Vertikale direkte Anwendbarkeit von Richtlinien - Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen


EuGH, Urteil v. 26. FEBRUAR 1986, Rs. 152/84 - Marshall


Fundstellen:

Slg. 1986, 723
NJW 1986, 2178


Leitsätze

1. Da das Wort Entlassung in Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207 weit auszulegen ist, fällt eine Altersgrenze für das obligatorische Ausscheiden der Arbeitnehmer im Rahmen einer allgemeinen Pensionierungspolitik eines Arbeitgebers unter den so ausgelegten Begriff der Entlassung, auch wenn dieses Ausscheiden die Gewährung einer Altersrente mit sich bringt.

2. Im Hinblick auf die fundamentale Bedeutung des Grundsatzes der Gleichbehandlung zwischen Männern und Frauen ist die in Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 76/207 zur Verwirklichung dieses Grundsatzes hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen für das Gebiet der sozialen Sicherheit vorgesehene Ausnahme vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie eng auszulegen. Die in Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 79/7 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit enthaltene Ausnahme vom Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gilt deshalb nur für die Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung der Altersrente oder Ruhestandsrente und etwaige Auswirkungen daraus auf andere Leistungen der sozialen Sicherheit.

3. Art. 5 I der Richtlinie 76/207 ist dahin auszulegen, dass eine allgemeine Entlassungspolitik, wonach eine Frau nur aus dem Grund entlassen wird, weil sie das Alter erreicht oder überschritten hat, in dem sie Anspruch auf eine staatliche Rente erwirbt und das nach den nationalen Rechtsvorschriften für Männer und Frauen unterschiedlich ist, eine durch diese Richtlinie verbotene Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt.

4. In all den Fällen, in denen Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, sind die Einzelnen berechtigt, sich gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen zu berufen, wenn der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß in nationales Recht umsetzt oder eine unzutreffende Umsetzung der Richtlinie vornimmt.
Es wäre nämlich mit dem verbindlichen Charakter, den Artikel 189 EWG-Vertrag der Richtlinie zuerkennt, unvereinbar, grundsätzlich auszuschließen, dass sich betroffene Personen auf die in der Richtlinie enthaltene Verpflichtung berufen können. Folglich kann ein Mitgliedstaat, der die in der Richtlinie vorgeschriebenen Durchführungsmaßnahmen nicht fristgemäß erlassen hat, den einzelnen nicht entgegenhalten, dass er die aus der Richtlinie erwachsenen Verpflichtungen nicht erfüllt hat. Insoweit ist es ohne Bedeutung, in welcher Eigenschaft - als Arbeitgeber oder als Hoheitsträger - der Staat handelt. In dem einen wie dem anderen Fall muss nämlich verhindert werden, dass der Staat aus seiner Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts nutzen ziehen kann.

5. Nach Artikel 189 EWG-Vertrag besteht der verbindliche Charakter einer Richtlinie, auf dem die Möglichkeit beruht, sich vor einem nationalen Gericht auf die Richtlinie zu berufen, nur für "jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird". Daraus folgt, dass eine Richtlinie nicht Selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann und dass eine Richtlinienbestimmung daher als solche nicht gegenüber einer derartigen Person in Anspruch genommen werden kann.

6. Art. 5 I der Richtlinie 76/207, der Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts hinsichtlich der Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen verbietet, kann gegenüber einer als Arbeitgeber handelnden staatlichen Stelle in Anspruch genommen werden , um die Anwendung jeder nationalen Bestimmung, die nicht diesem Artikel 5 Absatz 1 entspricht, auszuschließen.

Sachverhalt
1 Der Court of Appeal hat mit Beschluss vom 12. März 1984, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Juni 1984, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 76/207 des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen (Abl. L 39, S. 40) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau M. H. Marshall ( im Folgenden: die Klägerin) und der Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority (Teaching) ( im folgenden: die Beklagte) über die Vereinbarkeit der Entlassung der Klägerin mit Section 6 (4) des sex discrimination act 1975 und dem Gemeinschaftsrecht.

