Haftungsfreistellungsanspruch von Vereinsmitgliedern gegenüber dem Verein
analog §§ 670, 27 III BGB bei unentgeltlicher Tätigkeit, Einfluß des
Mitverschuldens (§ 254 BGB)
BGH, Urteil
vom 13. Dezember 2004 - II ZR 17/03
Fundstelle:
NJW 2005, 981
Amtl. Leitsätez:
a) Ein Verein hat seine Mitglieder
grundsätzlich von einer Haftung gegenüber Dritten freizustellen, wenn sich
bei der Durchführung der satzungsmäßigen Aufgaben eine damit typischerweise
verbundene Gefahr verwirklicht hat und dem Mitglied weder Vorsatz noch grobe
Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist.
b) Das gilt auch dann, wenn das Vereinsmitglied verstorben ist, sein Nachlaß
erschöpft ist und die Erben aufgrund einer Beschränkung der Haftung auf den
Nachlaß nicht weiter haften.
c) Dieser Freistellungspflicht steht der Abschluß einer freiwilligen
Haftpflichtversicherung durch den Verein nicht entgegen.
d) Die Freistellungspflicht besteht nicht unbeschränkt. Vielmehr verbleibt
je nach den Umständen des Einzelfalles ein Teil der Verantwortung bei dem
Vereinsmitglied. Dabei kommt es u.a. darauf an, in welchem Maße dem Mitglied
ein Verschulden zur Last fällt.
Tatbestand:
Die Klägerin nahm im August 1988 an einer Bergtour zum Rheinwaldhorn in
Graubünden teil. Sie hatte sich dazu bei einer Informationsveranstaltung des
Beklagten, einer Sektion des D. A. in der Rechtsform eines eingetragenen
Vereins, angemeldet. Geführt wurde die Tour von R. T., einem Mitglied der
Beklagten. T. war von dem Tourenwart des Beklagten als ehrenamtlicher
Tourenführer zugelassen worden.
Infolge einer unzureichenden Sicherung auf dem Steilstück des
Länta-gletschers kam es zum Absturz der vierköpfigen Seilschaft. Dabei
verunglückte der Tourenführer tödlich. Die Klägerin und ein weiteres
Mitglied der Seilschaft erlitten schwere Verletzungen. Die Klägerin war
sechs Monate lang bewußtlos und erlangte ihr Sprachvermögen - mit starken
Einschränkungen - erst sieben Jahre später wieder. Noch heute ist sie
aufgrund ihrer schweren und dauerhaften Behinderungen pflegebedürftig.
Die Klägerin nahm den Beklagten, dessen Tourenwart H. P. und die Erben des
Tourenführers T. auf Schadensersatz in Anspruch. Die gegen den Beklagten und
den Tourenwart gerichtete Klage wurde rechtskräftig abgewiesen. Die Erben
des Tourenführers wurden dagegen zur Zahlung von 200.000,00 DM
Schmerzensgeld, monatlich 800,00 DM Schmerzensgeldrente und 393.777,36 DM
Ersatz des materiellen Schadens verurteilt. Weiter wurde ihre Pflicht zum
Ersatz des künftigen Schadens der Klägerin festgestellt. Dabei wurde eine
Beschränkung der Haftung auf den Nachlaß vorbehalten.
Die Erben beschränkten ihre Haftung auf den Nachlaß. Der Nachlaß wurde
verwertet, was zu einer Zahlung von 50.000,00 DM an die Klägerin führte. Aus
einer von dem D. A. für seine Sektionen und die ehrenamtlichen Tourenführer
abgeschlossenen Haftpflichtversicherung mit einer Versicherungssumme in Höhe
von 2 Mio. DM je Schadensfall erhielt die Klägerin weitere 500.000,00 DM an
Vorschußzahlungen. Wegen der Schadensersatzansprüche auch des anderen
verletzten Tourteilnehmers muß insoweit noch ein Verteilungsverfahren
durchgeführt werden. Die Versicherungssumme wird nicht ausreichen, um
sämtliche Schadensersatzansprüche der Klägerin und des anderen
Tourteilnehmers zu erfüllen.
