Staatshaftung für Nicht-Umsetzung von Richtlinien - Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers
EuGH, Urteil v. 19. NOVEMBER 1991, Rs. C-6/90 UND
C-9/90 - Francovich
Fundstellen:
EuGH Slg. 1991, I-5357
NJW 1992, 165
Leitsätze
1. Die Tatsache, daß der Mitgliedstaat, an den eine Richtlinie gerichtet
ist, zwischen mehreren möglichen Mitteln zur Erreichung des durch diese
vorgeschriebenen Ziels wählen kann, schließt nicht aus, daß der einzelne vor
den nationalen Gerichten die Rechte geltend machen kann, deren Inhalt sich
bereits aufgrund der Richtlinie mit hinreichender Genauigkeit bestimmen
läßt.
2. Auch wenn die Vorschriften der Richtlinie 80/987 über den Schutz der
Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers in bezug auf die
Bestimmung des Personenkreises, dem die Garantie zugute kommen soll, und den
Inhalt dieser Garantie unbedingt und hinreichend genau sind, können sich die
Betroffenen nicht vor den nationalen Gerichten auf diese Vorschriften
berufen, wenn ein Mitgliedstaat noch keine Durchführungsmaßnahmen erlassen
hat; zum einen regeln die Vorschriften nämlich nicht, wer Schuldner dieser
Garantieansprüche ist, und zum anderen kann der Staat nicht allein deshalb
als Schuldner angesehen werden, weil er die Richtlinie nicht fristgemäß
umgesetzt hat.
3. Die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen wäre
beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert,
wenn der einzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall eine
Entschädigung zu erlangen, daß seine Rechte durch einen Verstoß gegen das
Gemeinschaftsrecht verletzt werden, der einem Mitgliedstaat zuzurechnen ist.
Diese Möglichkeit einer Entschädigung durch den Mitgliedstaat ist vor allem
dann unerläßlich, wenn die volle Wirkung der gemeinschaftsrechtlichen
Bestimmungen davon abhängt, daß der Staat tätig wird, und der einzelne
deshalb im Falle einer Untätigkeit des Staates die ihm durch das
Gemeinschaftsrecht zuerkannten Rechte vor den nationalen Gerichten nicht
geltend machen kann.
Der Grundsatz einer Haftung des Staates für Schäden, die dem einzelnen durch
dem Staat zurechenbare Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen,
folgt somit aus dem Wesen der mit dem EWG-Vertrag geschaffenen
Rechtsordnung.
Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Ersatz dieser Schäden findet auch
in Artikel 5 EWG-Vertrag eine Stütze, nach dem die Mitgliedstaaten alle
geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Durchführung des
Gemeinschaftsrechts zu treffen und folglich auch die rechtswidrigen Folgen
eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht zu beheben haben.
4. Die Voraussetzungen, unter denen die gemeinschaftsrechtlich gebotene
Haftung eines Mitgliedstaats für die dem einzelnen durch Verstöße gegen das
Gemeinschaftsrecht entstandenen Schäden einen Entschädigungsanspruch
eröffnet, hängen von der Art des Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht ab,
der dem verursachten Schaden zugrundeliegt.
Verstößt ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtung aus Artikel 189 Absatz
3 EWG-Vertrag, alle erforderlichen Maßnahmen zur Erreichung des durch eine
Richtlinie vorgeschriebenen Ziels zu erlassen, so verlangt die volle
Wirksamkeit dieser gemeinschaftsrechtlichen Regelung einen
Entschädigungsanspruch, wenn die folgenden drei Voraussetzungen erfüllt
sind: Erstens muß das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel die
Verleihung von Rechten an den einzelnen beinhalten. Zweitens muß der Inhalt
dieser Rechte auf der Grundlage der Richtlinie bestimmt werden können.
Drittens muß ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat
auferlegte Verpflichtung und dem dem Geschädigten entstandenen Schaden
bestehen.
Mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung ist es Sache des
Mitgliedstaats, die Folgen des verursachten Schadens im Rahmen des
nationalen Haftungsrechts zu beheben. Allerdings dürfen die im
Schadensersatzrecht der einzelnen Mitgliedstaaten festgelegten materiellen
und formellen Voraussetzungen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen
Klagen, die nur nationales Recht betreffen, und sie dürfen nicht so
ausgestaltet sein, daß sie es praktisch unmöglich machen oder übermäßig
erschweren, die Entschädigung zu erlangen.
Sachverhalt und Gründe
1 Die Pretura Vicenza (in der Rechtssache C-6/90) und die Pretura Bassano
del Grappa (in der Rechtssache C-9/90) haben mit Beschluß vom 9. Juli bzw.
vom 30. Dezember 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 8. bzw. 15. Januar
1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag mehrere Fragen nach der Auslegung des
Artikels 189 Absatz 3 EWG-Vertrag und der Richtlinie 80/987/EWG des Rates
vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der
Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des
Arbeitgebers (ABl. L 283, S. 23) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Fragen stellen sich in Rechtsstreitigkeiten zwischen Andrea
Francovich, Danila Bonifaci u. a. (nachstehend: Kläger) und der
Italienischen Republik.
3 Durch die Richtlinie 80/987 soll den Arbeitnehmern auf Gemeinschaftsebene
ein Mindestschutz bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers unbeschadet in
den Mitgliedstaaten bestehender günstigerer Bestimmungen gewährleistet
werden. Zu diesem Zweck sieht die Richtlinie insbesondere spezielle
Garantien für die Befriedigung nichterfüllter Ansprüche der Arbeitnehmer auf
das Arbeitsentgelt vor.
4 Nach Artikel 11 hatten die Mitgliedstaaten innerhalb einer Frist, die am
23. Oktober 1983 ablief, alle erforderlichen Rechts- und
Verwaltungsvorschriften zu erlassen, um der Richtlinie nachzukommen. Da die
Italienische Republik dieser Verpflichtung nicht nachkam, stellte der
Gerichtshof mit Urteil vom 2. Februar 1989 in der Rechtssache 22/87
(Kommission/Italien, Slg. 1989, 143) fest, daß sie gegen den EWG-Vertrag
verstoßen hat.
5 Andrea Francovich, der Kläger in der Rechtssache C-6/90, hatte für die
Firma CDN Elettronica SnC in Vicenza gearbeitet, dafür aber nur gelegentlich
Abschlagszahlungen auf seinen Lohn erhalten. Er erhob deshalb Klage vor der
Pretura Vicenza, die die beklagte Firma zur Zahlung von rund 6 Millionen LIT
verurteilte. Im Rahmen der Zwangsvollstreckung nahm der Gerichtsvollzieher
des Tribunale Vicenza ein Protokoll über eine fruchtlose Pfändung auf. Der
Kläger verlangte daraufhin vom italienischen Staat die in der Richtlinie
80/987 vorgesehenen Garantien, hilfsweise Schadensersatz.
6 In der Rechtssache C-9/90 erhoben Danila Bonifaci und 33 andere
Arbeitnehmerinnen vor der Pretura Bassano del Grappa Klage. Sie führten aus,
als Arbeitnehmerinnen für die Firma Gaia Confezioni Srl tätig gewesen zu
sein, über deren Vermögen am 5. April 1985 der Konkurs eröffnet worden war.
Zum Zeitpunkt der Auflösung der Arbeitsverhältnisse hatten die Klägerinnen
Anspruch auf einen Betrag von mehr als 253 Millionen LIT, der in die
Schuldenmasse der in Konkurs geratenen Firma aufgenommen worden war. Mehr
als fünf Jahre nach dem Konkurs hatten sie noch kein Geld erhalten. Der
Konkursverwalter hatte ihnen mitgeteilt, daß eine auch nur quotenmäßige
Befriedigung völlig unwahrscheinlich sei. Sie erhoben deshalb gegen die
Italienische Republik Klage mit dem Antrag, die Beklagte angesichts ihrer
Verpflichtung zur Anwendung der Richtlinie 80/987 ab dem 23. Oktober 1983 zu
verurteilen, das ihnen zustehende rückständige Arbeitsentgelt, zumindest in
Höhe der letzten drei Monatslöhne, zu zahlen, hilfsweise, ihnen
Schadensersatz zu leisten.
