Anfechtung eines gem. § 2256 I BGB durch Rücknahme aus amtlicher Verwahrung erfolgten Testamentswiderrufs


BayObLG v. 9.3.2005 - 1Z BR 108/04


Fundstelle:

NJW-RR 2005, 957


Amtl. Leitsatz:

Die Rücknahme eines notariellen Testaments aus der amtlichen Verwahrung ist auch Verfügung von Todes wegen. Ihre Wirksamkeit setzt Testierfähigkeit zum Zeitpunkt der Rücknahme voraus. Die Rücknahme unterliegt ferner der Anfechtung nach § 2078 BGB.


Zum Sachverhalt:

Die am 16.7.2003 verstorbene Erblasserin hinterließ zwei leibliche Abkömmlinge, die Beteiligte zu 1 und den Beteiligten zu 2. Mit notariellem Testament vom 21.10.1983 setzte die Erblasserin ihre Tochter, die Beteiligte zu 1, als Alleinerbin ein. Dieses Testament nahm die Erblasserin am 1.12.1992 aus der amtlichen Verwahrung zurück. Die Beteiligte zu 1 beantragte mit Schreiben vom 26.11.2003 die Erteilung eines Erbscheins, der sie als Alleinerbin ausweist. Als Begründung hierfür gab sie an, dass die Widerrufswirkung der Rücknahme aus der amtlichen Verwahrung nicht eingetreten sei, weil die Erblasserin zum Zeitpunkt der Rücknahme nicht testierfähig gewesen sei und sie unter psychischem Druck des Beteiligten zu 2 gehandelt habe. Ergänzend focht die Beteiligte zu 1 den Widerruf des Testaments durch Rücknahme aus der amtlichen Verwahrung wegen Irrtums und Drohung an. Der Beteiligte zu 2 beantragt die Erteilung eines Erbscheins aufgrund gesetzlicher Erbfolge, wonach als Erben die beiden Beteiligten je zur Hälfte berufen sind.

Für die Erblasserin war mit Beschluss vom 5.2.1993 die Beteiligte zu 1 als Betreuerin für die Aufgabenkreise Vermögenssorge sowie für die Geltendmachung von Ansprüchen auf Altersversorgung, Sozialhilfe, Unterhalt und Krankenversorgung bestellt worden. Die Betreuung bestand bis zu ihrem Ableben.

Mit Beschluss vom 21.1.2004 kündigte das Nachlassgericht die Erteilung eines Erbscheins an, wonach die Erblasserin von den Beteiligten zu 1 und 2 je zur Hälfte beerbt worden ist. Die Beteiligte zu 1 hat den amtsgerichtlichen Beschluss angefochten. Das Landgericht hat ohne Beweisaufnahme das Rechtsmittel mit Beschluss vom 17.9.2004 zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die weitere Beschwerde der Beteiligten zu 1, mit dem sie ihren Antrag auf Erteilung eines Erbscheins als Alleinerbin weiterverfolgt.

Aus den Gründen:
 
Das zulässige Rechtsmittel führt zur Aufhebung des landgerichtlichen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.
 
1. Das Landgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

Die Erblasserin habe das notarielle Testament vom 21.10.1983 durch Rücknahme aus der amtlichen Verwahrung wirksam widerrufen. Sie sei zu diesem Zeitpunkt testierfähig gewesen. Da die Störung der Geistestätigkeit die Ausnahme bilde, sei die Erblasserin bis zum Beweis des Gegenteils als testierfähig anzusehen. Dies gelte auch, wenn für den Erblasser ein Betreuer bestellt werde. Zwar habe das Vormundschaftsgericht für die Erblasserin eine Betreuerin bestellt; nach den im Betreuungsverfahren getroffenen Feststellungen sei sie aber in der Zeit der Rücknahme des Testaments aus der amtlichen Verwahrung nicht, auch nicht partiell, geschäftsunfähig gewesen. Ferner habe die Beteiligte zu 1 die Rücknahme des Testaments nicht wirksam angefochten. Für einen Inhalts- oder Erklärungsirrtum der Erblasserin habe die Beteiligte zu 1 keine Anhaltspunkte vorgetragen. Gleiches gelte für das Vorbringen der Beteiligten zu 1 zu dem Anfechtungsgrund der behaupteten Drohungen durch den Beteiligten zu 2 gegenüber seiner Mutter, um sie zu einer Testamentsänderung zu veranlassen. Insoweit fehle es an zureichendem Sachverhalt für die Annahme, dass Drohungen zur Rücknahme des Testaments aus der amtlichen Verwahrung geführt haben.