3 Die am 4. Februar 1918 geborene Klägerin war von Juni 1966 bis zum 31. März 1980 bei der Beklagten beschäftigt. Seit dem 23. Mai 1974 hatte sie einen Arbeitsvertrag als vorgesetzte Diätspezialistin.

4 Am 31. März 1980, also ungefähr vier Wochen nach Vollendung ihres 62. Lebensjahres, wurde die Klägerin entlassen, obwohl sie ihren Willen bekundet hatte, ihren Arbeitsplatz bis zum 65. Lebensjahr, d. h. bis zum 4. Februar 1983, beizubehalten.

5 Dem Vorlagebeschluss zufolge war der einzige Grund für die Entlassung der, dass die Klägerin eine Frau war, die die von der Beklagten für Frauen vorgesehene "Altersgrenze" überschritten hatte.

6 Insoweit ist den Akten zu entnehmen, dass die Beklagte seit 1975 eine allgemeine Politik verfolgt, nach der die "normale Altersgrenze... das Alter ( ist), von dem an die Sozialversicherungsrenten ausgezahlt werden". Das vorlegende Gericht führt aus, diese allgemeine Politik sei in dem Arbeitsvertrag der Klägerin zwar nicht ausdrücklich erwähnt, jedoch stillschweigend Bestandteil dieses Vertrags gewesen.

7 Nach den damals geltenden rentenrechtlichen Vorschriften des vereinigten Königreichs - social security act 1975, insbesondere section 27 (1) und 28 (1) - konnten Männer vom 65. und Frauen vom 60. Lebensjahr an staatliche Renten beziehen. Eine Verpflichtung, in dem Alter, in dem die staatliche Rente gezahlt wurde, in Rente zu gehen, bestand jedoch aufgrund dieser Vorschriften für die Angestellten nicht. Arbeitete ein Angestellter weiter , wurden sowohl die Zahlung der staatlichen Rente als auch die einer Betriebsrente ausgesetzt.

8 die Beklagte war jedoch bereit, wegen besonderer Umstände im Einzelfall von ihrer erwähnten allgemeinen Politik nach billigem Ermessen abzuweichen; im Falle der Klägerin wich sie tatsächlich insoweit ab, als sie diese noch zwei Jahre nach Vollendung ihres 60. Lebensjahres weiterbeschäftigte.

9 Da sie einen finanziellen Nachteil in Höhe des Unterschieds zwischen dem Gehalt als Angestellte der Beklagten und ihrer Rente erlitten und die Befriedigung, die ihr ihre Tätigkeit gab, verloren hatte, verklagte die Klägerin die Beklagte vor einem Industrial Tribunal und machte geltend, ihre Entlassung zu dem angegebenen Zeitpunkt und aus dem genannten Grund sei eine geschlechtsbedingte Schlechterstellung; sie sei demnach unter Verstoß gegen den sex discrimination act 1975 und das Recht der europäischen Gemeinschaften diskriminiert worden.

10 Dieses Gericht wies die Klage, soweit sie sich auf den sex discrimination act 1975 stützte, mit der Begründung ab, section 6 (4) dieses Gesetzes nehme "Bestimmungen im Zusammenhang mit Tod oder Ruhestand" von dem Verbot der unterschiedlichen Behandlung aufgrund des Geschlechts aus; die allgemeine Politik der Beklagten sei eine solche Bestimmung. Für gegeben hielt es hingegen eine Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung nach der Richtlinie 76/207.

11 Auf Berufung wurde dieses Urteil in dem ersten Punkt vom Employment Appeal Tribunal bestätigt, im zweiten Punkt dagegen mit der Begründung aufgehoben, die Entlassung habe zwar gegen den in der genannten Richtlinie niedergelegten Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen, ein Einzelner könne sich jedoch in einem vor einem Gericht des Vereinigten Königreichs anhängigen Verfahren nicht rechtswirksam auf diesen Verstoß berufen.

