Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 BGB:
Kein Erfordernis der Pflichtteilsberechtigung bereits z.Zt der Schenkung
(Änderung der Rspr.)
BGH, Urteil vom 23. Mai 2012 - IV ZR
250/11
Fundstelle:
NJW 2012, 2730
für BGHZ vorgesehen
Amtl. Leitsatz:
Der Pflichtteilsergänzungsanspruch - hier eines
Abkömmlings - nach § 2325 Abs. 1 BGB setzt nicht voraus, dass die
Pflichtteilsberechtigung bereits im Zeitpunkt der Schenkung bestand (Abkehr
von den Senatsurteilen vom 21. Juni 1972 - IV ZR 69/71, BGHZ 59, 210 und vom
25. Juni 1997 - IV ZR 233/96, ZEV 1997, 373).
Zentrale Probleme:
Es geht - eingekleidet in einen
Auskunftsanspruch - um eine wichtige erbrechtliche Frage der
Pflichtteilsergänzung bei Schenkungen nach § 2325 BGB. Dieser Anspruch
richtet sich nur hilfsweise gegen den Beschenkten (§ 2329 BGB), sondern
führt dazu, dass unter den weiteren Voraussetzungen des § 2325 BGB die
verschenkte Sache dem Nachlass fiktiv zugerechnet wird und aus diesem Wert
der Pflichtteil berechnet wird. Hier geht es jetzt um die Frage, ob der
Pflichtteilsberechtigte für diesen Ergänzungsanspruch bei der Schenkung
schon gelebt haben muss bzw. pflichtteilsberechtigt gewesen sein muss. Das
verneint der Senat in Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung und gibt
dies sog. "Theorie der Doppelberechtigung", wonach die
Pflichtteilsberechtigung sowohl zum Zeitpunkt der Schenkung als auch z.Zt.
des Todes bestanden haben muss, auf.
©sl 2012
Tatbestand:
1 Die am 18. Juni 1976 geborene
Klägerin zu 1 sowie der am 4. November 1978 geborene Kläger zu 2
machen gegen die Beklagte, ihre Großmutter, im Wege der Stufenklage
Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche nach ihrem am 26. April
2006 verstorbenen Großvater geltend. Die Großeltern, die im
Güterstand der Gütertrennung lebten, hatten vier Kinder, unter
anderem die 1984 vorverstorbene Mutter der Kläger. Am 8. März 2002
errichteten die Beklagte und der Erblasser ein gemeinschaftliches
privatschriftliches Testament, in dem sie sich gegenseitig zu
"alleinigen und befreiten Vorerben" sowie ihre noch lebenden Kinder zu
"Nacherben des Erstversterbenden und Erben des Längstlebenden" einsetzten.
2 Nach dem Tod des Erblassers verlangten die Kläger Auskunft über den
Nachlassbestand sowie den Wert der Nachlassimmobilien. Die Beklagte
antwortete hierauf u.a. mit anwaltlichem Schreiben vom 27. Februar 2007. Im
Anschluss an weiteren Schriftwechsel fand am 21. August 2007 ein Termin zur
Abgabe der eidesstattlichen Versicherung der Beklagten statt. Diese wurde
aufgrund von Unstimmigkeiten über den Umfang der Auskunftsverpflichtung
nicht abgegeben.
