Gebot zur effektiven Umsetzung der Richtlinie,
Gebot zur hinreichend bestimmten und klaren Umsetzung (Transparenzgebot) -
Richtlinie
93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in
Verbraucherverträgen
EuGH, Urteil v. 10. Mai 2001,
Rs. C-144/99 - Kommission/Niederlande
Fundstellen:
EuGH
Slg. 2001, I-3541
NJW 2001, 2244
Leitsätze
Die Umsetzung einer Richtlinie verlangt zwar nicht notwendig in jedem
Mitgliedstaat ein Tätigwerden des Gesetzgebers, es ist jedoch unerlässlich,
dass das fragliche nationale Recht tatsächlich die vollständige Anwendung
der Richtlinie durch die nationalen Behörden gewährleistet, dass die sich
aus diesem Recht ergebende Rechtslage hinreichend bestimmt und klar ist und
dass die Begünstigten in die Lage versetzt werden, von allen ihren Rechten
Kenntnis zu erlangen und diese gegebenenfalls vor den nationalen Gerichten
geltend zu machen. Diese letzte Voraussetzung ist besonders wichtig, wenn
die Richtlinie darauf abzielt, den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten
Ansprüche zu verleihen. Gerade das ist bei der Richtlinie 93/13 über
missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen jedoch der Fall, denn die
Richtlinie bezweckt nach ihrer sechsten Begründungserwägung u. a., den
Bürger in seiner Rolle als Verbraucher beim Kauf von Waren und
Dienstleistungen mittels Verträgen zu schützen, für die die
Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten gelten".
Eine etwa bestehende nationale Rechtsprechung, die innerstaatliche
Rechtsvorschriften in einem Sinn auslegt, der als den Anforderungen einer
Richtlinie entsprechend angesehen wird, kann nicht die Klarheit und
Bestimmtheit aufweisen, die notwendig sind, um dem Erfordernis der
Rechtssicherheit zu genügen.
( vgl. Randnrn. 17-18, 21 )
Sachverhalt und Gründe
1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die
am 21. April 1999 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß
Artikel 169 EG-Vertrag (jetzt Artikel 226 EG) Klage erhoben auf
Feststellung, dass das Königreich der Niederlande dadurch gegen seine
Verpflichtungen aus Artikel 189 EG-Vertrag (jetzt Artikel 249 EG) und aus
der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche
Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. L 95, S. 29) verstoßen hat, dass es
nicht die für die vollständige Umsetzung der Artikel 4 Absatz 2 und 5 der
Richtlinie in das niederländische Recht erforderlichen Rechts- und
Verwaltungsvorschriften erlassen hat.
Die Richtlinie
2 Zweck der Richtlinie ist gemäß Artikel 1 die Angleichung der Rechts- und
Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über missbräuchliche Klauseln in
Verträgen zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern.
3 Artikel 3 der Richtlinie definiert den Begriff der missbräuchlichen
Klauseln". Artikel 6 bestimmt, dass derartige Klauseln für den Verbraucher
unverbindlich sind".
4 Artikel 4 der Richtlinie sieht vor:
(1) Die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel wird unbeschadet des
Artikels 7 unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen,
die Gegenstand des Vertrages sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden
Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrages oder eines anderen
Vertrages, von dem die Klausel abhängt, zum Zeitpunkt des
Vertragsabschlusses beurteilt.
(2) Die Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klauseln betrifft weder den
Hauptgegenstand des Vertrages noch die Angemessenheit zwischen dem Preis
bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die
Gegenleistung darstellen, sofern diese Klauseln klar und verständlich
abgefasst sind."
5 Artikel 5 der Richtlinie lautet:
Sind alle dem Verbraucher in Verträgen unterbreiteten Klauseln oder einige
dieser Klauseln schriftlich niedergelegt, so müssen sie stets klar und
verständlich abgefasst sein. Bei Zweifeln über die Bedeutung einer Klausel
gilt die für den Verbraucher günstigste Auslegung. Diese Auslegungsregel
gilt nicht im Rahmen der in Artikel 7 Absatz 2 vorgesehenen Verfahren."
6 Nach Artikel 10 der Richtlinie mussten die Mitgliedstaaten die
erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen, um der
Richtlinie spätestens am 31. Dezember 1994 nachzukommen.