12 Die Klägerin legte gegen diese Entscheidung Rechtsmittel beim Court of Appeal ein. Aufgrund der Erwägung, dass die Beklagte nach section 8 (1 a) (b) des national health service act 1977 gegründet und somit eine "staatliche Behörde" sei, hat der Court of Appeal dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: "1) Stellt es eine durch die Gleichbehandlungsrichtlinie verbotene Diskriminierung dar, dass die Beklagte die Klägerin nach erreichen ihres 60. Lebensjahres aufgrund ihrer allgemeinen Politik ausschließlich mit der Begründung entlassen hat, dass sie eine Frau sei, die das normale Rentenalter für Frauen überschritten habe?
2) Kann die Klägerin sich bejahendenfalls unter den Umständen des vorliegenden Falles vor den nationalen Gerichten auf die Gleichbehandlungsrichtlinie berufen, und zwar ungeachtet eines eventuellen Widerspruchs zwischen der Richtlinie und section 6 (4) des sex discrimination act 1975? " Rechtlicher Rahmen des Verfahrens

13 Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 76/207 lautet wie folgt: "diese Richtlinie hat zum Ziel, dass in den Mitgliedstaaten der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, einschließlich des Aufstiegs, und des Zugangs zur Berufsbildung sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen und in bezug auf die soziale Sicherheit unter den in Absatz 2 vorgesehenen Bedingungen verwirklicht wird. Dieser Grundsatz wird im folgenden als, Grundsatz der Gleichbehandlung bezeichnet."

14 Artikel 2 Absatz 1 dieser Richtlinie bestimmt: ,, der Grundsatz der Gleichbehandlung im Sinne der nachstehenden Bestimmungen beinhaltet, dass keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung auf Grund des Geschlechts - insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand - erfolgen darf."

15 Artikel 5 Absatz 1 der genannten Richtlinie besagt folgendes: "Die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen beinhaltet, dass Männern und Frauen dieselben Bedingungen ohne Diskriminierung auf Grund des Geschlechts gewährt werden." Absatz 2 dieses Artikels lautet wie folgt: "Zu diesem Zweck treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, a) dass die mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz unvereinbaren Rechts- und Verwaltungsvorschriften beseitigt werden; b ) dass die mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung unvereinbaren Bestimmungen in Tarifverträgen oder Einzelarbeitsverträgen, in Betriebsordnungen sowie in den Statuten der freien Berufe nichtig sind, für nichtig erklärt oder geändert werden können; c) dass die mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung unvereinbaren Rechts- und Verwaltungsvorschriften, bei denen der Schutzgedanke, aus dem heraus sie ursprünglich entstanden sind, nicht mehr begründet ist, revidiert werden; dass hinsichtlich der Tarifbestimmungen gleicher art die Sozialpartner zu den wünschenswerten Revisionen aufgefordert werden."

16 Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie bestimmt folgendes: "Der Rat erlässt im Hinblick auf die schrittweise Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit auf Vorschlag der Kommission Bestimmungen, in denen dazu insbesondere der Inhalt, die Tragweite und die Anwendungsmodalitäten angegeben sind."

17 Gemäß dieser letzteren Bestimmung erlies der Rat die Richtlinie 79/7 vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (Abl. L 6, s. 24), die die Mitgliedstaaten nach Artikel 8 Absatz 1 dieser Richtlinie binnen sechs Jahren nach ihrer Bekanntgabe in nationales Recht umzusetzen hatten. Nach Artikel 3 Absatz 1 findet diese Richtlinie Anwendung "a) auf die gesetzlichen Systeme, die Schutz gegen folgende Risiken bieten: - Krankheit,
- Invalidität,
- Alter,
- Arbeitsunfall und Berufskrankheit,
- Arbeitslosigkeit;
b ) auf Sozialhilferegelungen, soweit sie die unter Buchstabe a) genannten Systeme ergänzen oder ersetzen sollen." 18 nach Artikel 7 Absatz 1 steht die Richtlinie "... nicht der Befugnis der Mitgliedstaten entgegen, folgendes von ihrem Anwendungsbereich auszuschließen: a ) die Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung der Altersrente oder Ruhestandsrente und etwaige Auswirkungen daraus auf andere Leistungen; ..."