2. Die Entscheidung des Landgerichts hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand (§ 27 Abs. 1 FGG, § 546 ZPO).

a) Ein vor einem Notar errichtetes Testament gilt als widerrufen, wenn die in amtliche Verwahrung genommene Urkunde dem Erblasser übergeben wird (§ 2256 Abs. 1 Satz 1 BGB). Die Rücknahme eines notariellen Testaments aus amtlicher Verwahrung ist nach der Rechtsprechung des Senats und überwiegender Meinung auch eine Verfügung von Todes wegen (vgl. BGHZ 23, 207/211; BayObLGZ 1973, 35/36; Erman/Schmidt BGB 11. Aufl. § 2256 Rn. 1; MünchKommBGB/Hagena 4. Aufl. § 2256 Rn. 6; Palandt/Edenhofer BGB 64. Aufl. § 2256 Rn. 3; a.A.: Soergel/J. Mayer BGB 13. Aufl. § 2256 Rn. 7). Diese Rechtshandlung setzt zur Begründung ihrer Wirksamkeit folglich Testierfähigkeit voraus (vgl. BayObLG aaO; Erman/Schmidt aaO; MünchKomm-BGB/Hagena aaO; Palandt/Edenhofer aaO).

Das Landgericht war nicht gehalten, zur Frage der Testierfähigkeit der Erblasserin bei der Rücknahme des notariellen Testaments aus der amtlichen Verwahrung ergänzende Sachverhaltsermittlungen durchzuführen. Zwar lässt sich die Frage, ob die Erblasserin im Zeitpunkt der Rücknahmehandlung testierfähig gewesen ist oder nicht nach ständiger Rechtsprechung in der Regel nur mit Hilfe eines psychiatrischen Sachverständigen beantworten (vgl. BayObLGZ 1995, 383/391; BayObLG FamRZ 2001, 55/56). Allerdings ist die Hinzuziehung eines Sachverständigen nur erforderlich, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte Anlass besteht, an der Testierfähigkeit des Erblassers zu zweifeln. Ein solcher Sachverhalt ist hier nicht gegeben. Zwar wurde für die Erblasserin verhältnismäßig zeitnah zur Rücknahme des Testaments aus der amtlichen Verwahrung eine Betreuerin bestellt. Die Vorinstanzen durften sich aber für die Beurteilung der Testierfähigkeit der Erblasserin auf den im Rahmen des Betreuungsverfahrens erstellten Bericht des staatlichen Gesundheitsamts vom 20.1.1993 beziehen, wonach die Erblasserin durchaus in der Lage sei, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen und sie nicht, auch nicht partiell, geschäftsunfähig sei. Da keine Anhaltspunkte ersichtlich sind, dass diese Beurteilung nicht auch für den Zeitpunkt Anfang Dezember 1992 zutrifft, war eine weitere Aufklärung durch das Beschwerdegericht nicht veranlasst.

b) Demgegenüber können die Ausführungen des Beschwerdegerichts, dass die Beteiligte zu 1 keine hinreichenden Anhaltspunkte für einen Irrtum der Erblasserin bei der Rücknahme des Testaments aus der amtlichen Verwahrung vorgetragen habe, keinen Bestand haben. Es ist nach dem vorgetragenen Sachverhalt durchaus möglich, dass der Beteiligten zu 1 ein Anfechtungsgrund nach §§ 2078, 2080 Abs. 1 BGB zur Seite steht.

aa) Das Landgericht hat seiner Pflicht, den für die Umstände der Rücknahme des notariellen Testaments aus der amtlichen Verwahrung maßgeblichen Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 2358 BGB Abs. 1, § 12 FGG), nicht in vollem Umfang genügt. Der Grundsatz der Amtsermittlung verpflichtet das Tatsachengericht, alle zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlichen Ermittlungen durchzuführen und die geeignet erscheinenden Beweise zu erheben. Das bedeutet zwar nicht, dass allen Beweisanträgen der Beteiligten stattgegeben und allen denkbaren Möglichkeiten zur Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen nachgegangen werden müsste. Eine Aufklärungspflicht besteht aber insoweit, als das Vorbringen der Beteiligten und der festgestellte Sachverhalt aufgrund der Tatbestandsvoraussetzungen des materiellen Rechts bei sorgfältiger Überlegung zu weiteren Ermittlungen Anlass geben. Das Gericht darf seine Ermittlungen erst abschließen, wenn von einer weiteren Beweisaufnahme ein sachdienliches, die Entscheidung beeinflussendes Ergebnis nicht mehr zu erwarten ist (BGHZ 40, 54/57; BayObLGZ 1983, 153/161; Palandt/Edenhofer § 2358 Rn. 1).

bb) Gemessen an diesen Grundsätzen ist das Beschwerdegericht der Frage nicht zureichend nachgegangen, ob sich die Erblasserin bei der Rücknahme des notariellen Testaments aus der amtlichen Verwahrung am 1.12.1992 in einem Irrtum befunden hat, der einen Anfechtungsgrund nach § 2078 BGB begründen würde. Die Rücknahme eines Testaments aus der amtlichen Verwahrung unterliegt, da sie auch Verfügung von Todes wegen ist, der Anfechtung nach § 2078 BGB (vgl. BayObLG NJW-RR 1990, 1481/1482; Erman/Schmidt § 2256 Rn. 4; MünchKommBGB/Hagena § 2256 Rn. 11; Palandt/Edenhofer § 2256 Rn. 3; auch Soergel/J. Mayer § 2256 Rn. 10).