3 Durch Schriftsatz vom 19. Januar 2009 beantragten die Kläger die
Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine von ihnen beabsichtigte Klage,
mit der sie die Beklagte auf Zahlung von je 3.501,33 € in Anspruch nehmen
wollten sowie im Wege der Stufenklage auf Auskunft durch Vorlage eines
notariell aufgenommenen Verzeichnisses, Abgabe der eidesstattlichen
Versicherung und Zahlung. Noch vor Zustellung der Klage zahlte die Beklagte
je 3.501,33 € an die Kläger. Das Landgericht hat der Auskunftsklage
stattgegeben, ferner festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, die
mit der Klageinreichung verursachten Kosten der Rechtsverfolgung
hinsichtlich des ursprünglichen Zahlungsantrages zu tragen, und die Klage im
Übrigen abgewiesen. Das Berufungsgericht hat das Rechtsmittel der Beklagten,
soweit es sich auf den Feststellungsausspruch bezieht, als unzulässig
verworfen und im Übrigen - mit Ausnahme des Antrags auf Wertermittlung -
zurückgewiesen. Ferner hat es das landgerichtliche Urteil aufgehoben, soweit
die noch nicht gestellten Klaganträge bezüglich eidesstattlicher
Versicherung und Zahlung abgewiesen worden waren, und die Sache insoweit an
das Landgericht zurückverwiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte
ihren Klagabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe:
4 Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg. Über die Revision der Beklagten ist,
obwohl die Klägerin zu 1) im Verhandlungstermin vor dem Senat nicht
vertreten war durch streitiges Endurteil (unechtes Versäumnisurteil), nicht
durch Versäumnisurteil zu entscheiden, da sich die Revision auf der
Grundlage des vom Berufungsgericht festgestellten Sachverhalts als
unbegründet erweist (vgl. BGH, Urteil vom 12. Juli 2011 - II ZR 28/10, NJW
2011, 3372 Rn. 6 m.w.N.).
5 I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, das Rechtsmittel der Beklagten
gegen die im landgerichtlichen Urteil ausgesprochene Feststellung ihrer
Kostentragungspflicht im Hinblick auf den ursprünglich angekündigten
Zahlungsantrag sei unzulässig, weil es entgegen § 520 Abs. 3 ZPO nicht
begründet worden sei. Unbegründet sei die Berufung der Beklagten, soweit sie
sich gegen die Auskunftsverpflichtung richte. Den Klägern stehe ein
Anspruch auf Vorlage eines notariell aufgenommenen Verzeichnisses gemäß §
2314 Abs. 1 Satz 3 BGB zu. Dieser Anspruch sei nicht
verwirkt. Das Nachlassverzeichnis habe unter anderem die lebzeitigen
Schenkungen des Erblassers an die Beklagte sowie an dritte Personen in den
letzten Jahren vor dem Tod des Erblassers zu erfassen. Die Ergänzungspflicht
nach § 2325 BGB und der Auskunftsanspruch umfassten auch die Schenkungen,
die der Erblasser vor der Geburt der pflichtteilsberechtigten Kläger
vorgenommen habe. Aus der Entstehungsgeschichte der Norm
ergebe sich, dass es allein auf die Pflichtteilsberechtigung im Zeitpunkt
des Erbfalles ankomme. Ziel des § 2325 BGB sei es ungeachtet gewandelter
sozialer Verhältnisse, den nächsten Angehörigen des Erblassers ihre nach
Art. 14, Art. 6 GG verfassungsrechtlich garantierte Teilhabe am Nachlass zu
bewahren. Die zeitliche Befristung der Ausgleichspflicht in § 2325 Abs. 3
BGB lasse sich nicht für die Annahme heranziehen, die Vorschrift schütze
primär eine bestimmte Erberwartung. Eine Differenzierung der
Ergänzungspflicht nach dem Bestehen eines Pflichtteilsrechts zum Zeitpunkt
der Schenkung liefe zumindest bei nachgeborenen Angehörigen der
gesetzgeberischen Entscheidung zuwider, die dem Erblasser nachfolgenden
Stämme zu gleichen Teilen am Nachlass zu beteiligen. Die Anknüpfung an den
Zeitpunkt der Geburt sei zufällig und stehe mit dem Sinn und Zweck der
Ausgleichspflicht in keinem Zusammenhang. Auf die jeweilige Erberwartung
oder Schutzbedürftigkeit des Pflichtteilsberechtigten komme es demgegenüber
nicht an. Soweit das Landgericht die Klage im Übrigen abgewiesen habe, sei
das Urteil gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 4 ZPO aufzuheben und der Rechtsstreit an
das Landgericht zurückzuverweisen. Es habe verfahrensfehlerhaft über
sämtliche Stufen der Stufenklage entschieden, obwohl - neben dem bereits
erhobenen ursprünglichen Zahlungsanspruch - zunächst nur der Auskunftsantrag
gestellt worden sei.