Die nationale Regelung
7 Das Burgerlijk Wetboek (niederländisches Bürgerliches Gesetzbuch, im
Folgenden: BW) regelt in Buch III das Vermögensrecht im Allgemeinen und in
Buch VI den Allgemeinen Teil des Schuldrechts.
8 Artikel 35 des Buches III des BW lautet:
Gegenüber demjenigen, der die Erklärung oder das Verhalten eines anderen
entsprechend dem Sinn, den er dieser Erklärung oder diesem Verhalten unter
den gegebenen Umständen vernünftigerweise zuschreiben durfte, als eine von
diesem anderen an ihn gerichtete Erklärung eines bestimmten Inhalts
aufgefasst hat, kann man sich nicht auf den Mangel eines mit dieser
Erklärung übereinstimmenden Willens berufen."
9 Artikel 231 des Buches VI des BW definiert Allgemeine
Geschäftsbedingungen" als eine oder mehrere schriftlich niedergelegte
Bestimmungen, die zu dem Zweck aufgestellt worden sind, in eine Mehrzahl von
Verträgen aufgenommen zu werden, mit Ausnahme von Bestimmungen, die die
Hauptleistungen bezeichnen".
10 Artikel 233 des Buches VI des BW sieht vor:
Eine Bestimmung in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen ist anfechtbar,
a) wenn sie unter Berücksichtigung der Art und des sonstigen Inhalts des
Vertrages, der Weise, auf die die Geschäftsbedingungen zustande gekommen
sind, der gegenseitig erkennbaren Interessen der Parteien und der sonstigen
Umstände des Falles die andere Vertragspartei unangemessen benachteiligt;
b) wenn der Verwender der anderen Vertragspartei keine angemessene
Möglichkeit gegeben hat, von den Allgemeinen Geschäftsbedingungen Kenntnis
zu nehmen."
11 Artikel 248 des Buches VI des BW bestimmt:
(1) Ein Vertrag hat nicht nur die von den Parteien vereinbarten
Rechtsfolgen, sondern auch die, die sich je nach der Art des Vertrages aus
dem Gesetz, der Gewohnheit oder den Erfordernissen der Vernünftigkeit und
Billigkeit ergeben.
(2) Eine zwischen den Parteien infolge des Vertrages geltende Regel findet
keine Anwendung, soweit dies unter den gegebenen Umständen nach Maßgabe von
Vernünftigkeit und Billigkeit unannehmbar wäre."
Vorverfahren
12 Da die Kommission der Auffassung war, dass die Richtlinie nicht innerhalb
der vorgeschriebenen Frist vollständig in das niederländische Recht
umgesetzt worden war, leitete sie ein Vertragsverletzungsverfahren ein.
Nachdem sie das Königreich der Niederlande zur Äußerung aufgefordert hatte,
gab sie am 6. April 1998 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der
sie den Mitgliedstaat aufforderte, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen,
um der Stellungnahme binnen zwei Monaten nach ihrer Zustellung nachzukommen.
Da das Königreich der Niederlande dieser Stellungnahme keine Folge leistete,
hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.
Zur Begründetheit
13 In ihrer Klage macht die Kommission geltend, die Umsetzung der Richtlinie
in die niederländische Rechtsordnung sei hinsichtlich der Form und der
verwendeten Mittel unzureichend und vom Ergebnis her unvollständig.
14 Nach Auffassung der Kommission ist eine Umsetzung, die sich
ausschließlich auf bereits in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats
vorhandene, mit der umzusetzenden Richtlinie konforme Bestimmungen stützt,
nur in sehr engen Grenzen zulässig. Wenn die Richtlinie, wie im vorliegenden
Fall, den Zweck verfolge, die Verbraucher durch die Gewährung genau
umschriebener Ansprüche zu schützen, müsse die Umsetzung in klarer und
eindeutiger Form erfolgen. Dies sei bei den von der niederländischen
Regierung angeführten Bestimmungen des BW nicht der Fall.
15 Außerdem werde das mit den Artikeln 4 Absatz 2 und 5 der Richtlinie
angestrebte Ergebnis durch diese Bestimmungen nicht eindeutig
sichergestellt.