19 In bezug auf betriebliche Systeme der sozialen Sicherheit besagt Artikel 3, dass zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in derartigen Systemen "der Rat auf Vorschlag der Kommission Bestimmungen (erlässt), in denen dazu der Inhalt, die Tragweite und die Anwendungsmodalitäten angegeben sind". Am 5. Mai 1983 legte die Kommission dem Rat einen Vorschlag für eine Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit vor (Abl. C 134, S. 7), die nach ihrem Artikel 2 Absatz 1 für Leistungen gelten soll, "die als Zusatzleistungen oder Ersatzleistungen die gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit ergänzen oder an ihre stelle treten". Der Rat hat über diesen Vorschlag noch nicht entschieden.

20 Außer der Klägerin und der Beklagten haben in dieser Rechtssache die Regierung des vereinigten Königreichs und die Kommission Erklärungen abgegeben.

Gründe
21. Die erste Frage des Court of Appeal geht dahin, ob Art. 5 I der Richtlinie 76/207 dahin auszulegen ist, daß eine von einer staatlichen Behörde angewandte allgemeine Entlassungspolitik, wonach eine Frau nur aus dem Grund entlassen wird, weil sie das Alter erreicht oder überschritten hat, in dem sie Anspruch auf eine staatliche Rente hat und das nach nationalem Recht für Männer und Frauen verschieden ist, eine nach dieser Richtlinie verbotene Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt.

22. Nach Auffassung der Kl. und der Kommission ist diese Frage zu bejahen.

23. Für die Kl. ist die genannte Altersgrenze eine "Arbeitsbedingung" i. S. der Art. 1 I und 5 I der Richtlinie 76/207. Eine weite Auslegung dieses Ausdrucks sei unter Berücksichtigung des Zieles des EWG-Vertrags, nämlich der "stetigen Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen", und des Wortlauts des Diskriminierungsverbots in den genannten Artikeln der Richtlinie 76/207 sowie des Art. 7 I der Verordnung Nr. 1612/68 des Rates vom 15. 10. 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl L 257, S. 2) gerechtfertigt.

24. Darüber hinaus gehöre das Nichtbestehen einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu den persönlichen Grundrechten und damit zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts. Nach der Rechtsprechung des EGMR für Menschenrechte seien diese Grundsätze weit, eventuelle Ausnahme wie der Vorbehalt in Art. 1 II der Richtlinie 76/207 in bezug auf die soziale Sicherheit dagegen eng auszulegen.

25. Die Ausnahme des Art. 7 I der Richtlinie 79/7 betreffend die Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung der Altersrente oder Ruhestandsrente sei nicht einschlägig, da es im vorliegenden Fall im Unterschied zur Rechtssache Burton (EuGHE 1982, 555 = NJW 1982, 2726) nicht um die Bestimmung eines Rentenanspruchs gehe. Ferner bestehe im vorliegenden Fall kein Zusammenhang zwischen dem vertraglichen Alter des Eintritts in den Ruhestand und dem Alter, von dem an eine Rente der sozialen Sicherheit verlangt werden könne.

26. Die Kommission führt aus, weder die Anstellungspolitik der Bekl. noch die Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit zwängen eine Person, die das Mindestrentenalter erreiche, in den Ruhestand zu treten. Vielmehr werde in den nationalen Rechtsvorschriften einer eventuellen Fortsetzung der Berufstätigkeit über das normale Rentenalter hinaus Rechnung getragen. Unter diesen Umständen könne die Entlassung einer Frau aus Gründen ihres Geschlechts und ihres Alters kaum gerechtfertigt werden.

27. Auch die Kommission verweist darauf, daß der Gerichtshof die Gleichbehandlung von Männern und Frauen als fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt habe.

