Kein
"Reuerechtsausschluß" der Täuschungsanfechtung (§ 123 BGB); Voraussetzungen
unzulässiger (treuwidriger) Ausübung eines Anfechtungsrechts
BGH, Urteil vom 28. Oktober
2009 - IV ZR 140/08
Fundstelle:
noch nicht bekannt
NJW 2010, 289
Amtl. Leitsatz:
1. Der anlässlich der Beantwortung
von Gesundheitsfragen bei Anbahnung des Versicherungsvertrages arglistig
getäuschte Versicherer ist bei einer Anfechtung nach § 123 BGB, § 22 VVG
a.F. nicht darauf beschränkt, den abgeschlossenen Versicherungsvertrag
insoweit bestehen zu lassen, als er ihn auch ohne die Täuschung
abgeschlossen hätte. Vielmehr kann er sich insgesamt vom Vertrag lösen, ohne
dass es etwa auf eine Kausalität i.S. des § 21 VVG a.F. ankäme (Fortführung
von BGHZ 163, 148).
2. Erlangt der Versicherer im Vertrauen auf die Wirksamkeit einer zu weit
gefassten und deshalb unwirksamen Schweigepflichtsentbindung (vgl. dazu
BVerfG VersR 2006, 1669) Informationen über den Gesundheitszustand des
Versicherten, die eine arglistige Täuschung durch die unrichtige
Beantwortung von Gesundheitsfragen bei der Anbahnung des
Versicherungsvertrages aufdecken, führt dies nicht in jedem Fall zur
Unverwertbarkeit dieser Erkenntnisse. Vielmehr kann die insoweit gebotene
Güterabwägung ergeben, dass der Versicherer weder unter dem Gesichtspunkt
der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) an der Anfechtung, noch wegen
eines prozessualen Verwertungsverbots an der Einführung der gewonnenen
Erkenntnisse in einen Rechtsstreit gehindert ist.
Zentrale Probleme:
Die Entscheidung ist trotz des speziellen
versicherungsrechtlichen Kontextes von allgemeinem Interesse: Es geht um
eine arglistige Täuschung beim Abschluß eines Versicherungsvertrages. § 22
VVG (hier noch a.F., die n.F. ist aber inhaltlich gleichbedeutend) behält
die Anfechtung nach § 123 BGB ausdrücklich vor. Nach § 123 BGB berechtigt
die arglistige Täuschung zur Anfechtung, wenn sie kausal für die Abgabe der
Willenserklärung war. Hierfür ist ausreichend, daß die Erklärung ohne die
Täuschung nicht mit diesem Inhalt abgegeben worden wäre. Dann kann der
Getäuschte die Willenserklärung durch Anfechtung rückwirkend vernichten (§
142 I BGB). Es tritt also an die Stelle dieser Erklärung nicht etwa
diejenige, die der Getäuschte ohne die Täuschung abgegeben hätte. Anders als
im Falle der Irrtumsanfechtung nach § 119 I BGB, wo unter dem Gesichtspunkt
des sog. "Reuerechtsausschlusses" diskutiert wird, ob sich der Anfechtende
nach § 242 BGB an seinem wirklichen Willen festhalten lassen muß, kommt dies
bei § 123 BGB grundsätzlich nicht in Frage. Nur in Extremfällen kann die
Anfechtung nach § 123 BGB gem. § 242 BGB ausgeschlossen sein, nämlich wenn
zZt. der Anfechtung die Rechtslage des Getäuschten nicht mehr beeinträchtigt
wird (zB weil über das Vorliegen eines Umstandes getäuscht wurde, der später
ohnehin weggefallen ist), s. dazu
BGH NJW 2000, 2894. Das Urteil
enthält in diesem Zusammenhang auch grundsätzliche Ausführungen zur Frage
der treuwidrigen Rechtsausübung (s. dazu bei Tz. 21).
©sl 2009
Tatbestand:
1 Der Kläger begehrt Leistungen aus einer beim Beklagten,
einem Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, abgeschlossenen selbständigen
Berufsunfähigkeitsversicherung nebst Erstattung gezahlter Prämien und
vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten sowie die Feststellung des
Fortbestands dieses Versicherungsvertrages.