Die Erben des Tourenführers T. traten einen eventuellen Anspruch gegen den
Beklagten auf Freistellung von der Pflicht zum Ersatz des der Klägerin
entstandenen Schadens an die Klägerin ab. Gestützt auf diese Abtretung hat
die Klägerin von dem Beklagten in dem vorliegenden Verfahren Ersatz eines
Teils ihres Schadens in Höhe von 58.877,51 € verlangt.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat ihr in
Höhe von 32.355,83 € stattgegeben. Mit der von dem Berufungsgericht
zugelassenen Revision erstrebt der Beklagte die Wiederherstellung des
landgerichtlichen Urteils. Die Klägerin hat sich der Revision angeschlossen
mit dem Ziel einer Verurteilung des Beklagten in Höhe weiterer 13.866,79 €.
Entscheidungsgründe:
Beide Rechtsmittel sind unbegründet.
I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Der Tourenführer T. habe gegen den
Beklagten in entsprechender Anwendung der §§ 670, 27 Abs. 3 BGB einen
Freistellungsanspruch gehabt, da er im Rahmen des Satzungszwecks des
Beklagten tätig geworden sei und die Schadensersatzpflicht gegenüber der
Klägerin auf den besonderen Gefahren derartiger Hochgebirgstou-ren beruhe.
Daß T. noch an der Absturzstelle verstorben sei und seine Erben den
verwertbaren Nachlaß herausgegeben hätten, ändere daran nichts. Ob der
Schadensersatzanspruch der Klägerin den Wert des Nachlasses und die
Versicherungssumme übersteige oder dahinter zurückbleibe, hänge von
Zufälligkeiten ab und könne deshalb keinen Einfluß auf die
Freistellungspflicht des Beklagten haben. Ebenso wenig bestehe ein
Wertungswiderspruch zu der Tatsache, daß die gegen den Beklagten gerichtete
Schadensersatzklage ab gewiesen worden sei. Denn die Freistellungspflicht
des Beklagten beruhe auf einem Geschäftsbesorgungsverhältnis, das zwischen
ihm und seinem Mitglied T. bestanden habe und für den Vorprozeß ohne
Bedeutung gewesen sei. Ein den Freistellungsanspruch ausschließendes
vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten von T. habe ebenfalls nicht
vorgelegen. Entsprechend § 254 BGB habe aber eine Abwägung zwischen dem
Verschulden des Tourenführers und der dem Beklagten zurechenbaren
"Betriebsgefahr" stattzufinden. Diese führe zu einer Haftungsquote des
Beklagten i.H.v. 70 %. Die Haftpflichtversicherung stehe dem
Freistellungsanspruch nicht entgegen. Ausnahmen kämen allenfalls bei einer
Pflichtversicherung in Betracht. In welchem Umfang der
Haftpflichtversicherer für den Schaden der Klägerin einzustehen habe, müsse
der Beklagte klären. Der von der Klägerin geltend gemachte Schaden sei
i.H.v. 46.427,29 € schlüssig dargelegt. Damit sei die Klage i.H.v. 32.355,83
€, nämlich 70 % des ersatzfähigen Schadens, begründet.
II. Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Überprüfung stand.
1. Ein Verein hat seine Mitglieder grundsätzlich von der Haftung ganz
oder teilweise freizustellen, wenn sich bei der Durchführung der
satzungsmäßigen Aufgaben eine damit typischerweise verbundene Gefahr
verwirklicht hat und dem Mitglied weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit
vorzuwerfen ist (BGHZ 89, 153, 156 ff.; ebenso für die Geschäftsführung
ohne Auftrag BGHZ 38, 270, 277). Zur Begründung wird teils auf eine
entsprechende Anwendung des § 670 BGB abgestellt, teils auf den im
Arbeitsrecht entwickelten Grundsatz der Risikozurechnung bei Tätigkeit in
fremdem Interesse (Soergel/Beuthien, BGB 12. Aufl. § 670 Rdn. 16 ff.;
Canaris, RdA 1966, 41 ff.; Genius, AcP 173 [1973], 481, 512 ff.; zur
Rechtslage im Arbeitsrecht BAG NJW 1995, 210; BGH, Urt. v. 11. März 1996 -
II ZR 230/94, ZIP 1996, 763). Die Freistellungspflicht beruht letztlich
auf einer Billigkeitserwägung (BAG ZIP 1994, 1712, 1715). Setzt der
Verein seine Mitglieder zur Durchführung schadensträchtiger Aufgaben ein,
wäre es unangemessen, wenn er sich an einer daraus erwachsenden Haftung
nicht beteiligen würde. Das gilt jedenfalls dann, wenn das betreffende
Vereinsmitglied - wie hier der Tourenführer T. - unentgeltlich tätig
geworden ist (BGHZ 89, 153, 158).
