Angleichung im Fall des Normenmangels: Schadensersatzpflicht für entgangene Dienste des "Hauskindes"

OLG Köln, Urteil vom 08.03.1994 - 3 U 75/89


Fundstelle:

FamRZ 1995, 1200
Die Revision der Bekl. wurde vom BGH durch Beschl. v. 7. 3. 1995 - VI ZR 150/94 -  mit folgendem Passus nicht angenommen: "Das Rechtsinstitut der kollisionsrechtlichen Angleichung ist in der Rechtsprechung anerkannt (vgl. BGH, DtZ 1993, 278 (280)). Die Anwendung im Einzelfall hängt jeweils entscheidend von den dort gegebenen Umständen ab." 


Amtl. Leitsatz:

Ist auf einen Schadensersatzanspruch nach einem Verkehrsunfall deutsches Deliktsrecht anzuwenden und ist im Rahmen des § 845 BGB hinsichtlich der Dienstleistungspflicht an eine ausländische Rechtsordnung anzuknüpfen, die eine vergleichbare familienrechtliche Dienstverpflichtung des "Hauskindes" nicht kennt, einen entsprechenden Schaden der Eltern aber schon allein aufgrund ihrer deliktsrechtlichen Normen ausgleichen könnte, so ist die sich hieraus ergebende Divergenz (beide Rechtsordnungen würden - jeweils für sich allein betrachtet - einen Schadensersatz gewähren, der bei der international-privatrechtlich gebotenen getrennten Anknüpfung an das Deliktsstatut einerseits, das für die Dienstverpflichtung heranzuziehende Recht andererseits entfällt) unter Anwendung des Rechtsinstituts der kollisionsrechtlichen Angleichung der Schadensersatznormen zu überwinden.


Zum Sachverhalt:

Die Kl. nehmen die Bekl. aus einem Verkehrsunfall in Anspruch, bei welchem ihr am 22. 12. 1967 geborener Sohn J ums Leben gekommen ist. Der Unfall ereignete sich am 27. 7. 1987 auf einer Bundesstraße in L. und wurde verschuldet von dem in Brasilien lebenden Versicherungsnehmer der Bekl., Derk L, dessen Fahrzeug in den Niederlanden zugelassen war. Die Kl. leben in Belgien und betrieben bis zum Ende des Jahres 1991 eine teils auf belgischem, teils auf deutschem Staatsgebiet liegende Landwirtschaft. Ihr Sohn lebte bei ihnen im Haushalt und arbeitete auf dem Hof mit. Er erhielt ein monatliches Taschengeld in Höhe von ca. 200 DM. Mit der Klage begehren die Kl. u.a. eine monatliche Rente in Höhe von 1225 DM wegen ihnen entgangenen Dienstes ihres Sohnes in ihrem landwirtschaftlichen Betrieb. Sie haben behauptet, ihr Sohn habe ihnen versprochen, bis zu ihrem pensionsfähigen Alter bei ihnen im Haushalt zu bleiben und in der Landwirtschaft auf rein familienbezogener Basis mitzuarbeiten in der Erwartung, den Hof im Pensionsalter der Eltern zu übernehmen. Im Vertrauen hierauf seien Betriebsdarlehen aufgenommen worden. Das LG hat lediglich dem Antrag auf Zahlung der Beerdigungskosten teilweise stattgegeben und die Klage im übrigen abgewiesen. Die Berufung der Kl. hatte im wesentlichen Erfolg, die Anschlußberufung der Bekl. blieb großenteils erfolglos.

Aus den Gründen:

Die Klage ist zulässig, weil das angegangene Gericht aufgrund seiner für die behauptete unerlaubte Handlung örtlich und sachlich gegebenen nationalen Zuständigkeit (§§ 32 ZPO, §§ 23, 71 I GVG) gem. Art. 5 Nr. 3, 9 und 10 II EuGVÜ zugleich international zuständig ist. Die Klage ist begründet, soweit die Kl. Ansprüche geltend machen wegen ... einer Rente in Höhe von insgesamt 65047,50 DM und Schmerzensgeld in Höhe von jeweils 10000 DM. Im übrigen ist die Klage unbegründet.