7 Unter diesen Umständen haben die nationalen Gerichte dem Gerichtshof
folgende, in beiden Rechtssachen identische Fragen zur Vorabentscheidung
vorgelegt:
1) Kann nach geltendem Gemeinschaftsrecht ein einzelner, der dadurch
geschädigt worden ist, daß der Staat -- wie der Gerichtshof durch Urteil
festgestellt hat -- die Richtlinie 80/987 nicht durchgeführt hat, die
Befolgung der in dieser Richtlinie enthaltenen Vorschriften, die hinreichend
genau und unbedingt sind, durch den Staat verlangen, indem er sich
unmittelbar gegenüber dem säumigen Mitgliedstaat auf die
Gemeinschaftsvorschriften beruft, um die Garantien zu erhalten, für die
dieser Staat sorgen mußte, jedenfalls aber Ersatz des Schadens, den er im
Zusammenhang mit den Vorschriften erlitten hat, die diese Eigenschaft nicht
haben?
2) Ist Artikel 3 in Verbindung mit Artikel 4 der Richtlinie 80/987 des Rates
dahin auszulegen, daß für den Fall, daß der Staat nicht von der Möglichkeit
Gebrauch gemacht hat, die in Artikel 4 genannten Grenzen festzusetzen,
dieser Staat zur Befriedigung der Ansprüche der Arbeitnehmer in dem in
Artikel 3 festgelegten Umfang verpflichtet ist?
3) Falls die zweite Frage verneint wird, welches ist dann die
Mindestgarantie, die der Staat im Sinne der Richtlinie 80/987 dem
anspruchsberechtigten Arbeitnehmer leisten muß, damit das diesem geschuldete
Arbeitsentgelt seiner Höhe nach als Durchführung der Richtlinie betrachtet
werden kann?
8 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts der Ausgangsverfahren, des
Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen
Erklärung wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im
folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies
erfordert.
9 Die erste Frage der vorlegenden Gerichte wirft zwei Probleme auf, die
getrennt zu prüfen sind. Sie betrifft zum einen die unmittelbare Wirkung der
Richtlinienbestimmungen, die die Rechte der Arbeitnehmer festlegen, und geht
zum anderen dahin, ob und in welchem Umfang der Staat für Schäden haftet,
die durch eine Verletzung seiner gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen
verursacht werden.
Zur unmittelbaren Wirkung der Richtlinienbestimmungen, die die Rechte der
Arbeitnehmer festlegen
10 Die vorlegenden Gerichte möchten mit dem ersten Teil ihrer ersten Frage
wissen, ob die Betroffenen nach den Richtlinienbestimmungen, die die Rechte
der Arbeitnehmer festlegen, diese Rechte mangels fristgemäß erlassener
Durchführungsmaßnahmen vor den nationalen Gerichten dem Staat gegenüber
geltend machen können.
11 Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Mitgliedstaat, der die in einer
Richtlinie vorgeschriebenen Durchführungsmaßnahmen nicht fristgemäß erlassen
hat, dem einzelnen nicht entgegenhalten, daß er die aus dieser Richtlinie
erwachsenen Verpflichtungen nicht erfüllt hat. Demnach kann sich der
einzelne mangels fristgemäß erlassener Durchführungsmaßnahmen auf
Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend
genau erscheinen, gegenüber allen innerstaatlichen, nicht
richtlinienkonformen Vorschriften berufen; der einzelne kann sich auf diese
Bestimmungen auch berufen, soweit sie Rechte festlegen, die dem Staat
gegenüber geltend gemacht werden können (Urteil vom 19. Januar 1982 in der
Rechtssache 8/81, Becker, Slg. 1982, 53, Randnrn. 24 und 25).
12 Es ist somit zu prüfen, ob die Bestimmungen der Richtlinie 80/987, die
die Rechte der Arbeitnehmer festlegen, unbedingt und hinreichend genau sind.