6 II. Das hält rechtlicher Nachprüfung stand.
7 1. Zutreffend hat das Berufungsgericht das Rechtsmittel der Beklagten
gegen die im landgerichtlichen Urteil ausgesprochene Feststellung der
Kostentragungspflicht als unzulässig verworfen. Gemäß § 520 Abs. 3 ZPO muss
die Berufungsbegründung bei mehreren prozessualen Ansprüchen eine Begründung
für jeden der Ansprüche enthalten (BGH, Urteil vom 29. November 1956 - III
ZR 4/56, BGHZ 22, 272, 278; Zöller/ Heßler, ZPO 29. Aufl. § 520 Rn. 27, 37
m.w.N.). Daran fehlt es. Die Berufungsbegründung rügt die Verletzung
rechtlichen Gehörs sowie materiellen Rechts bei der Anwendung von § 2325
BGB. Diese Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die Stufenklage und
den Umfang der Auskunftspflicht im Hinblick auf
Pflichtteilsergänzungsansprüche. Dem Feststellungsantrag lag demgegenüber
eine Zahlungsklage zugrunde, mit der die Kläger unabhängig von einer
Auskunftserteilung bereits eine Teilzahlung auf ihren Pflichtteil geltend
machten. Nach Zahlung erachtete das Landgericht den Feststellungsantrag für
begründet, weil die Beklagte durch die Zustellung des Klagentwurfs im
Prozesskostenhilfeverfahren in Verzug gekommen sei. Diese Feststellungen
sind von der Beklagten nicht angegriffen worden. Entgegen der Auffassung der
Revision genügen die allgemeinen Ausführungen am Beginn der
Berufungsbegründung, dass das angefochtene Urteil einer Überprüfung nicht
standhalte, sich als fehlerhaft darstelle und auf den Hauptantrag aufzuheben
sei, nicht.
8 2. Den Klägern steht als Pflichtteilsberechtigten nach ihrem
Großvater gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 3 BGB ein Anspruch auf Auskunftserteilung
über den Bestand des Nachlasses durch Vorlage eines notariell aufgenommenen
Verzeichnisses zu. Dem steht nicht entgegen, dass die Beklagte auf
Anforderung der Kläger bereits mehrfach privatschriftliche Auskünfte (durch
Rechtsanwälte) erteilt hatte. Die verschiedenen Arten von
Auskunftsansprüchen nach § 2314 Abs. 1 BGB (auf ein privates Verzeichnis
nach Satz 1, auf ein Verzeichnis unter Zuziehung des Gläubigers gemäß Satz 2
sowie auf ein amtliches Verzeichnis nach Satz 3) stehen nicht in einem
Alternativverhältnis. Vielmehr kann der Gläubiger sie neben- oder
hintereinander geltend machen. Insbesondere kann er verlangen, dass der Erbe
trotz Vorlage eines privaten Verzeichnisses danach noch ein amtliches
Verzeichnis vorlegt (BGH, Urteil vom 2. November 1960 - V ZR
124/59, BGHZ 33, 373, 378 f.; OLG Köln ZEV 2008, 383, 385; OLG Karlsruhe ZEV
2007, 329). Dies ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut des Gesetzes als auch
aus seinem Sinn und Zweck. Ein notarielles Verzeichnis bietet eine größere
Gewähr für Klarheit, Übersichtlichkeit und Richtigkeit.
9 3. Dieser Auskunftsanspruch ist nicht gemäß § 242 BGB verwirkt.