Die Beteiligte zu 1 hat in der Beschwerdeinstanz Umstände vorgetragen, die entgegen der Auffassung des Landgerichts einen Irrtum der Erblasserin bei der Rücknahme des Testaments am 1.12.1992 nicht fern liegend erscheinen lassen. Das in Kopie vorliegende Schreibens des Rechtsvertreters der Erblasserin vom 23.12.1992, wonach dieser den Beteiligten zu 2 darauf hinweist, seine Mandantin habe ein Testament zugunsten der Beteiligten zu 1 errichtet und nicht die Absicht, diese letztwillige Verfügung zu ändern, deutet darauf hin, dass die Erblasserin zeitnah zu der Rücknahmehandlung mit ihrem Rechtsanwalt die Regelung ihres Nachlasses besprochen haben muss. Das Beschwerdegericht hätte bei der zeitlichen Nähe der widerrufsbegründenden Rücknahme und der Wiedergabe der das Testament inhaltlich bestätigenden Haltung der Erblasserin in dem Schreiben des Rechtsanwalts H. die näheren Umstände der Rücknahme und der Mandatierung aufklären müssen. Es kann sich bei dem vorliegenden Sachverhalt sehr wohl ergeben, dass sich die Erblasserin bei der Rücknahme in einem Irrtum über die Rechtswirkungen ihrer Handlung befunden hat und bei deren zutreffender Kenntnis anders gehandelt hätte. Es fällt auf, dass in den Nachlassakten eine ordnungsgemäße Belehrung der Erblasserin über die Wirkungen der Rücknahme nach § 2256 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht aufzufinden ist. Soweit erkennbar, ist nicht versucht worden, die Akten über die Verwahrung des Testaments (vgl. § 27 AktO) beizuziehen und festzustellen, ob eine entsprechende Belehrung erfolgt ist (§ 27 Abs. 9 AktO). Das Landgericht wird dies nachzuholen haben und gegebenenfalls den damaligen Rechtsvertreter der Erblasserin als Zeugen zu den näheren Umständen der Haltung der Erblasserin zu ihrem notariellen Testament im Dezember 1992 zu befragen haben.

Die Annahme eines Irrtums bei der Erblasserin ist ferner deshalb nicht fern liegend, weil sie - worauf die Beteiligte zu 1 mehrfach hingewiesen hat - anlässlich der amtsärztlichen Untersuchung im Rahmen des Betreuungsverfahrens am 20.1.1993 dem Arzt des staatlichen Gesundheitsamts mitteilte, sie habe vor Jahren ein Testament angefertigt, in welchem sie ihre Tochter (die Beteiligte zu 1) als Haupterbin vorgesehen hätte, weil sie sich seit dem Tod ihres Mannes vermehrt um sie gekümmert habe. Die Erblasserin ging bei ihrer Mitteilung an den untersuchenden Arzt am 20.1.1993 offenbar davon aus, dass dieses Testament noch gültig sei. Über eine Rücknahme dieser letztwilligen Verfügung aus der amtlichen Verwahrung findet sich in der wiedergegebenen Exploration des Arztes nichts. Zwar ist zu berücksichtigen, dass bei der ärztlichen Untersuchung im Rahmen des Betreuungsverfahrens die Beteiligte zu 1 zugegen war und die Erblasserin möglicherweise die Rücknahme des Testaments nicht vertiefen wollte. Die Erblasserin hat im Rahmen der Untersuchung ihr Testament allerdings von sich aus angesprochen. Wäre ihr bewusst gewesen, dass das Testament nicht mehr gilt, und hätte sie die Beteiligte zu 1 nicht von der Rücknahme in Kenntnis setzen wollen, hätte sie das Thema gegenüber dem explorierenden Arzt nicht detailliert mit einem eindeutigen Inhalt ansprechen müssen.

Auffällig ist jedenfalls, dass weder das Schreiben des Rechtsvertreters der Erblasserin vom 23.12.1992 noch der Bericht über die Untersuchung vom 20.1.1993 den Umstand des bewussten Widerrufs auch nur andeuten, obwohl beide Ereignisse verhältnismäßig zeitnah zur Rücknahme des Testaments aus der amtlichen Verwahrung angesiedelt und in beiden schriftlichen Zeugnissen jeweils Aussagen zur Regelung des Nachlasses der Erblasserin enthalten sind.

3. Für das weitere Verfahren ist darauf hinzuweisen, dass der Geschäftswert des Beschwerdeverfahrens lediglich mit ein Viertel des Nachlasswertes angesetzt werden kann, da bei der Bewertung des Interesses der Beteiligten zu 1 am Erfolg ihres Rechtsmittels der Pflichtteilsanspruch des Beteiligten zu 2 in Höhe von ein Viertel des Nachlasswertes zu berücksichtigen ist.