28. Die Bekl. bringt für ihren gegenteiligen Standpunkt vor, es müsse entsprechend dem erwähnten Urteil Burton der Zusammenhang zwischen dem von ihr im Rahmen ihrer allgemeinen Entlassungspolitik vorgeschriebenen Alter des Eintritts in den Ruhestand einerseits und dem Alter, in dem nach den Sozialrechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs die Alters- und Ruhestandsrenten geschuldet würden, andererseits berücksichtigt werden. Die Festsetzung unterschiedlicher Altersgrenzen für die obligatorische Beendigung des Arbeitsvertrags sei nämlich lediglich eine Folge der dort vorgesehenen Mindestalter; der männliche Angestellte könne bis zum 65. Lebensjahr weiterarbeiten, eben weil er vor diesem Zeitpunkt nicht durch die Zahlung einer staatlichen Rente geschützt sei, während der weiblichen Angestellten bereits ab dem 60. Lebensjahr ein solcher Schutz gewährt werde.

29. Die Gewährung staatlicher Renten gehöre zur sozialen Sicherheit und falle nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 76/207, sondern in den der Richtlinie 79/7, nach der die Mitgliedstaaten befugt seien, für die Entstehung des Anspruchs auf staatliche Renten unterschiedliche Alter festzusetzen. Da somit die gleiche Situation wie in der erwähnten Rechtssache Burton vorliege, stelle es keine durch das Gemeinschaftsrecht verbotene Diskriminierung dar, wenn der Arbeitsvertrag unterschiedliche Altersgrenzen nach Maßgabe der im nationalen Recht vorgesehenen unterschiedlichen Mindestrentenalter für Männer und Frauen festsetze.

30. Die Regierung des Vereinigten Königreichs teilt diesen Standpunkt, weist jedoch darauf hin, daß eine Behandlung, auch wenn es sich um einen Zeitraum nach dem Eintritt in den Ruhestand handele, diskriminierend sein könne, soweit sie sich aus einem Arbeitsverhältnis ergebe und dieses nach Erreichen des vertraglich vorgesehenen normalen Alters für den Eintritt in den Ruhestand fortgesetzt werde.

31. Im vorliegenden Fall bestehe jedoch keine Diskriminierung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, da sich der Unterschied in der Behandlung aus dem normalen Alter des Eintritts in den Ruhestand ergebe, das von den verschiedenen Mindestaltern für den Erwerb eines Anspruchs auf die staatliche Rente abhänge.

32. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß das Auslegungsproblem, mit dem der Gerichtshof befaßt ist, nicht den Zugang zu einem gesetzlichen oder betrieblichen Rentensystem, d. h. die Voraussetzungen für die Gewährung der Alters- oder Ruhestandsrente, betrifft, sondern die Festsetzung einer Altersgrenze für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Rahmen einer allgemeinen Entlassungspolitik. Diese Frage betrifft die Entlassungsbedingungen und fällt deshalb unter die Richtlinie 76/207.

33. Nach Art. 5 I der Richtlinie 76/207 beinhaltet nämlich die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen, daß Männern und Frauen dieselben Bedingungen ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gewährt werden.

34. In dem erwähnten Urteil Burton hat der Gerichtshof bereits festgestellt, daß das Wort "Entlassung" in dieser Bestimmung weit auszulegen ist. Eine Altersgrenze für das obligatorische Ausscheiden der Arbeitnehmer im Rahmen einer allgemeinen Pensionierungspolitik eines Arbeitgebers fällt deshalb unter den so ausgelegten Begriff der "Entlassung", auch wenn dieses Ausscheiden die Gewährung einer Altersrente mit sich bringt.

35. Wie der Gerichtshof in demselben Urteil betont hat, sieht Art. 7 der Richtlinie 79/7 ausdrücklich vor, daß die Richtlinie der Befugnis der Mitgliedstaaten nicht entgegensteht, die Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung der Altersrente oder Ruhestandsrente und etwaiger Auswirkungen daraus auf andere Leistungen im Bereich der gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit von ihrem Anwendungsbereich auszuschließen. Der Gerichtshof hat also anerkannt, daß Leistungen, die an die nationalen Regelungen über das - für Männer und Frauen unterschiedliche - Rentenalter anknüpfen, eine Ausnahme von der erwähnten Verpflichtung bilden können.