Ein Recht ist erst dann verwirkt, wenn der Berechtigte es längere Zeit
hindurch nicht geltend gemacht und der Verpflichtete sich darauf
eingerichtet hat sowie sich nach dem gesamten Verhalten des Berechtigten
auch darauf einrichten durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend
machen werde (BGH, Urteile vom 6. März 1986 - III ZR 195/84, BGHZ
97, 212, 220 f.; vom 20. Oktober 1988 - VII ZR 302/87, BGHZ 105, 290, 298;
Palandt/Grüneberg, BGB 71. Aufl. § 242 Rn. 87, 93 ff.).
10 Einen solchen Fall hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei verneint.
Entgegen der Auffassung der Revision lässt das Berufungsurteil insbesondere
auch keinen Rechtsfehler erkennen, soweit das Berufungsgericht in dem
Verhalten der Kläger auf die von der Beklagten früher erteilten Auskünfte
keinen ausreichenden Umstand gesehen hat, der bei der Beklagten das
Vertrauen hätte wecken können, die Kläger würden ihr Recht nicht mehr
geltend machen. Die Revision übersieht bereits, dass das Verlangen eines
amtlichen Verzeichnisses nach Vorlage eines Privatverzeichnisses allenfalls
bei Feststellung besonderer Umstände im Einzelfall rechtsmissbräuchlich sein
kann; dafür genügt der reine Zeitablauf gerade nicht (BGH, Urteil vom 2.
November 1960 aaO). Es ist daher unerheblich ist, dass die Kläger nach der
privatschriftlichen Auskunftserteilung im Schreiben vom 27. Februar 2007
annähernd zwei Jahre gewartet haben, bis sie am 19. Januar 2009 einen
Prozesskostenhilfeantrag zwecks Auskunftserteilung durch ein notariell
aufgenommenes Verzeichnis gestellt haben. Sie haben vorher nicht zum
Ausdruck gebracht, dass sie sich mit der bisherigen Auskunftserteilung
zufrieden geben oder gar auf das ihnen zusätzlich zustehende Recht auf ein
notarielles Verzeichnis verzichten. Der Streit der Parteien über den Inhalt
der Auskunftspflicht bestand weiterhin, wie sich in dem gescheiterten
Versuch zur Abnahme der eidesstattlichen Versicherung am 21. August 2007
zeigte. Die Beklagte hat vor Klagerhebung keine Zahlungen an die Kläger
geleistet, aufgrund derer sie darauf hätte vertrauen dürfen, weitere
Forderungen ihr gegenüber würden nicht mehr geltend gemacht werden.
11 4. Zum auskunftspflichtigen Bestand des Nachlasses gehören nicht
nur die beim Erbfall tatsächlich vorhandenen Nachlassgegenstände, sondern
auch sonstige Faktoren, die der Berechnung des Pflichtteils zugrunde zu
legen sind, insbesondere Schenkungen gemäß § 2325 BGB einschließlich
unbenannter Zuwendungen unter Ehegatten (BGH, Urteil vom 2.
November 1960 aaO; Senatsurteil vom 27. November 1991 - IV ZR 164/90, BGHZ
116, 167).
12 a) Der Pflichtteilsergänzungsanspruch der Kläger bezieht sich
auch auf solche unentgeltlichen Zuwendungen, die der Erblasser vor ihrer
Geburt vorgenommen hat. Demgegenüber setzt der Anspruch nicht voraus, dass
die Pflichtteilsberechtigung sowohl im Zeitpunkt des Erbfalles als auch
schon zur Zeit der Schenkung bestanden hat, - sogenannte Theorie der
Doppelberechtigung (so bisher Senatsurteile vom 21. Juni 1972 - IV
ZR 69/71, BGHZ 59, 210, 212 ff.; vom 25. Juni 1997 - IV ZR 233/96, ZEV 1997,
373 unter I 3; so auch OLG Köln ZEV 2005, 398; LG Dortmund ZEV 1999, 30;
Palandt/Weidlich, § 2325 Rn. 4; Keller, ZEV 2000, 268, 269 f.; Bestelmeyer,
FamRZ 1998, 1152, 1155-1157). Seine dem entgegenstehende
Rechtsprechung gibt der Senat auf.
