IZPR: Anerkennung und
Vollstreckung einer ausländischen Entscheidung des einstweiligen
Rechtsschutzes - Anerkennungshindernis nach Art. 34 Nr. 2 EuGVO; keine
Vorlage an den EuGH bei "acte clair"
BGH, Beschluss vom 21.
Dezember 2006 - IX ZB 150/05
Fundstelle:
noch nicht bekannt
Amtl. Leitsatz:
Entscheidungen der
Gerichte anderer Mitgliedstaaten im Verfahren des einstweiligen
Rechtsschutzes, denen kein kontradiktorisch angelegtes Verfahren
vorausgegangen ist, können nicht anerkannt und für vollstreckbar erklärt
werden.
Gründe:
I.
1 Die Antragstellerin (im Folgenden auch: Gläubigerin) erwirkte gegen die
Antragsgegnerin (im Folgenden auch: Schuldnerin) einen Arrestbeschluss des
Amtsgerichts Stenungsund (Schweden) vom 1. April 2005, durch den die
Schuldnerin wegen einer Forderung von 199.210 € mit dem dinglichen Arrest
belegt wurde. Die Schuldnerin ist vor Erlass des Arrestbeschlusses weder
gehört worden, noch ist ihr zuvor ein verfahrenseinleitendes oder
gleichwertiges Schriftstück zugestellt worden. Sie hat jedoch gegen den
Arrest fristgerecht den zulässigen Rechtsbehelf eingelegt.
2 Auf Antrag der Gläubigerin hat der Vorsitzende einer Kammer des
Landgerichts den Arrestbeschluss für vollstreckbar erklärt. Die gegen diesen
Be-schluss eingelegte sofortige Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben.
Hiergegen wendet sich die Antragsgegnerin mit ihrer Rechtsbeschwerde.
II.
3 Das gemäß § 15 Abs.1 AVAG, § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsmittel
ist zulässig, § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Es ist form- und fristgerecht
eingelegt und begründet worden, § 16 AVAG.
4 Die Rechtsbeschwerde ist begründet, § 17 Abs. 1, 2 AVAG.
5 1. Auf das Verfahren findet die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über
die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 22. Dezember 2000 (Amtsblatt
EG 2001 Nr. L 12, S. 1; im Folgenden: EuGVVO) Anwendung, die in allen
Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft - mit Ausnahme Dänemarks -am
1. März 2002 in Kraft getreten ist (Art. 76 EuGVVO) und auf alle Klagen
anzuwenden ist, die danach erhoben worden sind (Art. 66 Abs.1 EuGVVO). Dies
war hier der Fall.
6 2. Nach Art. 45 Abs. 1 EuGVVO in Verbindung mit Art. 34 Nr. 2 EuGVVO
wird eine Entscheidung nicht anerkannt und damit nicht für vollstreckbar
erklärt, wenn dem Beklagten, der sich nicht auf das Verfahren eingelassen
hat, das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges
Schriftstück nicht so rechtzeitig und in einer Weise zugestellt worden ist,
dass er sich verteidigen konnte, es sei denn, der Beklagte hat gegen die
Entscheidung keinen Rechtsbehelf eingelegt, obwohl er die Möglichkeit dazu
hatte. Der Schuldnerin ist das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht vor
Erlass des Arrestes zugestellt worden. Sie hatte keine Gelegenheit, sich
gegen den Antrag zu verteidigen, hat jedoch anschließend gegen den
erlassenen Arrest Rechtsbehelf eingelegt.
7 Entscheidung im Sinne des Art. 34 EuGVVO ist gemäß Art. 32 EuGVVO jede
von einem Gericht eines Mitgliedstaates erlassene Entscheidung, ohne
Rücksicht auf ihre Bezeichnung. Hierunter fallen auch Versäumnisurteile oder
Entscheidungen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Die
Vorschriften des Kapitels III der EuGVVO sind aber nicht zur Anwendung auf
gerichtliche Entscheidungen vorgesehen, die nach dem innerstaatlichen Recht
des Erststaates ergehen, ohne dass die Gegenpartei die Möglichkeit erhält,
auf die Entscheidung des Gerichts einzuwirken. Damit kann der
Arrestbeschluss des Amtsgerichts Stenungsund (Schweden) nicht anerkannt und
für vollstreckbar erklärt werden.