Die Revision stellt das nicht in Frage, meint aber, die Freistellungspflicht
müsse dann entfallen, wenn - wie im vorliegenden Fall - das Vereinsmitglied
verstorben sei, der Nachlaß erschöpft sei und die Erben aufgrund einer
Beschränkung der Haftung auf den Nachlaß nicht weitergehend haften würden.
Dem vermag sich der Senat nicht anzuschließen.
Eine derartige Ausnahme würde dem Grundsatz widersprechen, daß es für die
Freistellungspflicht nicht darauf ankommt, ob der freizustellende Schuldner
vermögenslos ist und deshalb ohne die Freistellung keine Zahlung an den
Gläubiger erfolgt wäre (BGHZ 59, 148 ff.; 66, 1, 4; anders noch BGHZ 41,
203, 207). Die Belastung mit einer Zahlungspflicht ist unabhängig von den
Vermögensverhältnissen ein Nachteil, den der Verpflichtete bei Vorliegen der
übrigen Voraussetzungen des Freistellungsanspruchs nicht hinnehmen muß. Das
gilt bei einer natürlichen Person schon deshalb, weil bei ihr ein
zukünftiger Vermögenserwerb nie ganz ausgeschlossen werden kann. Es gilt
nach der Rechtsprechung des Senats aber auch für einen Verein, der wegen
Vermögenslosig-keit im Vereinsregister gelöscht worden ist (BGHZ 59, 148
ff.). Für eine natürliche Person, die verstorben ist und deren Erben nach
der Verwertung des Nachlasses nicht mehr weiter haften, kann nichts anderes
gelten. In allen Fällen kann auch dem Vermögenslosen - selbst der
vermögenslosen Erbengemeinschaft - nach den Maßstäben des redlichen
Geschäftsverkehrs nicht das be-
rechtigte Interesse abgesprochen werden, keine offenen Schulden zu
hinterlassen.
Nur so werden auch zufällige und deshalb unbillige Ergebnisse vermieden. Das
wird deutlich, wenn man den Fall annimmt, daß der Wert des Nachlasses
geringfügig höher ist als der auf den Erblasser entfallende Anteil an der
Haftung (vgl. dazu BGHZ 66, 1, 4). Für die Annahme eines von den konkreten
Vermögensverhältnissen unabhängigen Freistellungsanspruchs spricht auch noch
eine weitere Überlegung: Der Freistellungsanspruch entsteht mit dem
schädigenden Ereignis. Der Geschädigte kann den Anspruch pfänden und sich
überweisen lassen. Damit wird der Freistellungsanspruch zu einem
Zahlungsanspruch (BGHZ 12, 136, 141 f.), den der Geschädigte nach den
vollstrek-kungsrechtlichen Regeln verwerten kann. Stirbt nun der
Freistellungsgläubiger während der Zwangsvollstreckung und hinterläßt keinen
oder keinen ausreichenden Nachlaß, so würde die Vollstreckung unzulässig
werden und ein etwa schon erzielter Vollstreckungserlös zurückgezahlt werden
müssen, wenn der Freistellungsanspruch von dem Wert des Nachlasses abhinge.
Das aber wäre für den vollstreckenden Gläubiger unzumutbar. Dabei kann es
auch nicht darauf ankommen, ob die Freistellungspflicht - wie in dem Fall
BGHZ 59, 148 - auf einer pflichtwidrigen Handlung beruht oder nur - wie hier
- auf § 670 BGB bzw. einer allgemeinen Risikozurechnung.
2. Im Ergebnis ohne Erfolg wendet sich die Revision auch gegen die Annahme
des Berufungsgerichts, dem Tourenführer T. sei keine grobe Fahrlässigkeit
vorzuwerfen, so daß eine Ausnahme von der grundsätzlichen
Freistellungspflicht des Beklagten nicht angezeigt sei.
Die Entscheidung, ob ein vorwerfbares Verhalten auf grober Fahrlässigkeit
beruht, ist dem Tatrichter vorbehalten. Das Revisionsgericht prüft nur nach,
ob der Begriff der groben Fahrlässigkeit verkannt worden ist und ob die der
Wertung zugrundeliegenden Feststellungen fehlerfrei getroffen worden sind (BGHZ
89, 153, 160). Danach ist das Ergebnis des Berufungsgerichts nicht zu
beanstanden.