-
13 Für den Pflichtteilsergänzungsanspruch kommt es allein auf die
Pflichtteilsberechtigung im Zeitpunkt des Erbfalles an (so auch
MünchKomm-BGB/Lange, 5. Aufl. § 2325 Rn. 7-10; Staudinger/Olshau-sen, BGB
[2006] § 2325 Rn. 64, 66; Erman/Schlüter, BGB 13. Aufl. Vorb. §§ 2325-2331;
Mayer in Bamberger/Roth, BGB 3. Aufl. § 2325 Rn. 3; Riedel/Lenz in Damrau,
Praxiskommentar Erbrecht § 2325 Rn. 5-8; Muscheler, Erbrecht Bd. II Rn.
4217-4224; ders. ErbR 2010, 246, 247 ff. v. Lübtow, Erbrecht I S. 592;
Brox/Walker, Erbrecht 24. Aufl. Rn. 562; Lange/Kuchinke, Erbrecht 5. Aufl. §
37 X 5a); Kipp/Coing, Erbrecht 14. Aufl. § 13 III 2; Siebert, NJW 2006,
2948, 2949 f.; Otte, ZEV 1999, 31; ders. ZEV 1997, 375; Tiedtke, DNotZ 1998,
85, 87 ff.; Schmidt-Kessel, ZNotP 1998, 2, 4 f.; Reimann, MittBayNot 1997,
299; Reinicke, NJW 1973, 597; vermittelnd unter anderem Pentz, MDR 1997,
717, 718 f.; FamRZ 1999, 488, 489, der darauf abstellt, ob für den Erblasser
im Zeitpunkt der Schenkung absehbar war, ob mit weiteren
Pflichtteilsberechtigten zu rechnen sei).
14 b) Dies rechtfertigt sich aus folgenden Überlegungen:
15 aa) Dem Wortlaut des § 2325 Abs. 1 BGB lässt sich nicht
entnehmen, dass es für die Pflichtteilsberechtigung nicht nur auf den
Erbfall, sondern auch auf den Zeitpunkt der Schenkung ankommt (vgl.
Staudinger/Olshausen aaO Rn. 64; Erman/Schlüter aaO; Siebert aaO; Tiedtke
aaO 86 f.). Die Vorschrift gewährt dem Pflichtteilsberechtigten einen
Ergänzungsanspruch, wenn der Erblasser einem Dritten eine Schenkung gemacht
hat. Für die Pflichtteilsberechtigung und den daraus resultierenden Anspruch
ist hiernach allein der Zeitpunkt des Erbfalles maßgebend.
16 bb) Hierfür spricht auch die Entstehungsgeschichte des Gesetzes.
So sah § 2009 des Ersten Entwurfs zum BGB noch ausdrücklich vor, dass der
Pflichtteilsberechtigte bereits zur Zeit der Schenkung vorhanden und
pflichtteilsberechtigt war (vgl. Protokolle V S. 585-587; zur
Entstehungsgeschichte Muscheler aaO Rn. 4217; Schmidt-Kessel aaO 2; Tiedtke
aaO 89). Die Mehrheit der Kommission lehnte indessen nach intensiver
Erörterung die zunächst vorgesehene Einschränkung ausdrücklich ab. Unter
anderem heißt es (Protokolle V S. 586 f.):
"... Die Zeit der Schenkung zu Grunde zu legen, ist keineswegs nothwendig.