8 a) Das Beschwerdegericht (dessen Entscheidung veröffentlicht ist in OLGR
Schleswig 2005, 520) hat seine gegenteilige Auffassung damit begründet, dass
es eine nicht unerhebliche Lähmung des einstweiligen Rechtsschutzes im
internationalen Bereich zur Folge habe, wenn man Entscheidungen des
vorläufigen Rechtsschutzes nicht anerkennen und für vollstreckbar erklären
würde. Die nationalen Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten würden
einstweilige Anordnungen mit Überraschungseffekt kennen. Rechtliches Gehör
werde im Rechtsbehelfsverfahren gewährt. Die Mitgliedstaaten wollten auch im
internationalen Kontext keinen strengeren Maßstab aufstellen.
9 Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 21. Mai 1980 zu Art.
25, 27, 46 Nr. 2 EuGVÜ sei auf Art. 32 f EuGVVO nicht übertragbar. Der
Verordnungsgeber habe auf diese Rechtsprechung nicht reagiert und mit Art.
32 EuGVVO an der weiten Fassung des früheren Art. 25 EuGVÜ festgehalten.
Daraus ergebe sich, dass er an dieser Rechtsprechung nicht habe festhalten
wollen, weil er andernfalls den vorläufigen Rechtsschutz vom
Anwendungsbereich der Anerkennungsvorschriften ausgenommen hätte.
10 b) Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Zu den - soweit hier von Interesse - gleich lautenden Vorgängerregelungen
der Art. 25, 27 Nr. 2 EuGVÜ hat der Europäische Gerichtshof entschieden,
dass gerichtliche Entscheidungen, durch die einstweilige oder auf eine
Sicherung gerichtete Maßnahmen angeordnet werden und die ohne Ladung der
Gegenpartei ergangen sind oder ohne vorherige Zustellung vollstreckt werden
sollen, nicht nach Titel III des EuGVÜ anerkannt und vollstreckt werden
können (EuGHE 1980, 1553, 1565 ff). Dies gilt in gleicher Weise für Art. 32,
34 Nr. 2 EuGVVO.
11 (1) Aus der weiten Fassung des Art. 32 EuGVVO lässt sich, ebenso wie aus
der entsprechenden Vorgängerregelung in Art. 25 EuGVÜ, nicht entnehmen, dass
Entscheidungen des vorläufigen Rechtsschutzes, etwa die Anordnung eines
dinglichen Arrestes, generell nicht unter die Regelungen der EuGVÜ oder der
EuGVVO über die Anerkennung und Vollstreckung fallen sollen. Dies ist
vielmehr möglich, setzt aber voraus, dass ein kontradiktorisch angelegtes
Verfahren vorausgegangen ist. Diese Einschränkung ergab sich aus Art. 27 Nr.
2, Art. 46 Nr. 2 EuGVÜ (EuGH aaO; BGH, Beschl. v. 24. Februar 1999 - IX ZB
2/98, ZIP 1999, 483, 485). Sie ergibt sich nunmehr aus den
Nachfolgeregelungen in Art. 34 Nr. 2 EuGVVO, der insoweit mit Art. 27 Nr. 2
EuGVÜ übereinstimmt, sowie aus Art. 54 EuGVVO in Verbindung mit Anhang V der
EuGVVO. Nach Art. 46 Nr. 2 EuGVÜ musste korrespondierend zu Art. 27 Nr. 2
EuGVÜ die antragstellende Partei nachweisen, dass das den Rechtsstreit
einleitende Schriftstück der säumigen Partei zugestellt worden war. Eine
völlig übereinstimmende Nachfolgeregelung hierfür gibt es zwar nicht. Die
nach Art. 53 Abs. 2, Art. 54 EuGVVO vorzulegende Bescheinigung nach Anhang V
der EuGVVO muss aber in Ziffer 4.4 das Datum der Zustellung des
verfahrenseinleitenden Schriftstückes enthalten, wenn die Entscheidung in
einem Verfahren erging, auf das sich der Beklagte nicht eingelassen hat.