Diese Prüfung muß sich auf drei Gesichtspunkte erstrecken: die Bestimmung
des Personenkreises, dem die vorgesehene Garantie zugute kommen soll, den
Inhalt dieser Garantie und schließlich die Person des Schuldners der
Garantieansprüche. In diesem Zusammenhang stellt sich insbesondere die
Frage, ob der Staat deshalb als Schuldner der Garantieansprüche angesehen
werden kann, weil er nicht fristgemäß die notwendigen Umsetzungsmaßnahmen
getroffen hat.
13 Was zunächst die Bestimmung des Personenkreises betrifft, dem die
Garantie zugute kommen soll, so gilt die Richtlinie nach Artikel 1 Absatz 1
für Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder
Arbeitsverhältnissen gegen Arbeitgeber, die zahlungsunfähig im Sinne von
Artikel 2 Absatz 1 sind; in Artikel 2 Absatz 1 sind die Fälle genannt, in
denen ein Arbeitgeber als zahlungsunfähig anzusehen ist. Artikel 2 Absatz 2
verweist wegen der Begriffsbestimmung der Worte Arbeitnehmer und Arbeitgeber
auf das einzelstaatliche Recht. Schließlich können die Mitgliedstaaten nach
Artikel 1 Absatz 2 bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern, die im Anhang der
Richtlinie aufgeführt sind, ausnahmsweise und unter bestimmten
Voraussetzungen vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausschließen.
14 Diese Bestimmungen sind unbedingt und hinreichend genau, so daß das
nationale Gericht feststellen kann, ob jemand zu dem Personenkreis gehört,
dem die Richtlinie zugute kommen soll. Das Gericht braucht nämlich nur zu
prüfen, ob der Betreffende nach nationalem Recht die Arbeitnehmereigenschaft
besitzt und nicht gemäß Artikel 1 Absatz 2 und dem Anhang der Richtlinie von
deren Anwendungsbereich ausgeschlossen ist (zu den Voraussetzungen für einen
solchen Ausschluß s. die Urteile vom 2. Februar 1989 in der Rechtssache
22/87, Kommission/Italien, a. a. O., Randnrn. 18 bis 23, und vom 8. November
1990 in der Rechtssache C-53/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1990, I-3917,
Randnrn. 11 bis 26) und ob einer der in Artikel 2 der Richtlinie
vorgesehenen Fälle der Zahlungsunfähigkeit gegeben ist.
15 Was sodann den Inhalt der Garantie anbelangt, so ist nach Artikel 3 der
Richtlinie die Befriedigung der nichterfüllten Ansprüche aus
Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen sicherzustellen, die das
Arbeitsentgelt für den Zeitraum vor einem vom Mitgliedstaat festgesetzten
Zeitpunkt betreffen. Der Mitgliedstaat hat bei dieser Festsetzung die Wahl
zwischen drei Möglichkeiten: a) dem Zeitpunkt des Eintritts der
Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, b) dem Zeitpunkt der Kündigung zwecks
Entlassung des betreffenden Arbeitnehmers wegen Zahlungsunfähigkeit des
Arbeitgebers, c) dem Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit des
Arbeitgebers oder dem Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsvertrags oder des
Arbeitsverhältnisses des betreffenden Arbeitnehmers wegen
Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers.
16 Nach Artikel 4 Absätze 1 und 2 kann der Mitgliedstaat entsprechend diesem
Wahlrecht die Zahlungspflicht gegebenenfalls auf nach Maßgabe dieses
Artikels berechnete Zeiträume von drei Monaten oder acht Wochen begrenzen.
Schließlich können die Mitgliedstaaten nach Artikel 4 Absatz 3 für die
Zahlungsgarantie eine Höchstgrenze festsetzen, um die Zahlung von Beträgen
zu vermeiden, die über die soziale Zweckbestimmung der Richtlinie
hinausgehen. Machen die Mitgliedstaaten von dieser Möglichkeit Gebrauch, so
haben sie der Kommission mitzuteilen, nach welchen Methoden sie diese
Höchstgrenze festsetzen. Im übrigen hindert die Richtlinie gemäß Artikel 10
die Mitgliedstaaten nicht daran, die zur Vermeidung von Mißbräuchen
notwendigen Maßnahmen zu treffen und insbesondere die Zahlungspflicht unter
bestimmten Umständen abzulehnen oder einzuschränken.
