widerstreitende Auffassungen vertreten . Die Fragestellung ziele nicht auf die
Auslegung des Vertrages ab, sondern betreffe nur die außerhalb der dem
Gerichtshof der Gemeinschaft durch Artikel 177 Buchstabe a übertragenen
Kompetenz liegende Anwendung der niederländischen Zollgesetzgebung auf
die Einordnung der Aminoplaste. Daher sei der Gerichtshof zur Entscheidung über
das ersuchen der Tariefcommissie unzuständig . Die von der Tariefcommissie
gestellte frage läuft in Wirklichkeit darauf hinaus, zu klären, ob
eine tatsächliche Erhöhung der Zölle für ein bestimmtes
Erzeugnis rechtlich dem Verbot von Artikel 12 des Vertrages zuwiderläuft,
wenn sie sich nicht aus einer Erhöhung des Tarifes, sondern aus einer neuen
Einordnung des Erzeugnisses infolge einer veränderten tariflichen Qualifizierung
ergibt . Die gestellte Frage betrifft somit die Auslegung dieser Vertragsvorschrift,
und zwar insbesondere die Bestimmung des Begriffes der vor Inkrafttreten des
Vertrages angewandten Zölle. Der Gerichtshof ist deshalb zur Entscheidung
über die frage zuständig.
B Zur Vertragsauslegung
Aus dem Wortlaut und der systematischen Stellung von Artikel 12 des Vertrages
ergibt sich, dass bei der Feststellung, ob Zölle und abgaben gleicher Wirkung
entgegen dem in der genannten Vorschrift enthaltenen verbot erhöht worden
sind, von den zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrages tatsächlich
angewandten Zöllen und Abgaben ausgegangen werden muss . Eine solche unerlaubte
Erhöhung im sinne der Verbotsvorschrift des Artikels 12 des Vertrages kann
sich im übrigen sowohl aus einer Neugliederung des Tarifs, welche die Einordnung
des Erzeugnisses in eine höher belastete Tarifnummer zur Folge hat, wie
aus einer Erhöhung des Zollsatzes im eigentlichen Sinne ergeben. Wenn feststeht,
dass in einem Mitgliedstaat ein Erzeugnis nach dem Inkrafttreten des Vertrages
einem höheren Zollsatz unterworfen ist, kann es nicht darauf ankommen,
in welcher Weise die Zollerhöhung vorgenommen worden ist . Die Anwendung
von Artikel 12 im Sinne der vorstehend gegebenen Auslegung fällt in den
Zuständigkeitsbereich des nationalen Richters; dieser hat zu prüfen,
ob das zollpflichtige Erzeugnis, im vorliegenden Fall Harnstoff-formaldehyd
aus der Bundesrepublik Deutschland, infolge der in den Niederlanden in kraft
gesetzten Zollmaßnahmen einem höheren Einfuhrzoll unterliegt als
am 1 . Januar 1958 . Es ist nicht Sache des Gerichtshofes, die Richtigkeit der
einander widersprechenden Behauptungen zu prüfen, die im Laufe des Verfahrens
hierzu vorgebracht worden sind, vielmehr haben hierüber die nationalen
Instanzen zu befinden.
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