36. Im Hinblick auf die - vom Gerichtshof wiederholt hervorgehobene - fundamentale Bedeutung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ist jedoch die in Art. 1 II der Richtlinie 76/207 für das Gebiet der sozialen Sicherheit vorgesehene Ausnahme vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie eng auszulegen. Die in Art. 7 I lit. a der Richtlinie 79/7 enthaltene Ausnahme vom Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gilt deshalb nur für die Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung der Altersrente oder Ruhestandsrente und etwaige Auswirkungen daraus auf andere Leistungen der sozialen Sicherheit.

37. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß, während die Ausnahme des Art. 7 der Richtlinie 79/7 die Auswirkungen betrifft, die die aus der Altersgrenze für Leistungen der sozialen Sicherheit ergeben, sich die vorliegende Rechtssache auf den Bereich der Entlassung i. S. des Art. 5 der Richtlinie 76/207 bezieht.

38. Auf die erste frage des Court of Appeal ist deshalb zu antworten , dass Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207 dahin auszulegen ist, dass eine allgemeine Entlassungspolitik, wonach eine Frau nur aus dem Grund entlassen wird, weil sie das Alter erreicht oder überschritten hat, in dem sie Anspruch auf eine staatliche Rente erwirbt und das nach den nationalen Rechtsvorschriften für Männer und Frauen unterschiedlich ist , eine durch diese Richtlinie verbotene Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt.

39. Da die erste Frage bejaht worden ist, fragt es sich, ob sich der einzelne vor den nationalen Gerichten auf Art. 5 I der Richtlinie 76/207 berufen kann.

40. Die Kl. und die Kommission schlagen vor, diese Frage zu bejahen. In bezug auf die Art. 2 I und 5 I der Richtlinie 76/207 machen sie insbesondere geltend, diese Bestimmungen seien hinreichend klar, um - zumindest beim Vorliegen einer offensichtlichen Diskriminierung - von den nationalen Gerichten ohne gesetzgeberisches Tätigwerden der Mitgliedstaaten angewandt werden zu können.

41. Zur Begründung dieser Auslegung führt die Kl. aus, Richtlinien könnten zugunsten des einzelnen Rechte begründen, die dieser vor den Gerichten der Mitgliedstaaten unmittelbar geltend machen könne; die nationalen Gerichte seien aufgrund des verbindlichen Charakters der Richtlinien i. V. mit Art. 5 EWGV gehalten, den Bestimmungen der Richtlinien Wirksamkeit zu verschaffen, soweit dies möglich sei, und zwar insbesondere bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts (EuGHE 1984, 1891 = NJW 1984, 2021 - Colson und Kamann). Soweit eine Unvereinbarkeit zwischen dem nationalen Recht und dem Gemeinschaftsrecht bestehe, die nicht im Wege einer solchen Auslegung ausgeräumt werden könne, seien die nationalen Gerichte verpflichtet, die Bestimmung des nationalen Rechts, die sich als mit der Richtlinie unvereinbar erwiesen habe, für unanwendbar zu erklären.

42. Die Kommission vertritt den Standpunkt, Art. 5 I der Richtlinie 76/207 sei hinreichend bestimmt und unbedingt, um vor den nationalen Gerichten in Anspruch genommen zu werden. Er könne somit gegenüber Section 6 (4) des Sex Discrimination Act 1975 ins Feld geführt werden, die nach der Rechtsprechung des Court of Appeal auch für die Frage des obligatorischen Eintritts in den Ruhestand gelte und damit jede praktische Wirksamkeit verloren habe, um die Entlassungen zu verhindern, die auf die unterschiedlichen Rentenalter für die beiden Geschlechter gestützt würden.