17 Dem Mitgliedstaat steht somit nach Artikel 3 der Richtlinie ein Wahlrecht
hinsichtlich der Festsetzung des Zeitpunkts zu, von dem an die Befriedigung
der Ansprüche garantiert werden muß. Wie sich jedoch schon implizit aus der
Rechtsprechung des Gerichtshofes (Urteile vom 4. Dezember 1986 in der
Rechtssache 71/85, FNV, Slg. 1986, 3855, und vom 24. März 1987 in der
Rechtssache 286/85, McDermott und Cotter, Slg. 1987, 1453, Randnr. 15)
ergibt, schließt die Tatsache, daß der Staat zwischen mehreren möglichen
Mitteln zur Erreichung des durch eine Richtlinie vorgeschriebenen Ziels
wählen kann, nicht aus, daß der einzelne vor den nationalen Gerichten die
Rechte geltend machen kann, deren Inhalt sich bereits aufgrund der
Richtlinie mit hinreichender Genauigkeit bestimmen läßt.
18 Im vorliegenden Fall schreibt die Richtlinie 80/987 das Ziel vor, den
Arbeitnehmern bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers die Befriedigung
ihrer nichterfüllten Ansprüche zu garantieren. Der Umstand, daß die Artikel
3 und 4 Absätze 1 und 2 den Mitgliedstaaten einen gewissen
Gestaltungsspielraum in bezug auf die Methoden für die Festsetzung dieser
Garantie und die Begrenzung des Garantiebetrags einräumen, ändert nichts
daran, daß das vorgeschriebene Ziel genau und unbedingt ist.
19 Wie die Kommission und die Kläger ausgeführt haben, läßt sich die in der
Richtlinie vorgesehene Mindestgarantie nämlich in der Weise bestimmen, daß
der Zeitpunkt zugrunde gelegt wird, bei dessen Wahl die Garantieeinrichtung
am wenigsten belastet wird. Dies ist der Zeitpunkt des Eintritts der
Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, denn die beiden anderen Zeitpunkte --
derjenige der Kündigung zwecks Entlassung des Arbeitnehmers oder derjenige
der Beendigung des Arbeitsvertrags oder des Arbeitsverhältnisses -- liegen
nach den Voraussetzungen des Artikels 3 zwangsläufig später als der Eintritt
der Zahlungsunfähigkeit, so daß der durch sie begrenzte Zeitraum, für den
die Befriedigung von Ansprüchen sichergestellt werden muß, länger
ist.
20 Die in Artikel 4 Absatz 2 vorgesehene Möglichkeit einer Begrenzung dieser
Garantie schließt nicht aus, daß die Mindestgarantie bestimmt werden kann.
Nach diesem Artikel können die Mitgliedstaaten die den Arbeitnehmern
gewährten Garantien auf bestimmte Zeiträume vor dem in Artikel 3 genannten
Zeitpunkt begrenzen. Diese Zeiträume werden jeweils durch einen der drei in
Artikel 3 vorgesehenen Zeitpunkte festgelegt, so daß jedenfalls bestimmt
werden kann, inwieweit der Mitgliedstaat die in der Richtlinie vorgesehene
Garantie nach Maßgabe des Zeitpunkts, den er bei einer Umsetzung der
Richtlinie gewählt hätte, hätte beschränken dürfen.