Das Unfallgeschehen beurteilt sich grundsätzlich nach deutschem Recht (vgl. BGHZ 57, 267), weil es Sache der Bundesrepublik Deutschland ist zu bestimmen, wie sich Verkehrsteilnehmer auf den Straßen ihres Hoheitsgebietes zu verhalten haben. Dies gilt auch für die aus diesem Verhalten abgeleitete Haftung, und zwar sowohl für die Gefährdungshaftung als auch für den Direktanspruch des Geschädigten gegen die ausländische Kfz-Haftpflichtversicherung (vgl. BGHZ, 23, 65; 57, 267). Die Bekl. haftet den Kl. gem. §§ 7, 18 StVG, §§ 823, 844, 845, 847 BGB, § 3 PflVG, § 6 AuslPflVG auf Schadensersatz, weil der Unfall, bei dem der Sohn der Kl. getötet wurde, von ihrem Versicherungsnehmer allein verschuldet worden ist...

b) Die Bekl. ist gem. § 845 BGB verpflichtet, den Kl. eine monatliche Rente über 1225 DM für die Zeit von Juli 1987 bis Dezember 1991 zu zahlen als Ersatz für die den Kl. entgangenen Dienste ihres verstorbenen Sohns.

Zwar ergibt sich aus dem für die in Belgien lebenden Kl. gem. Art. 19 EGBGB maßgeblichen belgischen Recht keine dem § 1619 BGB entsprechende spezielle gesetzliche Regelung einer Dienstleistungspflicht von Kindern gegenüber ihren Eltern, wie sie in § 845 BGB als Anspruchsvoraussetzung genannt ist. Gleichwohl muß aber auch nach belgischem Recht, insbesondere nach Art. 1382 belg. BGB, der Schädiger den Eltern des bei einem Verkehrsunfall getöteten Kindes dafür Ersatz leisten, daß das Kind im Hause und im landwirtschaftlichen Betrieb seiner Eltern nicht mehr mitarbeiten kann und deshalb eine zu bezahlende Ersatzkraft eingestellt werden muß. Nach der belgischen Rechtslehre und Rechtsprechung ... stellt auch der Verlust künftiger Vorteile einen ersatzpflichtigen Schaden dar, der von den durch den Verlust des Rechtes auf Unterhalt mittelbar geschädigten Eltern eines getöteten Kindes geltend gemacht werden kann. Der Umstand, daß sowohl bei isolierter Betrachtung des deutschen wie des belgischen Rechts Schadensansprüche der begehrten Art grundsätzlich zu gewähren sind, erfordert eine Angleichung der anzuwendenden Normen mit dem Ergebnis, daß es auf das Merkmal der gesetzlichen Dienstleistungspflicht in § 845 BGB nicht ankommt, soweit im vorliegenden Fall das belgische Recht einen Schadensersatzanspruch begründet.

Würde man § 845 BGB, der auf eine gesetzliche Dienstleistungsverpflichtung des Getöteten gegenüber den Anspruchstellern und den Verlust dieser Berechtigung abstellt, mit dem belgischen Unterhaltsrecht verbinden, hätte dies ein mit dem Zweck der beiden nationalen Rechte nicht zu vertretendes Ergebnis. Die Anspruchsteller erhielten danach keinen Ausgleich für den Verlust der Dienstleistungen, der ihnen nach deutschem Haftungsrecht (§§ 845, 1619 BGB) wie nach belgischem Schadensersatzrecht über Art. 1382 belg. BGB zustünde. Diese sich aus der Verbindung zweier Rechtsordnungen für die Kl. ergebende Ungleichbehandlung muß in einer dem Gesetzeszweck entsprechenden Weise durch Angleichung der Schadensersatznormen ausgeglichen werden. Eine solche Angleichung ist eine im Internationalen Privatrecht gegebene Möglichkeit, Lücken in dem Ineinandergreifen der Normen verschiedener Rechtssysteme durch Erweiterung oder Austausch der zunächst nach dem Internationalen Privatrecht anzuwendenden Normen zu schließen. Dabei soll dem Anspruchsteller das gewährt werden, was er nach beiden Rechtsordnungen unabhängig voneinander erhalten würde (OLG Celle, VersR 1980, 169; Palandt/Heldrich, Einl. Art. 3 EGBGB Rdnr. 32). Aus der Möglichkeit der Angleichung und des dargelegten belgischen Schadensersatzrechts nach Art. 1382 belg. BGB ergibt sich die vorliegend gebotene rechtliche Konstruktion, im Rahmen des § 845 BGB das belgische Schadensersatzrecht an die Stelle der fehlenden belgischen Dienstleistungsverpflichtung i.S. des § 1619 BGB treten zu lassen. Gemäß dem in Belgien aus Art. 1382 belg. BGB abgeleiteten Schadensersatzrecht steht den Kl. ein Anspruch in Höhe der geltend gemachten Rente zu.