43. Die Bekl. und die Regierung des Vereinigten Königreichs regen demgegenüber an, die zweite Frage zu verneinen. Sie räumen ein, daß eine Richtlinie unter bestimmten Voraussetzungen eine unmittelbare Wirkung gegenüber dem Mitgliedstaat entfalten könne, da sich dieser nicht hinter seiner eigenen Vertragsverletzung verschanzen könne. Eine Richtlinie könne jedoch niemals einzelnen unmittelbar Verpflichtungen auferlegen, und sie könne gegenüber einem Mitgliedstaat nur in seiner Eigenschaft als Hoheitsträger und nicht in seiner Eigenschaft als Arbeitgeber unmittelbare Wirkung haben. In dieser letzteren Eigenschaft unterscheide sich nämlich der Staat nicht von einem privaten Arbeitgeber. Es sei deshalb nicht gerechtfertigt, die Angestellten des Staates gegenüber den Angestellten einer Privatperson zu privilegieren.

44. Zur rechtlichen Stellung der Angestellten der Bekl. führt die Regierung des Vereinigten Königreichs aus, sie sei die gleiche wie die der Angestellten einer Privatperson. Zwar seien nach dem Verfassungsrecht des Vereinigten Königreichs die mit dem National Health Service Act 1977 in seiner durch den Health Service Act 1980 und andere Gesetze geänderten Fassung geschaffenen Gesundheitseinrichtungen staatliche Organisationen, und ihre Angestellten seien Bedienstete der Krone. Die Verwaltung des Gesundheitsdienstes durch die Gesundheitsbehörden werde jedoch als von der Zentralverwaltung der Regierung getrennt angesehen, und ihre Angestellten gälten nicht als Beamte.

45. Schließlich halten die Bekl. und die Regierung des Vereinigten Königreichs die Bestimmungen der Richtlinie 76/207 weder für unbedingt noch für hinreichend klar und bestimmt, um eine unmittelbare Wirkung zu entfalten. Zum einen lasse die Richtlinie eine gewisse Zahl von Ausnahmen zu, deren Einzelheiten von den Mitgliedstaaten festzulegen seien, und zum anderen sei der Wortlaut des Art. 5 völlig unbestimmt und erfordere spätere Durchführungsmaßnahmen.

46. Es ist daran zu erinnern, daß nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes (vgl. insb. EuGHE 1982, 53 = NJW 1982, 499 - Becker) in all den Fällen, in denen Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, die einzelnen berechtigt sind, sich gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen zu berufen, wenn der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß in nationales Recht umsetzt oder die unzutreffende Umsetzung der Richtlinie vornimmt.

47. Diese Rechtsprechung beruht auf der Erwägung, daß es mit dem verbindlichen Charakter, den Art. 189 der Richtlinie zuerkennt, unvereinbar wäre, grundsätzlich auszuschließen, daß sich betroffene Personen auf die in der Richtlinie enthaltene Verpflichtung berufen können. Der Gerichtshof hat daraus gefolgert, daß ein Mitgliedstaat, der die in der Richtlinie vorgeschriebenen Durchführungsmaßnahmen nicht fristgemäß erlassen hat, den einzelnen nicht entgegenhalten kann, daß er die aus der Richtlinie erwachsenen Verpflichtungen nicht erfüllt hat.

48. Zu dem Argument, wonach eine Richtlinie nicht gegenüber einem einzelnen in Anspruch genommen werden könne, ist zu bemerken, daß nach Art. 189 EWGV der verbindliche Charakter einer Richtlinie, auf dem die Möglichkeit beruht, sich vor einem nationalen Gericht auf die Richtlinie zu berufen, nur für "jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird" besteht. Daraus folgt, daß eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen einzelnen begründen kann und daß eine Richtlinienbestimmung daher als solche nicht gegenüber einer derartigen Person in Anspruch genommen werden kann. Es ist deshalb zu prüfen, ob im vorliegenden Fall davon auszugehen ist, daß die Bekl. als einzelne gehandelt hat.