2 Der Kläger beantragte am 16. Juli 2004 über eine Versicherungsmaklerin
beim Beklagten den Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung. Im
Antragsformular, das der für die Maklerin auftretende Zeuge S. ausfüllte,
wurden insbesondere die Fragen nach Krankheiten, Unfallfolgen oder
körperlichen Schäden des Rückens oder Nackens innerhalb der letzten fünf
Jahre verneint. Tatsächlich war der Kläger im Dezember 1999, im Juli 2001
und im Mai 2004 jeweils wegen Rückenschmerzen, die zumindest mit drei
Massageterminen therapiert wurden, bei seinem Hausarzt in Behandlung
gewesen.
3 Im Februar 2005 beantragte der Kläger unter Beifügung einer generellen
Schweigepflichtentbindungserklärung, deren genauer Inhalt nicht feststeht,
beim Beklagten Leistungen wegen Berufsunfähigkeit, da er wegen einer
psychischen Erkrankung seine bisherige Tätigkeit als angestellter
Musiklehrer dauerhaft nicht mehr ausüben könne. Unter Hinweis auf unrichtige
Angaben zu den Gesundheitsfragen bei Stellung des Versicherungsantrages trat
der Beklagte im Oktober 2005 vom Vertrag zurück und focht seine
Annahmeerklärung wegen arglistiger Täuschung an.
4 Der Kläger behauptet, nach seinem Wissen hätten den genannten Behandlungen
beim Hausarzt lediglich harmlose Muskelverspannungen zu Grunde gelegen.
Gleichwohl habe er diese dem Zeugen S. mitgeteilt. Dieser habe jedoch
geäußert, wegen der Folgenlosigkeit der Beschwerden müsse hierzu nichts
angegeben werden.
5 Der Kläger ist der Ansicht, da er keine gefahrerheblichen und daher
mitteilungsbedürftigen Umstände verschwiegen habe, sei der Beklagte weder
zum Rücktritt noch zur Anfechtung berechtigt. Selbst wenn jedoch ein
Anfechtungsgrund vorgelegen hätte, wäre der Beklagte nach Treu und Glauben
nur zu einer eingeschränkten Anfechtung berechtigt, die den
Versicherungsvertrag nicht vollständig beseitigt, sondern lediglich zu einem
Ausschluss von Wirbelsäulenerkrankungen geführt hätte. Außerdem habe der
Beklagte die vom Hausarzt erlangten Erkenntnisse ohnehin nicht verwerten
dürfen, denn die erteilte Schweigepflichtentbindung sei unwirksam, da zu
unbestimmt und zu weitgehend.
6 Der Beklagte behauptet, der Hausarzt habe dem Kläger bei den Behandlungen
seiner Beschwerden jeweils zutreffende Diagnosen (insbesondere HWS/BWS- und
LWS-Syndrom) in einer für einen Laien verständlichen Form mitgeteilt. Wegen
der Beschwerden sei der Kläger zudem medikamentös und physiotherapeutisch
behandelt worden. Die pflichtgemäße Angabe der Rückenbeschwerden bei
Antragstellung hätte dazu geführt, dass der Beklagte den
Versicherungsvertrag nur unter Ausschluss von Wirbelsäulenerkrankungen
abgeschlossen hätte.
7 Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Berufungsgericht die
Berufung zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Kläger
sein ursprüngliches Begehren weiter.
Entscheidungsgründe:
8 Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
9 I. Das Berufungsgericht hat den Versicherungsvertrag aufgrund der
Anfechtung der Vertragsannahme wegen arglistiger Täuschung (§ 123 Abs. 1
BGB, § 22 VVG a.F.) als insgesamt nichtig (§ 142 Abs. 1 BGB) angesehen,
weshalb der Beklagte leistungsfrei sei und ihm gleichwohl die gezahlten
Prämien gebührten (§§ 40 Abs. 1, 9 VVG a.F.).
10 Die Frage nach Krankheiten oder körperlichen Schäden des Rückens habe der
Kläger unzutreffend verneint. Aufgrund der Bekundungen des Hausarztes stehe
fest, dass bei allen drei Behandlungsterminen Wirbelsäulenerkrankungen
diagnostiziert und medikamentös sowie physiotherapeutisch behandelt worden
seien. In allen Fällen sei eine Krankschreibung erfolgt. Der Kläger habe
seine jeweiligen Beschwerden auch als gravierende, regelwidrige Zustände
empfunden. Bei pflichtgemäßen Angaben des Klägers hätte der Beklagte den
Versicherungsvertrag allenfalls unter Ausschluss von
Wirbelsäulenerkrankungen abgeschlossen.