Der richtige Gedanke sei der: ein bestimmter Theil des Nachlasses solle nach
dem Willen des Gesetzgebers den nächsten Angehörigen gesichert werden. Damit
nun nicht dieser Theil des Kapitals, auf welchen die Familie mehr oder
minder angewiesen sei, verloren gehe, gewähre das Gesetz gegen solche
Schenkungen, die das Recht der Pflichttheilsberechtigten thatsächlich
vereiteln würden, eine Art Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Eine Unbilligkeit gegen den Erblasser oder den Beschenkten könne nicht
zugestanden werden, denn der Beschenkte, welcher nach § 2016 nur auf den
Betrag seiner Bereicherung hafte, verdiene weniger Rücksicht und sei auch in
anderen Fällen in seinem Erwerbe weniger gesichert, der Verfügungsfreiheit
des Erblassers aber stehe das Recht der Familie gegenüber..."
17 cc) Dem steht eine etwaige Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen
Verhältnisse seit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht
entgegen (so noch Senatsurteil vom 21. Juni 1972 aaO 212214). Es ist nicht
einsichtig, warum sich diese Änderung weg von einer Gesellschaft, die im
Wesentlichen noch von der Landwirtschaft und der bäuerlichen Wirtschaft
geprägt gewesen ist, auf die Frage auswirken soll, ob die
Pflichtteilsberechtigung schon im Zeitpunkt der Schenkung bestanden haben
muss oder nicht (Reinicke aaO). Ausweislich der Entstehungsgeschichte des
Gesetzes spielten die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse keine
entscheidende Rolle dafür, dass die Mehrheit der Kommission sich
ausdrücklich gegen das Erfordernis entschied, die Pflichtteilsberechtigung
müsse bereits im Zeitpunkt der Schenkung bestanden haben (vgl. Protokolle V
S. 586 f.; ferner Pentz, MDR 1997, 717).
18 dd) Gegen die "Theorie der Doppelberechtigung" spricht ferner der
Sinn und Zweck des Pflichtteilsergänzungsanspruchs. Grundgedanke des
Pflichtteilsrechts ist die Mindestteilhabe naher Angehöriger am Vermögen des
Erblassers. Diese sollen an den von ihm während seines Lebens geschaffenen
Vermögenswerten durch einen schuldrechtlichen Anspruch in Höhe der Hälfte
ihres gesetzlichen Erbrechts partizipieren. Um eine Verkürzung dieses
Teilhabeanspruchs zu verhindern, hat der Gesetzgeber den
Pflichtteilsanspruch hinsichtlich des konkret beim Erbfall vorhandenen
Nachlasses um den Pflichtteilsergänzungsanspruch wegen erfolgter Schenkungen
gegen den Erben bzw. Beschenkten nach §§ 2325, 2329 BGB ergänzt. Hierfür ist
es unerheblich, ob der im Erbfall Pflichtteilsberechtigte schon im Zeitpunkt
der Schenkung pflichtteilsberechtigt war oder nicht (so auch
MünchKomm-BGB/Lange aaO Rn. 8; Staudinger/Olshausen aaO; Muscheler aaO Rn.
4219; Schmidt-Kessel aaO 5; Siebert aaO 2950; Otte, ZEV 1997, 375; Reinicke
aaO 598; Tiedtke aaO 88 ff.).
19 ee) Ohne Bedeutung ist bei dem hier zur beurteilenden
Pflichtteilsergänzungsanspruch von Abkömmlingen, dass derjenige, der erst
nach der Schenkung pflichtteilsberechtigt geworden sei, beim Erblasser nie
andere Vermögensverhältnisse kennengelernt habe als diejenigen, die nach der
Schenkung vorhanden gewesen seien (so Senatsurteil vom 21. Juni
1972 aaO 215 für einen erst nach der Schenkung pflichtteilsberechtigt
gewordenen neuen Ehegatten). Auch bei nichtehelichen Kindern,
Kindern geschiedener oder getrennt lebender Eltern sowie allgemein jungen
Kindern, kann es im Einzelfall so sein, dass sie nie in der Lage gewesen
sind, eine Vorstellung von den Vermögensverhältnissen des Erblassers zu
entwickeln und sich in diese einzuleben. Waren diese Kinder im Zeitpunkt der
Schenkung geboren, so steht ihnen gleichwohl ein
Pflichtteilsergänzungsanspruch zu (so auch OLG Köln ZEV 2005, 398).