21 Zu Artikel 4 Absatz 3, wonach die Mitgliedstaaten für die
Zahlungsgarantie eine Höchstgrenze festsetzen können, um die Zahlung von
Beträgen zu vermeiden, die über die soziale Zweckbestimmung der Richtlinie
hinausgehen, und zu Artikel 10, wonach die Richtlinie die Mitgliedstaaten
nicht daran hindert, die zur Vermeidung von Mißbräuchen notwendigen
Maßnahmen zu treffen, ist zu bemerken, daß ein Mitgliedstaat, der seine
Verpflichtungen zur Umsetzung einer Richtlinie verletzt hat, nicht die durch
die Richtlinie begründeten Rechte des einzelnen unter Berufung darauf
vereiteln kann, daß er den Garantiebetrag hätte begrenzen können, wenn er
die notwendigen Maßnahmen zur Durchführung der Richtlinie getroffen hätte
(wegen einer ähnlichen Möglichkeit hinsichtlich der Verhütung von
Mißbräuchen im Steuerrecht s. das Urteil vom 19. Januar 1982 in der
Rechtssache 8/81, Becker, a. a. O., Randnr. 34).
22 Es ist somit festzustellen, daß die in Rede stehenden Bestimmungen über
den Inhalt der Garantie unbedingt und hinreichend genau sind.
23 Zur Person des Schuldners der Garantieansprüche schließlich bestimmt
Artikel 5 der Richtlinie folgendes:
Die Mitgliedstaaten legen die Einzelheiten des Aufbaus, der
Mittelaufbringung und der Arbeitsweise der Garantieeinrichtungen fest, wobei
sie insbesondere folgende Grundsätze beachten:
a) Das Vermögen der Einrichtungen muß vom Betriebsvermögen der Arbeitgeber
unabhängig und so angelegt sein, daß es einem Verfahren bei
Zahlungsunfähigkeit nicht zugänglich ist.
b) Die Arbeitgeber müssen zur Mittelaufbringung beitragen, es sei denn, daß
diese in vollem Umfang durch die öffentliche Hand gewährleistet ist.
c) Die Zahlungspflicht der Einrichtungen besteht unabhängig von der
Erfüllung der Verpflichtungen, zur Mittelaufbringung beizutragen.
24 Es ist vorgebracht worden, die Richtlinie sehe die Möglichkeit einer
vollständigen Finanzierung der Garantieeinrichtungen durch die öffentliche
Hand vor; deshalb könne es nicht hingenommen werden, daß ein Mitgliedstaat
die Richtlinie unter Berufung darauf, daß er seine finanzielle Belastung
teilweise oder ganz auf Dritte hätte abwälzen können, nicht wirksam werden
lasse.
25 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Aus der Richtlinie geht
hervor, daß der Mitgliedstaat ein geeignetes institutionelles Garantiesystem
einzurichten hat. Nach Artikel 5 verfügt der Mitgliedstaat über einen weiten
Gestaltungsspielraum, was den Aufbau, die Arbeitsweise und die Aufbringung
der Mittel der Garantieeinrichtungen anbelangt. Die von der Kommission
angeführte Tatsache, daß die Richtlinie als eine von mehreren Möglichkeiten
die vollständige Finanzierung dieses Systems durch die öffentliche Hand
vorsieht, kann nicht bedeuten, daß der Staat als Schuldner der
nichterfüllten Ansprüche angesehen werden könnte. Die Zahlungsverpflichtung
trifft die Garantieeinrichtungen; erst bei Einrichtung des Garantiesystems
kann der Staat die vollständige Finanzierung der Garantieeinrichtungen durch
die öffentliche Hand vorsehen. In diesem Fall übernimmt der Staat eine
Verpflichtung, die ihm nicht in erster Linie obliegt.
26 Obwohl also die in Rede stehenden Richtlinienvorschriften in bezug auf
die Bestimmung des Personenkreises, dem die Garantie zugute kommen soll, und
den Inhalt dieser Garantie unbedingt und hinreichend genau sind, kann sich
der einzelne deshalb noch nicht vor den nationalen Gerichten auf diese
Vorschriften berufen. Zum einen regeln sie nämlich nicht, wer Schuldner der
Garantieansprüche ist; zum anderen kann der Staat nicht allein deshalb als
Schuldner angesehen werden, weil er die Richtlinie nicht fristgemäß
umgesetzt hat.