11 Der Kläger habe arglistig gehandelt, da ihm die nicht angegebenen
Behandlungen bekannt gewesen seien und er es zumindest für möglich gehalten
und damit gerechnet habe, dass der Beklagte die nicht offenbarten Umstände
in seine Risikoprüfung einbeziehen werde und dies zu einer Einschränkung des
Versicherungsschutzes hätte führen können. Durch die Aussage des Hausarztes
stehe fest, dass der Kläger von diesem über die Ursachen der
Rückenbeschwerden - insbesondere auch Wirbelblockierungen mit
Nervenirritation - jeweils unmissverständlich informiert worden sei. Die
behaupteten Angaben des Klägers gegenüber dem Zeugen S. zu Arztbesuchen
wegen Muskelverspannungen seien daher schon unzureichend, da irreführende
Verkürzungen. Zudem sei aber durch die Beweisaufnahme widerlegt, dass der
Kläger den Zeugen S. wie behauptet informiert habe.
12 Ein Verwertungsverbot bezüglich der durch die Nachfrage des Beklagten
beim Hausarzt gewonnen Informationen bestehe nicht. Zwar sei die im April
2005 erteilte Schweigepflichtentbindungserklärung als unwirksam anzusehen.
Ihren genauen Inhalt hätten die Parteien nicht vorgetragen. Es sei aber
davon auszugehen, dass die Schweigepflichtentbindung den Vorgaben, die das
Bundesverfassungsgericht inzwischen im Beschluss vom 23. Oktober 2006 (VersR
2006, 1669) aufgestellt habe, nicht entsprochen habe, denn vor der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts seien allgemein umfassende
Ermächtigungserklärungen verwendet worden. Dies führe jedoch nicht zu einem
Verwertungsverbot. Entschließe sich ein Arzt nach Prüfung, Informationen
preiszugeben, seien diese grundsätzlich verwertbar. Das Berufungsgericht
habe auch nicht etwa verfahrenswidrig an der Herbeiführung der Aussage
mitgewirkt. Zudem werde kein heimlicher Grundrechtseingriff perpetuiert,
sondern der Beklagte habe sich offen Informationen verschafft, an denen er
ein berechtigtes Interesse gehabt habe. Die Geltendmachung einer
Berufsunfähigkeit wegen einer psychischen Erkrankung habe den Beklagten
berechtigt, die Krankheitsgeschichte des Klägers umfassend aufzuklären,
weshalb der Kläger entsprechende Entbindungserklärungen hätte abgeben
müssen. Es komme daher nicht darauf an, ob der Beklagte auch zu
Nachforschungen berechtigt gewesen wäre, die speziell auf die Aufdeckung
einer arglistigen Täuschung gezielt hätten. Eine Gesamtabwägung ergebe, dass
das Verwertungsinteresse des Beklagten das Geheimhaltungsinteresse des
Klägers überwiege.
13 II. Das hält rechtlicher Nachprüfung stand.
14 1. Die Feststellungen des Berufungsgerichts zum Vorliegen einer
arglistigen Täuschung durch unrichtige Angaben im Versicherungsantrag werden
von der Revision als solche nicht mehr angegriffen. Sie wendet
stattdessen ein, der Beklagte sei in seinem Anfechtungsrecht darauf
beschränkt, den Versicherungsvertrag nicht insgesamt zu vernichten, sondern
auf einen Vertrag unter Ausschluss von Erkrankungen der Wirbelsäule zu
reduzieren. Denn einen solchen Vertrag hätte der Beklagte auch in Kenntnis
der verschwiegenen Umstände abgeschlossen.