Warum für nach der Schenkung geborene Kinder etwas anderes gelten soll, ist
sachlich nicht zu erklären.
20 Zudem sind subjektive Elemente wie Kenntnis und Eingewöhnung des
Pflichtteilsberechtigten in die Vermögensverhältnisse des Erblassers sowie
fehlende oder bestehende Absicht der Pflichtteilsverkürzung durch den
Erblasser bei Schenkungen vor Entstehen der Pflichtteilsberechtigung der
Vorschrift des § 2325 Abs. 1 BGB fremd. Auch auf irgendeine Art von
Benachteiligungsabsicht, wie sie etwa für § 2287 BGB vorausgesetzt wird,
kommt es bei der Pflichtteilsergänzung nicht an.
21 ff) Das Erfordernis der Pflichtteilsberechtigung nicht nur im
Zeitpunkt des Erbfalles, sondern schon bei der Schenkung führt ferner zu
einer mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Ungleichbehandlung von
Abkömmlingen (vgl. Staudinger/Olshausen aaO Rn. 66; Muscheler aaO
Rn. 4220; Tiedtke aaO 94; Reimann aaO; Otte, ZEV 1997, 375; Rei-nicke aaO
600; Schmidt-Kessel aaO 4 f.; Bamberger/Mayer aaO; Riedel/Lenz Rn. 7). Hat
der Erblasser mehrere Kinder und sind einige im Zeitpunkt vor der Schenkung
sowie einige danach geboren, so werden letztere hinsichtlich des
Pflichtteilsergänzungsanspruchs ungleich behandelt. Das verstößt gegen den
Grundsatz des § 1924 Abs. 4 BGB, wonach Kinder zu gleichen Teilen erben. Ein
nach Art. 3 Abs. 1 GG sachlich gerechtfertigter Grund für eine derartige
Ungleichbehandlung der Kinder besteht nicht. Ihre Pflichtteilsberechtigung
beruht nicht auf einem eigenen Dispositionsakt, sondern lediglich auf ihrer
Geburt. Geht es um eine Mindestteilhabe am Vermögen des Erblassers, kommt
eine Differenzierung zwischen den Abkömmlingen danach, ob sie vor oder nach
der Schenkung geboren wurden, nicht in Betracht.
22 Die Zufälligkeit der Ergebnisse auf der Grundlage der Theorie der
Doppelberechtigung zeigt sich anschaulich im vorliegenden Fall. Die Beklagte
und der Erblasser hatten vier Kinder, von denen im Zeitpunkt des Erbfalles
noch drei lebten. Die Mutter der Kläger war 1984 vorverstorben. Zwar ist der
genaue Zeitpunkt sämtlicher Schenkungen des Erblassers an die Beklagte nicht
bekannt. Soweit es aber etwa um eine Grundstücksschenkung des Erblassers an
die Beklagte aus dem Jahr 1975 geht, steht fest, dass die Mutter der 1976
und 1978 geborenen Kläger zu diesem Zeitpunkt noch lebte. Wäre sie nicht
danach verstorben und hätte den Erblasser wie ihre drei Geschwister
überlebt, so hätte ihr ein Pflichtteilsergänzungsanspruch zugestanden. Wäre
sie erst nach dem Erbfall verstorben, hätten die Kläger an diesem
Pflichtteilsergänzungsanspruch ihrer Mutter, sei es als Erben, sei es
ihrerseits als Pflichtteilsberechtigte, partizipiert. Für den
Pflichtteilsergänzungsanspruch kann es aber nicht darauf ankommen, ob die
Mutter der Kläger noch vor dem Erbfall verstorben ist oder erst danach. Dies
führte zu einer ungerechtfertigten Benachteiligung des Stammes der Kläger
und ihrer Mutter gegenüber den anderen drei Kindern und unterliefe das
Eintrittsrecht der Kläger nach § 1924 Abs. 3 BGB sowie die dort geregelte
Erbfolge nach Stämmen (anders konsequent auf der Grundlage der bisherigen
Rechtsprechung Keller aaO 268 f.; Bestelmeyer aaO 1155 f.).