Eine für die vorliegende Frage relevante Änderung gegenüber Art. 54 EuGVÜ
ist deshalb auch insoweit nicht eingetreten.
12 (2) Der Europäische Gerichtshof hat in der genannten Entscheidung
erkannt, dass auf die hier fraglichen Entscheidungen, die ohne Beteiligung
des Gegners ergangen sind, Art. 27 Nr. 2 EuGVÜ nicht angewandt werden
könnte, ohne dass diese Entscheidungen ihren Sinn und ihre Tragweite
verlören (EuGH, aaO Rn. 10). Hieraus hat er aber nicht geschlossen, dass
solche Entscheidungen gleichwohl anerkannt und für vollstreckbar erklärt
werden müssten. Er hat dies vielmehr im Hinblick auf die Systematik und die
Ziele des EuGVÜ ausdrücklich als offensichtlich nicht gewollt abgelehnt. Die
Bestimmungen des Abkommens brächten das Bestreben zum Ausdruck
sicherzustellen, dass im Rahmen der Ziele des Übereinkommens die Verfahren,
die zum Erlass gerichtlicher Entscheidungen führen, unter Wahrung des
rechtlichen Gehörs durchgeführt werden. Nur im Hinblick auf diese Garantien
werde die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung großzügig gehandhabt. Das
Übereinkommen stelle auf solche gerichtlichen Entscheidungen ab, denen im
Urteilsstaat ein kontradiktorisches Verfahren vorausgegangen sei oder hätte
vorausgehen können. Die Absicht, die hier fraglichen Entscheidungen des
einstweiligen Rechtsschutzes von der Anwendbarkeit auszunehmen, habe daher
nicht eigens zum Ausdruck gebracht werden müssen. Das bringe zwar Nachteile
für die Gläubiger. Diese würden aber durch die Regelung des Art. 24 EuGVÜ
(dem entspricht nunmehr Art. 31 EuGVVO) weitgehend ausgeglichen (EuGH aaO
Rn. 13 f, 17).
13 Hieraus ergibt sich, dass nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs
in Fällen einstweiligen Rechtsschutzes Entscheidungen der Gerichte nicht
nach dem EuGVÜ anerkannt und für vollstreckbar erklärt werden können, wenn
dem Gegner kein rechtliches Gehör gewährt worden ist.
14 Dem haben sich der Senat und die weitere Rechtsprechung angeschlossen
(BGH, Beschl. v. 24. Februar 1999 aaO; KG, IPrax 2001, 236, 237; OLG München
RIW 2000, 464; OLG Hamm NJW-RR 1995, 189; OLG Karlsruhe FamRZ 2001, 1623,
1624).
15 (3) Für die insoweit unverändert gebliebenen Vorschriften der EuGVVO gilt
dasselbe. Da der Verordnungsgeber in Kenntnis der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs die Regelungen (insoweit) inhaltlich unverändert
übernommen hat, ist davon auszugehen, dass diese Rechtsprechung Bestand
haben soll. Die gegenteilige Auffassung des Beschwerdegerichts ist nicht
haltbar. Nur wenn der europäische Verordnungsgeber die Rechtslage insoweit
hätte ändern wollen, hätte Veranlassung bestanden, den Wortlaut der
Vorschriften zu ändern, etwa Art. 32 oder Art. 34 Nr. 2 EuGVVO
einzuschränken für Entscheidungen des einstweiligen Rechtsschutzes, vor
deren Erlass dem Gegner kein rechtliches Gehör gewährt wurde. Die Annahme
des Beschwerdegerichts, der Verordnungsgeber habe die bestehende Rechtslage
gerade dadurch ändern wollen, dass er die Vorschriften unverändert
übernommen hat, widerspricht offenkundig der Methodik jeder Gesetzgebung.