15 Damit kann die Revision keinen Erfolg haben.
16 a) Der zur Anfechtung Berechtigte hat nach § 142 Abs. 1 BGB die
Möglichkeit, entweder am betroffenen Rechtsgeschäft festzuhalten oder dieses
insgesamt und mit Rückwirkung (ex tunc) unwirksam zu machen. Der Senat
hat die Geltung der umfassenden Nichtigkeitsfolge der Anfechtung für das
Versicherungsrecht im Senatsurteil vom 1. Juni 2005 (BGHZ 163, 148)
ausdrücklich bestätigt und dabei insbesondere den Umstand berücksichtigt,
dass dem Versicherer trotz der anfänglichen Unwirksamkeit gemäß § 40 Abs. 1
VVG a.F. die vereinbarten Prämien verbleiben. Weder muss sich der arglistig
Getäuschte danach auf eine zeitliche Beschränkung der Nichtigkeitsfolge
verweisen lassen, noch muss er sich grundsätzlich eine inhaltliche
Beschränkung entgegenhalten lassen. Das Recht zur Arglistanfechtung
eröffnet die Möglichkeit, sich von einer durch Täuschung beeinflussten
Willenserklärung vollständig zu lösen. Der Erklärende wird auch nicht an
einer hypothetischen Erklärung festgehalten, die er bei Kenntnis der wahren
Sachlage abgegeben hätte. Für die von der Revision eingeforderte
Kausalitätserwägung ist insoweit kein Raum.
17 Zwar mag es Fallgestaltungen geben, in denen der Anfechtungsberechtigte
auch einen Mittelweg beschreiten und lediglich einzelne, inhaltlich
abgrenzbare Teile des Rechtsgeschäfts vernichten kann (vgl. BAG NJW 1970,
1941). Mit einer solchen Möglichkeit des Anfechtungsberechtigten
korrespondiert jedoch grundsätzlich keine Pflicht, hiervon auch Gebrauch zu
machen.
18 b) Der Streitfall gibt keinen Anlass, von diesem Grundsatz abzuweichen.
Die von der Revision geforderte Beschränkung der Anfechtungswirkung würde
das vom arglistig täuschenden Antragsteller zu tragende Aufdeckungsrisiko
sachwidrig auf den Versicherer verlagern. Dieser bliebe im Falle der
Nichtaufdeckung der Falschangaben durch einen Vertrag verpflichtet, den er
ohne die Täuschung nicht mit diesem Inhalt abgeschlossen hätte. Demgegenüber
bliebe dem Täuschenden selbst im Falle der Aufdeckung seines arglistigen
Verhaltens immer noch ein Vertrag erhalten, zu dessen Abschluss der
Versicherer nur bei ordnungsgemäßen Angaben bereit gewesen wäre. Die
Versuchung eines Antragstellers, Vorerkrankungen zu verschweigen, würde
hierdurch in nicht hinnehmbarer Weise gesteigert (vgl. dazu BGHZ 163, 148,
153).
19 2. Auch soweit die Revision geltend macht, mangels wirksamer
Schweigepflichtentbindungserklärung (vgl. BVerfG aaO) sei der Beklagte an
der Verwertung der durch die Befragung des Hausarztes erlangten
Informationen gehindert gewesen, kann sie damit nicht durchdringen. Zwar ist
- nachdem das Berufungsgericht zum Inhalt der vom Kläger abgegebenen
Erklärung keine näheren Feststellungen getroffen hat - davon auszugehen,
dass eine wirksame Entbindung des Hausarztes von der Schweigepflicht und
eine wirksame Ermächtigung des Beklagten, bei diesem selbständig
Informationen über den Gesundheitszustand des Klägers einzuholen, nicht
vorgelegen haben. Dies führt jedoch weder dazu, dass der Beklagte
materiell-rechtlich daran gehindert wäre, seine Arglistanfechtung auf die
erlangten Informationen zu stützen, noch dazu, dass die Angaben, die der
Hausarzt vor dem Berufungsgericht als Zeuge gemacht hat, prozessual nicht
verwertbar wären.
20 a) Dabei kann dahinstehen, ob - wofür einiges spricht - die Erhebung der
Gesundheitsdaten durch den Beklagten wegen des Fehlens einer wirksamen
Einwilligung des Klägers als rechtswidrig anzusehen ist. Denn selbst in
diesem Falle wäre der Beklagte hier nicht nach den Grundsätzen von Treu und
Glauben (§ 242 BGB) daran gehindert, sich im Rahmen der Anfechtung wegen
arglistiger Täuschung auf die mittels der zu weit gefassten
Schweigepflichtentbindung gewonnenen Erkenntnisse über verschwiegene
Vorerkrankungen zu berufen. Die Anfechtung wäre auch dann keine unzulässige
Rechtsausübung.