27 Auf den ersten Teil der ersten Frage ist somit zu antworten, daß die
Betroffenen nach den Bestimmungen der Richtlinie 80/987, die die Rechte der
Arbeitnehmer festlegen, diese Rechte mangels fristgemäß erlassener
Durchführungsmaßnahmen nicht vor den nationalen Gerichten dem Staat
gegenüber geltend machen können.
Zur Haftung des Staates für Schäden, die durch eine Verletzung seiner
gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen verursacht werden
28 Mit dem zweiten Teil ihrer ersten Frage möchten die vorlegenden Gerichte
wissen, ob ein Mitgliedstaat die Schäden zu ersetzen hat, die dem einzelnen
dadurch entstehen, daß die Richtlinie 80/987 nicht umgesetzt worden
ist.
29 Die vorlegenden Gerichte werfen somit die Frage auf, ob und in welchem
Umfang der Staat für Schäden haftet, die durch eine Verletzung seiner
gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen verursacht werden.
30 Dieses Problem ist unter Berücksichtigung des allgemeinen Systems und der
wesentlichen Grundsätze des EWG-Vertrages zu prüfen.
a) Zum Grundsatz der Staatshaftung
31 Der EWG-Vertrag hat eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die in die
Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von den
nationalen Gerichten anzuwenden ist. Rechtssubjekte dieser Rechtsordnung
sind nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch der einzelne, dem das
Gemeinschaftsrecht, ebenso wie es ihm Pflichten auferlegt, auch Rechte
verleihen kann. Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der EWG-Vertrag dies
ausdrücklich bestimmt, sondern auch aufgrund von eindeutigen
Verpflichtungen, die der EWG-Vertrag dem einzelnen wie auch den
Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt (Urteile vom 5.
Februar 1963 in der Rechtssache 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, 1, und
vom 15. Juli 1964 in der Rechtssache 6/64, Costa, Slg. 1964, 1251).
32 Nach ständiger Rechtsprechung müssen die nationalen Gerichte, die im
Rahmen ihrer Zuständigkeiten die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts
anzuwenden haben, die volle Wirkung dieser Bestimmungen gewährleisten und
die Rechte schützen, die das Gemeinschaftsrecht dem einzelnen verleiht (vgl.
insbesondere die Urteile vom 9. März 1978 in der Rechtssache 106/77,
Simmenthal, Slg. 1978, 629, Randnrn. 14/16, und vom 19. Juni 1990 in der
Rechtssache C-213/89, Factortame, Slg. 1990, I-2433, Randnr. 19).
33 Die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen wäre
beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert,
wenn der einzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall eine
Entschädigung zu erlangen, daß seine Rechte durch einen Verstoß gegen das
Gemeinschaftsrecht verletzt werden, der einem Mitgliedstaat zuzurechnen
ist.
34 Die Möglichkeit einer Entschädigung durch den Mitgliedstaat ist vor allem
dann unerläßlich, wenn die volle Wirkung der gemeinschaftsrechtlichen
Bestimmungen wie im vorliegenden Fall davon abhängt, daß der Staat tätig
wird, und der einzelne deshalb im Falle einer Untätigkeit des Staates die
ihm durch das Gemeinschaftsrecht zuerkannten Rechte vor den nationalen
Gerichten nicht geltend machen kann.
35 Der Grundsatz einer Haftung des Staates für Schäden, die dem einzelnen
durch dem Staat zurechenbare Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht
entstehen, folgt somit aus dem Wesen der mit dem EWG-Vertrag geschaffenen
Rechtsordnung.
36 Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Ersatz dieser Schäden findet
auch in Artikel 5 EWG-Vertrag eine Stütze, nach dem die Mitgliedstaaten alle
geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung ihrer
Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht zu treffen haben. Zu diesen
Verpflichtungen gehört auch diejenige, die rechtswidrigen Folgen eines
Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht zu beheben (zu der ähnlichen
Bestimmung des Artikels 86 EGKS-Vertrag s. das Urteil vom 16. Dezember 1960
in der Rechtssache 6/60, Humblet, Slg. 1960, 1163).