16 Anhaltspunkte für die Auffassung des Beschwerdegerichts ergeben sich auch
nicht aus den Gesetzesmaterialien zur EuGVVO (vgl. Begründung S. 16 zu Art.
41 des Entwurfs der EuGVVO, KOM/99/348 endg.). Änderungen im Kapitel III
(Anerkennung und Vollstreckung) sind zwar mit dem Ziel vorgenommen worden,
zugunsten der Gläubiger eine zügige Vollstreckung der Urteile in andere
Mitgliedstaaten zu erreichen; zu diesem Zweck sind verschiedene
Erleichterungen eingefügt worden (vgl. etwa Piltz, NJW 2002, 789, 794). An
den Regelungen für die hier zu beurteilende Frage wurde indessen nichts
Relevantes geändert.
17 Die genannte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist demnach
auch für Art. 32, 34 Nr. 2 EuGVVO maßgebend (Musielak/Weth, ZPO, 5. Aufl.,
Art. 32 EuGVVO Rn. 5; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO 65. Aufl.
Art. 32 EuGVVO Rn. 1; Kroppholler, Europäisches Zivilprozessrecht 8. Aufl.
Art. 32 EuGVVO Rn. 22; Schlosser, Europäisches Zivilprozessrecht 2. Aufl.
Art. 32 EuGVVO Rn. 6; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO 27. Aufl. Art. 32 EuGVVO Rn.
4; Linke, Internationales Zivilprozessrecht 4. Aufl. 2006 Rn. 195a, 403;
Fohrer/Mattil, WM 2002, 840, 844 f; OLG Zweibrücken OLGR 2006, 218; OLG
Düsseldorf Beschl. v. 13. September 2006 - 3 W 159/06, zitiert nach juris).
18 3. Eine Vorlage gemäß Art. 234 EGV an den Europäischen Gerichtshof ist
nicht angezeigt. Eine Vorlagepflicht gemäß Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag
besteht dann nicht, wenn das letztinstanzliche nationale Gericht in dem bei
ihm schwebenden Verfahren feststellt, dass die betreffende
entscheidungserhebliche gemeinschaftsrechtliche Frage bereits Gegenstand der
Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof war und die richtige Anwendung
des Gemeinschaftsrechts offenkundig ist, und damit für einen vernünftigen
Zweifel keinerlei Raum bleibt (EuGHE 1982, 3415, 3430 Rn. 16; vgl. BGHZ
109, 29, 35; BGH, Urt. v. 28. März 2001 - VIII ZR 72/00, WM 2001, 1264, 1265
f; v. 24. Oktober 2003 - V ZR 48/03, WM 2004, 693, 695; v. 10. Oktober 2005
- II ZR 148/03, NJW 2006, 371, 373; Beschl. v. 2. März 2006 - IX ZR 15/05,
NJW 2006, 1806, 1808). So liegt der Fall hier. In dem zitierten Urteil vom
21. Mai 1980 (EuGHE 1980, 1553, 1565 ff) hat der Europäische Gerichtshof die
Frage für die Vorgängerregelung in Art. 25, 27 Nr. 2 EuGVÜ geklärt. Die
Entscheidung kann ohne weiteres auf die insoweit inhaltlich unverändert
gebliebene Neuregelung in der EuGVVO übertragen werden.
19 Soweit in der Literatur die Auffassung vertreten wird, diese
Rechtsprechung sei auf die EuGVVO nicht übertragbar, wendet sie sich
inhaltlich zumeist bereits gegen die Entscheidung zum EuGVÜ und fordert
deren Revidierung (Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 2.
Aufl. Art. 32 Rn. 35; Rauscher/Leible, Europäisches Zivilprozessrecht, 2.
Aufl. Art. 34 Brüssel I-VO Rn. 26; Heinze RIW 2003, 922, 928; gegen eine
Übertragung wegen angeblich grundlegender Umgestaltung der EuGVVO in diesem
Bereich Micklitz/Rott, EuZW 2002, 15, 16). Dies gibt keine Veranlassung für
eine erneute Vorlage.
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