21 Nicht
jedes rechts- oder pflichtwidrige Verhalten führt stets oder auch nur
regelmäßig zur Unzulässigkeit der Ausübung der hierdurch erlangten
Rechtsstellung. Treuwidriges Verhalten eines Vertragspartners kann zwar dazu
führen, dass ihm die Ausübung eines ihm zustehenden Rechts zu versagen ist,
wenn er sich dieses Recht gerade durch das treuwidrige Verhalten verschafft
hat (vgl. BGHZ 57, 108, 111). Entsprechendes gilt, wenn das treuwidrige
Verhalten darauf gerichtet war, die tatsächlichen Voraussetzungen der
Rechtsausübung zu schaffen, etwa die zur Ausübung eines Rücktritts- oder
Anfechtungsrechts erforderliche Tatsachenkenntnis zu erlangen. Lässt sich -
wie hier - ein solches zielgerichtet treuwidriges Verhalten nicht
feststellen, so muss durch eine umfassende Abwägung der maßgeblichen
Umstände des Einzelfalls entschieden werden, ob und inwieweit einem
Beteiligten die Ausübung einer Rechtsposition nach Treu und Glauben verwehrt
sein soll (vgl. BGHZ 68, 299, 304; 55, 274, 279 f.; Looschelders/Olzen in
Staudinger, BGB [2005] § 242 Rdn. 220, 251). Dies muss umso mehr gelten,
wenn beiden Seiten ein Rechtsverstoß zur Last fällt.
22 Die danach im Streitfall gebotene Abwägung der Parteiinteressen und
sonstigen Fallumstände ergibt, dass das Interesse des Klägers, den Beklagten
an der Verwendung der rechtswidrig erhobenen Gesundheitsdaten zu seinem
Nachteil zu hindern, hinter dem Interesse des Beklagten zurückstehen muss,
sich von dem nur mittels arglistiger Täuschung zustande gekommen Vertrag zu
lösen.
23 aa) Das Interesse des Klägers an der Geheimhaltung seiner
Gesundheitsdaten und Kontrolle des Umgangs damit ist ein Schutzgut von hohem
Rang, das verfassungsrechtlich durch das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung (Art. 1, 2 GG; vgl. z.B. BVerfGE 84, 192, 194 f. m.w.N.)
gewährleistet und auf der Ebene des einfachen Rechts insbesondere durch §§ 3
Abs. 9, 4 Abs. 1, 28 Abs. 6 BDSG sowie durch den neu geschaffenen - im
Streitfall jedoch noch nicht anwendbaren - § 213 VVG geschützt ist. Dies
zeigt sich insbesondere daran, dass eine Verwendung von Gesundheitsdaten
nach den genannten Vorschriften grundsätzlich nur mit Einwilligung des
Betroffenen und im Übrigen nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig
ist. Demzufolge ist auch das Interesse des Klägers, Informationen über ihn
betreffende Erkrankungen - aktuelle wie vergangene - geheim zu halten und
den Umgang damit zu kontrollieren, grundsätzlich hoch einzustufen.
24 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, insbesondere der Schutz
von Gesundheitsdaten, gilt auch im Rahmen von Versicherungsverträgen. Der
Schutzumfang wird im Verhältnis der Vertragspartner einer
Berufsunfähigkeitsversicherung jedoch dadurch modifiziert, dass es dem
Versicherungsnehmer von Gesetzes wegen obliegt, dem Versicherer relevante
Informationen über seinen Gesundheitszustand sowohl vor Vertragsschluss (§
16 VVG a.F.) als auch im Leistungsfall (§ 34 VVG a.F.) zugänglich zu machen,
soweit dies zur Einschätzung des Risikos bzw. zur Prüfung der
Leistungspflicht des Versicherers erforderlich ist. Das trägt dem legitimen
Interesse des Versicherers an der Kenntnis und der Verwendung dieser
Informationen Rechnung. Verstößt der Versicherungsnehmer gegen die
Informationsobliegenheiten, kann der Versicherer daran vertragsrechtliche
Sanktionen bis hin zur Leistungsfreiheit knüpfen (§ 6 Abs. 3 Satz 1 VVG
a.F.) bzw. sich sogar vom Vertrag insgesamt lösen (§§ 17, 22 VVG a.F.). Das
Recht missbilligt es zwar, wenn der Versicherer sich die Gesundheitsdaten
ohne wirksame Einwilligung des Versicherungsnehmers selbst verschafft und
schützt hierdurch dessen Dispositionsbefugnis über die ihn betreffenden
Gesundheitsdaten. Die Kenntnis des Versicherers von diesen Daten und deren
Verwendung werden als solche dagegen nicht beanstandet, sondern als für die
ordnungsgemäße Vertragsdurchführung letztlich unverzichtbar anerkannt. Ein
gesetzlich anerkanntes Interesse des Versicherungsnehmers, seine relevanten
Gesundheitsdaten geheim zu halten und trotzdem in den Genuss von
Versicherungsleistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung zu kommen,
besteht demgegenüber nicht.