Die Vernehmung der Zeugen hat die Angaben der Kl. über die umfassende Mitarbeit ihres getöteten Sohnes im landwirtschaftlichen Betrieb und seine durch Versprechen bestätigte Absicht, abgesehen von einem geringfügigen Taschengeld, ohne Entgelt bis zum Pensionsalter der Kl. auf dem Hof weiterzuarbeiten, vollinhaltlich bestätigt. Der Senat folgt den glaubhaften, im wesentlichen übereinstimmenden Aussagen der Zeugen, zumal die von den Kl. behauptete und von den Zeugen bestätigte Vereinbarung der Kl. mit ihrem Sohn im landwirtschaftlichen Bereich der Eifel - wie auch der Sachverständige H in seinem Gutachten bestätigt hat - nicht unüblich ist. Der an den für eine Ersatzarbeitskraft erforderlichen Kosten auszurichtende Schadensersatz beläuft sich auf monatlich jedenfalls 1225 DM...

Was die Dauer der zu gewährenden Rente angeht, ist den Kl. zu folgen, daß grundsätzlich auf den vermuteten Zeitpunkt der Hofübergabe abzustellen ist.

Gleichwohl kann die Rente nur bis zum 31. 12. 1991 beansprucht werden, weil die Kl. zu diesem Zeitpunkt die Bewirtschaftung des Hofes dauerhaft aufgegeben haben. Zu diesem Zeitpunkt wäre der Anspruch der Kl. gegen ihren Sohn auf Dienstleistung mangels weiterer Bewirtschaftung des Hofes entfallen. Die Kl. können sich nicht erfolgreich darauf berufen, die Aufgabe der Hofbewirtschaftung sei auf den Unfalltod ihres Sohnes zurückzuführen. Etwaige hieraus resultierende Schadensersatzansprüche sind nicht identisch mit den geltend gemachten Rentenansprüchen für eine Ersatzarbeitskraft, die die Kl. ab der Betriebseinstellung nicht mehr benötigen.

Entgegen der Auffassung der Bekl. endet die Anspruchsberechtigung nicht bereits im Jahre 1989, weil der Kl. im Termin vom 12. 7. 1991 geäußert hat, er hätte den Hof wegen eigener Arbeitsunfähigkeit bereits 1989 an den Sohn, so er noch lebte, übergeben. Abgesehen davon, daß er diese Äußerung später zurückgenommen hat, kommt ihr ohnehin nur eine theoretische Bedeutung zu. Wie sich beide Kl. letztlich konkret entschieden hätten, ist nicht realistisch abschätzbar. Unter Berücksichtigung, daß die Kl. den Hof trotz der Arbeitseinschränkung des Kl. 1989 fortführten, liegt vielmehr die Annahme nahe, daß die Kl. entsprechend ihrer ursprünglichen Absicht und der Vereinbarung mit ihrem Sohn - jedenfalls bis Ende 1991 - Hofeigentümer geblieben wären. Es verbleibt damit bei einer von der Bekl. zu leistenden monatlichen Rente über 1225 DM für die Zeit vom 27. 7. 1987 bis zum 31. 12. 1991, was 53 Monaten und drei Tagen entspricht und einen Gesamtbetrag in Höhe von 65047,50 DM ausmacht...