49. Hierzu ist festzustellen, daß, wenn die Rechtsbürger imstande sind, sich gegenüber dem Staat auf eine Richtlinie zu berufen, sie dies unabhängig davon tun können, in welcher Eigenschaft - als Arbeitgeber oder als Hoheitsträger - der Staat handelt. In dem einen wie dem anderen Fall muß nämlich verhindert werden, daß der Staat aus seiner Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts Nutzen ziehen kann.

50. Die Anwendung dieser Erwägungen auf die Umstände des vorliegenden Falles obliegt dem nationalen Gericht, das im übrigen insoweit in seinem Vorlagebeschluß ausgeführt hat, daß die Bekl. eine staatliche Behörde sei.

51. Das von der Regierung des Vereinigten Königreichs vorgebrachte Argument, die Möglichkeit, sich gegenüber der Bekl. in ihrer Eigenschaft als staatliche Einrichtung auf die Richtlinie zu berufen, hätte eine willkürliche und ungerechte Unterscheidung zwischen den Rechten der Arbeitnehmer des Staates und denen der privaten Arbeitnehmer zur Folge, kann keine andere Beurteilung rechtfertigen. Ein solcher Unterschied hätte nämlich leicht vermieden werden können, wenn der betreffende Mitgliedstaat die Richtlinie ordnungsgemäß in sein nationales Recht umgesetzt hätte.

52. Was schließlich die Frage angeht, ob Art. 5 I der Richtlinie 76/207, der den in Art. 2 I dieser Richtlinie aufgestellten Grundsatz der Gleichbehandlung durchführt, inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheint, damit sich ein einzelner gegenüber dem Staat darauf berufen kann, so ist festzustellen, daß diese Bestimmung, für sich allein betrachtet, jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts hinsichtlich der Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen allgemein und unzweideutig ausschließt. Die Bestimmung ist somit hinreichend genau, um von einem Rechtsbürger in Anspruch genommen und vom Gericht angewandt werden zu können.

53. Sodann ist zu prüfen, ob das in ihr aufgestellte Diskriminierungsverbot in Anbetracht der in der Richtlinie enthaltenen Ausnahmen und des Umstands, daß die Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut des Art. 5 II die erforderlichen Maßnahmen zu treffen haben, um die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung im nationalen Recht sicherzustellen, als unbedingt angesehen werden kann.

54. Was zunächst den in Art. 1 II der Richtlinie 76/207 formulierten Vorbehalt in bezug auf die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit angeht, so ist zu bemerken, daß dieser Vorbehalt, obwohl er die sachliche Geltung der Richtlinie einschränkt, die Anwendung des genannten Grundsatzes in seinem eigenen Bereich und insbesondere in bezug auf Art. 5 der Richtlinie vor keiner Bedingung abhängig macht. Sodann sind auch die in Art. 2 der Richtlinie 76/207 vorgesehenen Ausnahmen von der Richtlinie im vorliegenden Fall nicht einschlägig.

55. Daraus folgt, daß Art. 5 der Richtlinie 76/207 den Mitgliedstaaten keineswegs die Befugnis verleiht, die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in seinem eigenen Geltungsbereich einzuschränken oder Bedingungen zu unterwerfen, und daß diese Bestimmung hinreichend genau und unbedingt ist, um von den einzelnen vor den nationalen Gerichten zu dem Zweck in Anspruch genommen zu werden, die Anwendung jeder nationalen Bestimmung, die nicht dem Art. 5 I entspricht, auszuschließen.

56. Auf die zweite Frage ist somit zu antworten, daß Art. 5 I der Richtlinie 76/207 des Rates vom 9. 2. 1976, der Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts hinsichtlich der Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen verbietet, gegenüber einer als Arbeitgeber handelnden staatlichen Stelle in Anspruch genommen werden kann, um die Anwendung jeder nationalen Bestimmung, die nicht diesem Art. 5 I entspricht, auszuschließen.