25 Im Streitfall hat der Kläger bei Vertragschluss Informationen zu
Vorerkrankungen wenigstens bedingt vorsätzlich verschwiegen, um sich auf
diese Weise einen Versicherungsschutz zu erschleichen, der ohne die
Täuschung in dieser Form für ihn nicht zu erlangen gewesen wäre. Mit diesem
Verhalten hat er sich seinerseits bewusst gegen die Rechtsordnung gestellt.
Sein Bestreben, den Beklagten an der Verwendung eben dieser Informationen
nur deshalb zu hindern, weil der Beklagte seine Kenntnisse gestützt auf eine
zu weit gefasste Schweigepflichtentbindung erworben hat, verdient daher im
konkreten Fall - trotz des abstrakt betrachtet hohen Schutzguts - nur in
begrenztem Maße Schutz.
26 bb) Auf der anderen Seite der Abwägung steht das legitime Interesse des
Versicherers an der Aufdeckung von Falschangaben und der Verhinderung der
ungerechtfertigten Inanspruchnahme von - insbesondere wiederkehrenden -
Versicherungsleistungen (vgl. BGHZ 163, 148, 153 f.; BVerfG VersR 2006,
1669, 1672).
27 Für die Berufsunfähigkeitversicherung bedeutet dies konkret, dass der
Versicherer in der Lage sein muss, die ihm nach §§ 16, 34 VVG a.F.
zustehenden Informationen zum Gesundheitszustand des Versicherten einzuholen
und zu überprüfen. Dies betrifft sowohl den Gesundheitszustand im Zeitpunkt
der Geltendmachung von Leistungen, als auch den Gesundheitszustand bei
Anbahnung des Versicherungsvertrages. Deshalb hatte auch im Streitfall der
Beklagte ein schützenswertes Interesse, im Rahmen der Prüfung des - noch im
Lauf des ersten Versicherungsjahres gestellten Leistungsantrags - die
Krankheitsvorgeschichte des Klägers umfassend aufzuklären und hierzu auch
die Angaben des Klägers durch Nachfrage bei Dritten zu überprüfen.
28 Wenngleich hier wegen einer möglicherweise zu weit gefassten
Schweigepflichtentbindungserklärung und mithin des Fehlens einer wirksamen
Einwilligung durch den Versicherungsnehmer objektiv von der Rechtswidrigkeit
der Erhebung der Daten beim Hausarzt ausgegangen werden muss, so fällt
dennoch zugunsten des Beklagten ins Gewicht, dass er dabei entsprechend
einer langjährigen, bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
23. Oktober 2006 (VersR 2006, 1669) auch vom Senat gebilligten Praxis
verfahren ist. Er hat sich die Gesundheitsdaten des Klägers mithin nicht
etwa heimlich und im Bewusstsein der rechtlichen Unzulässigkeit seiner
Vorgehensweise verschafft, sondern offen und im Vertrauen auf die
Wirksamkeit der erteilten Einwilligungserklärung beim Hausarzt angefragt.
Aus diesen Gründen kann dem Beklagten auch nicht der Vorwurf gemacht werden,
den Hausarzt zum Bruch seiner Schweigepflicht verleitet zu haben.