16 Die niederländische Regierung tritt dieser Argumentation entgegen und
macht geltend, Artikel 189 Absatz 3 EG-Vertrag lasse den Mitgliedstaaten
volle Freiheit bei der Wahl der Form und der Mittel, die zur Umsetzung einer
Richtlinie erforderlich seien. Sie ist der Ansicht, eine ausdrückliche
Umsetzung sei entbehrlich, wenn die mit der Richtlinie verfolgten Ziele im
nationalen Recht bereits erreicht seien, wobei sie sich insbesondere auf das
Urteil vom 23. Mai 1985 in der Rechtssache 29/84 (Kommission/Deutschland,
Slg. 1985, 1661, Randnr. 23) beruft.
17 Nach ständiger Rechtsprechung verlangt die Umsetzung einer Richtlinie
zwar nicht notwendig in jedem Mitgliedstaat ein Tätigwerden des
Gesetzgebers, es ist jedoch unerlässlich, dass das fragliche nationale Recht
tatsächlich die vollständige Anwendung der Richtlinie durch die nationalen
Behörden gewährleistet, dass die sich aus diesem Recht ergebende Rechtslage
hinreichend bestimmt und klar ist und dass die Begünstigten in die Lage
versetzt werden, von allen ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und diese
gegebenenfalls vor den nationalen Gerichten geltend zu machen (Urteil vom
23. März 1995 in der Rechtssache C-365/93, Kommission/Griechenland, Slg.
1995, I-499, Randnr. 9).
18 Wie der Gerichtshof hervorgehoben hat, ist diese letzte Voraussetzung
besonders wichtig, wenn die Richtlinie darauf abzielt, den Angehörigen
anderer Mitgliedstaaten Ansprüche zu verleihen (Urteil
Kommission/Griechenland, Randnr. 9). Gerade das ist hier jedoch der Fall,
denn die Richtlinie bezweckt nach ihrer sechsten Begründungserwägung u. a.,
den Bürger in seiner Rolle als Verbraucher beim Kauf von Waren und
Dienstleistungen mittels Verträgen zu schützen, für die die
Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten gelten".
19 Aus den vom Generalanwalt in den Nummern 25 und 26 seiner Schlussanträge
genannten Gründen ergibt sich, dass das Königreich der Niederlande nicht
darlegen konnte, dass seine Rechtsordnung Vorschriften enthält, die den
Artikeln 4 Absatz 2 und 5 der Richtlinie entsprechen.
20 Soweit die niederländische Regierung vorträgt, die mit der Richtlinie
verfolgten Ziele könnten durch eine systematische Auslegung der
niederländischen Vorschriften erreicht werden, genügt die Feststellung, dass
die mit der Richtlinie angestrebten Ergebnisse aus den vom Generalanwalt in
den Nummern 26 bis 31 seiner Schlussanträge dargestellten Gründen beim
gegenwärtigen Stand des niederländischen Rechts nicht erreicht werden
können.
21 Zu dem Vorbringen der niederländischen Regierung, der Grundsatz der
richtlinienkonformen Auslegung der niederländischen Regelung, der vom Hoge
Raad der Nederlanden bestätigt worden sei, erlaube es jedenfalls,
Unterschiede zwischen den Bestimmungen des niederländischen Rechts und denen
der Richtlinie zu beheben, genügt der Hinweis, dass - wie der Generalanwalt
in Nummer 36 seiner Schlussanträge ausgeführt hat - eine etwa bestehende
nationale Rechtsprechung, die innerstaatliche Rechtsvorschriften in einem
Sinn auslegt, der als den Anforderungen einer Richtlinie entsprechend
angesehen wird, nicht die Klarheit und Bestimmtheit aufweisen kann, die
notwendig sind, um dem Erfordernis der Rechtssicherheit zu genügen. Dies
gilt ganz besonders im Bereich des Verbraucherschutzes.
22 Daher ist festzustellen, dass das Königreich der Niederlande dadurch
gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie verstoßen hat, dass es nicht
die für eine vollständige Umsetzung der Artikel 4 Absatz 2 und 5 der
Richtlinie in das niederländische Recht erforderlichen Rechts- und
Verwaltungsvorschriften erlassen hat.
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