37 Es ist nach alledem ein Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, daß die
Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die dem einzelnen
durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, die diesen Staaten
zuzurechnen sind.
b) Zu den Voraussetzungen der Staatshaftung
38 Die Voraussetzungen, unter denen diese gemeinschaftsrechtlich gebotene
Staatshaftung einen Entschädigungsanspruch eröffnet, hängen von der Art des
Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht ab, der dem verursachten Schaden
zugrunde liegt.
39 Verstößt ein Mitgliedstaat wie im vorliegenden Fall gegen seine
Verpflichtung aus Artikel 189 Absatz 3 EWG-Vertrag, alle erforderlichen
Maßnahmen zur Erreichung des durch eine Richtlinie vorgeschriebenen Ziels zu
erlassen, so verlangt die volle Wirksamkeit dieser gemeinschaftsrechtlichen
Regelung einen Entschädigungsanspruch, wenn drei Voraussetzungen erfüllt
sind.
40 Erstens muß das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel die Verleihung
von Rechten an einzelne beinhalten. Zweitens muß der Inhalt dieser Rechte
auf der Grundlage der Richtlinie bestimmt werden können. Drittens muß ein
Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat auferlegte
Verpflichtung und dem den Geschädigten entstandenen Schaden bestehen.
41 Diese Voraussetzungen reichen aus, um dem einzelnen einen Anspruch auf
Entschädigung zu geben, der unmittelbar im Gemeinschaftsrecht begründet ist.
42 Hiervon abgesehen hat der Staat die Folgen des verursachten Schadens im
Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben. Mangels einer
gemeinschaftsrechtlichen Regelung ist es nämlich Sache der nationalen
Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu
bestimmen und das Verfahren für die Klagen auszugestalten, die den vollen
Schutz der dem einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte
gewährleisten sollen (Urteile vom 22. Januar 1976 in der Rechtssache 60/75,
Russo, Slg. 1976, 45, vom 16. Dezember 1976 in der Rechtssache 33/76, Rewe,
Slg. 1976, 1989, und vom 7. Juli 1981 in der Rechtssache 158/80, Rewe, Slg.
1981, 1805).
43 Auch dürfen die im Schadensersatzrecht der einzelnen Mitgliedstaaten
festgelegten materiellen und formellen Voraussetzungen nicht ungünstiger
sein als bei ähnlichen Klagen, die nur nationales Recht betreffen, und sie
dürfen nicht so ausgestaltet sein, daß sie es praktisch unmöglich machen
oder übermäßig erschweren, die Entschädigung zu erlangen (zu dem ähnlichen
Bereich der Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht
erhobenen Abgaben s. insbesondere das Urteil vom 9. November 1983 in der
Rechtssache 199/82, San Giorgio, Slg. 1983, 3595).
44 Im vorliegenden Fall ist durch ein Urteil des Gerichtshofes festgestellt
worden, daß ein Mitgliedstaat dadurch gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen
hat, daß er die Richtlinie 80/987 nicht fristgemäß umgesetzt hat. Das durch
diese Richtlinie vorgeschriebene Ziel beinhaltet die Begründung eines Rechts
der Arbeitnehmer auf eine Garantie für die Befriedigung ihrer nichterfüllten
Ansprüche auf das Arbeitsentgelt. Wie die Prüfung des ersten Teils der
ersten Frage ergeben hat, läßt sich der Inhalt dieses Rechts auf der
Grundlage der Richtlinie bestimmen.
45 Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht im Rahmen des
nationalen Haftungsrechts das Recht der Arbeitnehmer auf Ersatz der Schäden
sicherzustellen, die ihnen dadurch entstehen, daß die Richtlinie nicht
umgesetzt worden ist.
46 Dem vorlegenden Gericht ist somit zu antworten, daß ein Mitgliedstaat die
Schäden zu ersetzen hat, die dem einzelnen dadurch entstehen, daß die
Richtlinie 80/987 nicht umgesetzt worden ist.
Zur zweiten und zur dritten Frage
47 Angesichts der Antwort auf die erste Vorlagefrage erübrigt sich eine
Entscheidung über die zweite und die dritte Frage.
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