29 Es tritt hinzu, dass der Beklagte, wäre ihm die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 23. Oktober 2006 (aaO) bereits bekannt
gewesen, dieselben Informationen zum Gesundheitszustand des Klägers mittels
gezielter Einzelermächtigungen oder aufgrund einer über den Kläger laufenden
Informationsübermittlung hätte verlangen können (vgl. dazu BVerfG aaO Tz. 54
ff.). Der Kläger hätte es dann lediglich in der Hand gehabt, entweder seinen
Hausarzt zur Auskunft zu ermächtigen und die entsprechenden Informationen an
den Beklagten weiterzuleiten oder aber im Interesse der Vertraulichkeit
seiner Gesundheitsdaten von einer Freigabe abzusehen und damit zugleich im
Ergebnis auf den erhobenen Leistungsanspruch zu verzichten (BVerfG aaO). Das
zeigt, dass zwar die Informationsgewinnung durch den Beklagten an behebbaren
Verfahrensmängeln litt, seine materielle Berechtigung, die Gesundheitsdaten
des Klägers für seine Leistungsprüfung zu verlangen, jedoch außer Frage
steht.
30 cc) Wägt man diese Umstände gegeneinander ab, so setzt sich das Interesse
des Versicherers an der Verwertung der beim Hausarzt erhobenen Daten durch.
Der Rechtsverstoß des Beklagten bei der Erhebung der Daten erweist sich
angesichts des vorangegangenen Rechtsverstoßes des Klägers als nicht von
einem solchen Gewicht, dass ihm deswegen die Arglistanfechtung verwehrt
wäre.
31 b) Auch prozessual war weder der Beklagte daran gehindert, die
Informationen zu den Vorerkrankungen des Klägers unter Berufung auf das
Zeugnis des Hausarztes in das Verfahren einzuführen, noch war es dem
Berufungsgericht verwehrt, den Hausarzt als Zeugen zu vernehmen und seine
Angaben zu verwerten.
32 Aus denselben Erwägungen, die zum Ausschluss eines materiellen
Verwertungsverbots geführt haben, besteht kein Anlass, dem Beklagten im
Prozess die Berufung auf die gewonnenen Erkenntnisse zu verwehren oder für
das Gericht ein Verwertungsverbot zu begründen (vgl. dazu OLG Saarbrücken,
Urteil vom 9. September 2009 - 5 U 510/08-93). Etwas anderes ergibt sich
auch nicht aus den Urteilen des XII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs (BGHZ
162, 1; 166, 283; BGH, Urteil vom 12. Januar 2005 - XII ZR 60/03 - FamRZ
2005, 342), wonach heimlich eingeholte Abstammungsgutachten im
Vaterschaftsanfechtungsverfahren "auch als Parteivortrag ungeeignet [seien],
die Schlüssigkeit einer Vaterschaftsanfechtungsklage herbeizuführen" (BGHZ
166, 283 Tz. 10). Der hier zu entscheidende Fall unterscheidet sich von den
vom XII. Zivilsenat entschiedenen Fällen bereits dadurch, dass die
geschützten Daten nicht heimlich, sondern offen und im Vertrauen auf die
Wirksamkeit der erteilten Einwilligung erhoben wurden. Darüber hinaus hat
der Parteivortrag im Vaterschaftsanfechtungsverfahren eine besondere
verfahrensrechtliche Bedeutung. Um das vom Untersuchungsgrundsatz geprägte
Vaterschaftsanfechtungsverfahren in Gang zu bringen, muss der Kläger
lediglich Umstände vortragen, die bei objektiver Betrachtung geeignet sind,
Zweifel an der Abstammung des Kindes von dem als Vater geltenden Kläger zu
wecken und die Möglichkeit der Abstammung des Kindes von einem anderen Mann
als nicht ganz fern liegend erscheinen zu lassen (BGHZ 162, 1, 3). Die
Beweiserhebung erfolgt sodann von Amts wegen. Diese Besonderheit
rechtfertigt es, das Verwertungsverbot dort bereits auf den Parteivortrag zu
beziehen. Dem durch den Beibringungsgrundsatz und die Parteienmaxime
geprägten regulären Zivilverfahren ist ein bereits am Vortrag ansetzendes
Verwertungsverbot dagegen fremd.
33 Die Verwertbarkeit der Aussage des Hausarztes ergibt sich bereits daraus,
dass auch der Kläger selbst diesen zum betreffenden Beweisthema als Zeugen
benannt und ihn insoweit konkludent von der Schweigepflicht entbunden hat
(vgl. Greger in Zöller, ZPO 27. Aufl. § 385 Rdn. 11). |