23 gg) Dem Rechtsgedanken des § 2325 Abs. 3 BGB lässt sich
gleichfalls keine Rechtfertigung der Theorie der Doppelberechtigung
entnehmen (so noch Senatsurteil vom 25. Juni 1997 aaO unter I 3 c).
§ 2325 Abs. 1 und 3 BGB haben unterschiedliche Regelungsgehalte. In Absatz 1
geht es darum, ob und unter welchen Voraussetzungen ein
Pflichtteilsergänzungsanspruch in Betracht kommt. Hierzu gehört die Frage,
ob der Pflichtteilsberechtigte diese Stellung bereits im Zeitpunkt der
Schenkung innegehabt haben muss. Demgegenüber enthält § 2325 Abs. 3 BGB eine
Schutzvorschrift für den Beschenkten, wonach mehr als zehn Jahre vor dem
Erbfall zurückliegende Schenkungen unberücksichtigt bleiben sollen. Mit der
Frage der Pflichtteilsberechtigung dem Grunde nach befasst sich diese
Vorschrift demgegenüber nicht (vgl. auch Tiedtke aaO 92; Schmidt-Kessel aaO
4; Reinicke aaO 598 f.). Insoweit ist die Grundentscheidung des Gesetzgebers
zu berücksichtigen, der Beschenkte "verdiene weniger Rücksicht" (Protokolle
V S. 587).
24 5. Ohne Erfolg rügt die Revision, dass das Berufungsgericht das
landgerichtliche Urteil, soweit die noch nicht gestellten Klageanträge zu II
und III (eidesstattliche Versicherung und Zahlung im Rahmen der Stufenklage)
abgewiesen worden sind, aufgehoben und die Sache an das Landgericht
zurückverwiesen hat. Das Landgericht hatte dem Auskunfts-sowie dem
Feststellungsantrag im Wesentlichen stattgegeben und die Klage im Übrigen
abgewiesen. Eine Entscheidung über die weiteren Stufen der Stufenklage kam
noch nicht in Betracht, weil die Kläger diese Anträge noch nicht gestellt
hatten. Tatsächlich hat das Landgericht diese noch nicht gestellten Anträge
auch nicht abweisen wollen. Es hat im Tatbestand bei den Klägeranträgen nur
den Auskunftsanspruch in der ersten Stufe sowie den unabhängig davon
bestehenden Zahlungsantrag als gestellt wiedergegeben. In den
Entscheidungsgründen finden sich keine Ausführungen zu den noch nicht
gestellten weiteren Anträgen der Stufenklage. Aus Sicht des Landgerichts lag
daher eine offensichtliche U n-richtigkeit gemäß § 319 ZPO vor. Ausweislich
seines Schreibens vom 6. August 2009 hatte es auch eine Berichtigung nach §
319 ZPO beabsichtigt, zu der es dann nicht mehr kam.
25 Soweit das Berufungsgericht, weil es nicht von einem Anwendungsfall des §
319 ZPO ausgegangen ist, wegen der Klagabweisung das landgerichtliche Urteil
gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 4 ZPO aufgehoben und den Rechtsstreit zurückverwiesen
hat, liegt hierin entgegen der Ansicht der Revision in der Sache jedenfalls
kein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot ("reformatio in peius") und
die Bindung an die Berufungsanträge gemäß § 528 ZPO. Der Beklagten ist durch
das landgerichtliche Urteil nichts zugesprochen worden, was ihr durch das
Berufungsgericht wieder genommen worden wäre. Es handelt sich vielmehr
lediglich um eine Klarstellung des Inhalts, dass über die weiteren Anträge
der Stufenklage erstinstanzlich nach erteilter Auskunft zu entscheiden sein
wird.
|