Grob fahrlässig ist nach der Rechtsprechung ein Handeln, bei dem die
erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich grobem
Maße verletzt worden ist und bei dem dasjenige unbeachtet geblieben ist, was
im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen, wobei auch subjektive, in
der Person des Handelnden begründete Umstände zu berücksichtigen sind (BGHZ
10, 14, 16; 89, 153, 161). Von dieser Definition ist das Berufungsgericht
ausgegangen. Dabei hat es angenommen, dem Tourenführer T. könne - auch - in
subjektiver Hinsicht keine grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, weil die
Fehleinschätzung des Gletscherhangs und der Fähigkeiten der
Seilschaftsteilnehmer nachvollziehbar gewesen sei angesichts des Umstandes,
daß T. nach dem Vortrag des Beklagten erst eine Bergtour geführt gehabt
habe. Die Revision meint, diese Feststellung sei fehlerhaft, aus einer
schriftlichen Aufstellung in der Akte des Vorprozesses, die Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen sei, ergebe sich, daß T. schon an zahlreichen
Bergtouren, auch als Führer, teilgenommen gehabt habe.
Das ist nur zum Teil richtig und kann das Ergebnis des Berufungsgerichts
nicht in Frage stellen. Aus der Aufstellung in der Akte des Vorprozesses
ergibt sich zwar eine große Zahl von Bergtouren. An hier allein
interessierenden Gletschertouren weist die Aufstellung aber nur insgesamt
vier von T. geführte Touren auf. Der Unterschied von vier Touren gegenüber
der von dem Berufungsgericht nur berücksichtigten einen Tour kann aber
vernachlässigt werden. Nach den Ausführungen des Sachverständigen M. in der
mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht geht es um die Frage, ob T.
über einen Erfahrungsschatz verfügte, der dem eines - professionellen -
Schweizer Bergführers vergleichbar gewesen war. Dafür reichen aber auch vier
Touren ganz offensichtlich nicht aus.
3. Zutreffend hat das Berufungsgericht weiter angenommen, daß der
Haftpflichtversicherungsschutz dem Freistellungsanspruch nicht
entgegenstehe.
Allerdings hat der Bundesgerichtshof angenommen, daß sich eine
Haftungsfreistellung dann erübrigt, wenn das Risiko schon durch eine
Pflichtversicherung abgedeckt ist (BGHZ 116, 200, 207 f.; Urt. v. 8.
Dezember 1971 - IV ZR 102/70, NJW 1972, 440, 441). Daraus läßt sich aber
schon deshalb nichts für den vorliegenden Fall gewinnen, weil die von dem D.
A. abgeschlossene Versicherung auf nur 2 Mio. DM begrenzt ist und damit die
aufgetretenen Schäden nicht vollständig abdeckt. Im übrigen gilt der
Ausschluß des Freistellungsanspruchs wegen bestehenden Versicherungsschutzes
nicht bei einer freiwillig abgeschlossenen Haftpflichtversicherung (BGHZ 66,
1, 3).
Aufgrund einer derartigen Versicherung wird der Freistellungsschuldner nur
frei, wenn und soweit der Versicherer die Ansprüche des Geschädigten erfüllt.
Das ist hier - wie das Berufungsgericht ebenfalls zutreffend angenommen hat
- jedenfalls im Umfang des von der Klägerin in dem vorliegenden Verfahren
geltend gemachten Schadens noch nicht geschehen.
4. Schließlich hat das Berufungsgericht entgegen der Auffassung der
Anschlußrevision ohne Rechtsfehler die Freistellungspflicht des Beklagten
auf 70 % des ersatzfähigen Schadens begrenzt.
Die Freistellungspflicht des Vereins gegenüber seinem Mitglied besteht nicht
unbeschränkt. Vielmehr verbleibt je nach den Umständen des Einzelfalles ein
Teil der Verantwortung bei dem Mitglied. Dabei kommt es u.a. darauf an, in
welchem Maße dem Mitglied ein Verschulden zur Last fällt (BGHZ 16, 111, 117
ff.; 66, 1, 2 f.). Das folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 254
BGB, entspricht im übrigen aber auch dem der Freistellung zugrundeliegenden
Billigkeitsgedanken.
Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung beachtet.
Die Abwägung selbst ist Tatfrage und daher von dem Revisionsgericht nur
eingeschränkt auf Verfahrensfehler zu überprüfen. Solche sind dem
Berufungsgericht nicht unterlaufen. Entgegen der Ansicht der
Anschlußrevision hat das Berufungsgericht auch den Umstand berücksichtigt,
daß die Tourenführung mit einer besonderen Gefahr schwerer Personenschäden
verbunden ist.
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