Abgrenzung
zwischen Aufhebung einer letztwilligen Verfügung durch abweichende Verfügung
(§ 2258 I BGB) und Widerruf (§ 2254 BGB) eines früheren Testaments
BGH, Urteil
vom 08.07.1981 - IVa ZR 188/80
Fundstelle:
NJW 1981, 2745
Amtl. Leitsätze:
1. Zur Abgrenzung der Aufhebung eines
früheren Testaments gem. § 2258 I BGB von dem Widerruf eines früheren
Testaments gem. § 2254 BGB (Anschluß an LM § 2258 BGB Nr. 1).
2. Der Tatrichter darf sich seiner Aufgabe, eine Verfügung von Todes wegen
auszulegen, grundsätzlich nicht dadurch entledigen, daß er die
Schwierigkeiten, die der Feststellung des wirklichen Willens des Erblassers
entgegenstehen, aufzeigt und die Beseitigung der aufgekommenen Zweifel für
unmöglich erklärt.
Zum
Sachverhalt:
Die Bekl. sind
die ehelichen Töchter des am 1. 9. 1976 verstorbenen Erblassers und seiner
vorverstorbenen Ehefrau. Der Erblasser hatte sich vor vielen Jahren von
seiner Ehefrau getrennt und über 30 Jahre lang mit Frau H zusammengelebt.
Frau H ist am 11. 2. 1978 verstorben und von ihrer Schwester, der Kl.,
allein beerbt worden. Aufgrund Testaments des Erblassers vom 14. 12. 1965
sind dessen Erben zur Zeit unstreitig die Kl. und die Bekl. Die Kl. nimmt
die Bekl. auf Erfüllung von Vorausvermächtnissen in Anspruch, die der
Erblasser zu ihren Gunsten und zugunsten von Frau H ausgesetzt habe. Mit
Testament vom 9. 6. 1958 hatte der Erblasser für Frau H u. a. einen Betrag
im Werte von 150000 DM ausgesetzt, wobei sich dieser Betrag entsprechend
einer bestimmten Lohngruppe in der österreichischen Textilindustrie erhöhen
sollte und inzwischen auf ein Vielfaches angewachsen sein soll. Hiervon
verlangt die Kl. in ihrer Eigenschaft als Erbin der Vermächtnisnehmerin
einen Teilbetrag von 200000 DM nebst Zinsen. Außerdem begehrt die Kl.
Auflassung eines Grundstücks in S. (nebst Umschreibungsbewilligung), das der
Erblasser ihr mit Nachtrag I vom 31. 7. 1964 zu dem Testament vom 9. 6. 1958
vermacht hatte. Die Bekl. lassen beide Vermächtnisse nicht gelten. Der
Erblasser habe durch sein Testament vom 14. 12. 1965 seine sämtlichen
Verfügungen von Todes wegen aus der Zeit davor widerrufen und aufgehoben.
LG und OLG haben die Klageanträge für begründet gehalten. Die Revision
führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.
Aus den Gründen:
Das BerGer. geht davon aus, der Erblasser habe einen ausdrücklichen Widerruf
nicht erklärt. Es spreche zwar - wie im einzelnen dargelegt wird - einiges
dafür, daß der Erblasser seine früheren Verfügungen von Todes wegen im Jahre
1965 habe widerrufen wollen; eine gesicherte Feststellung dieses Willens
könne aber nicht getroffen werden. Angesichts des Bestrebens des Erblassers
nach Perfektion sei es vielmehr nahezu unvorstellbar, daß der Erblasser die
früheren Regelungen habe widerrufen wollen. Eine zweifelsfreie Auslegung des
Testaments von 1965 sei aber nicht möglich; deshalb müsse es bei dem
Grundsatz des § 2258 BGB verbleiben. Da die geltend gemachten Ansprüche
nicht in einem sachlichen Widerspruch zu der Erbeinsetzung von 1965 stünden,
seien die Klageansprüche begründet.
Diese
Ausführungen begegnen rechtlichen Bedenken.
Die auf das Testament vom 9. 6. 1958 und den Nachtrag vom 31. 7. 1964
gestützten Klageansprüche wären nicht begründet, wenn der Erblasser diese
Verfügungen von Todes wegen widerrufen (§§ 2253 ff. BGB) oder aufgehoben (§
2258 I BGB) hätte.
Widerrufen kann der Erblasser ein Testament (abgesehen von den hier nicht
in Betracht kommenden Fällen der §§ 2255 f. BGB) dadurch, daß er seinen
Willen, die frühere letztwillige Verfügung außer Kraft zu setzen, in einem
späteren Testament zum Ausdruck bringt (§ 2254 BGB). Das Gesetz
verlangt hier keinen ausdrücklichen Widerruf; vielmehr genügt es, wenn die
Widerrufsabsicht dem Testament im Wege der Auslegung entnommen werden kann
(BGH, NJW 1966, 201 = LM § 2254 BGB Nr. 1). Dabei hat der Tatrichter,
dem die Auslegung regelmäßig obliegt, nach den allgemeinen Grundsätzen der
Testamentsauslegung außer dem Wortlaut auch diejenigen Umstände außerhalb
des Testaments mit heranzuziehen, die zur Ermittlung des wirklichen Willens
des Erblassers von Bedeutung sein können. (Etwas anderes kommt entgegen
Rudolf Schmidt, JZ 1951, 745 f., auch in dem Urteil des BGH vom 10. 5. 1951,
NJW 1951, 559 = JZ 1951, 591 f., nicht zum Ausdruck.) Demgegenüber tritt die
Aufhebung gem. § 2258 I kraft Gesetzes ein. Sie setzt voraus, daß das
spätere Testament mit dem früheren in Widerspruch steht. Ist das der Fall,
dann ist das frühere Testament soweit aufgehoben, wie der Widerspruch
reicht, und zwar ohne daß es einer gerade auf diese Rechtsfolge gerichteten
Willenserklärung bedarf (BGH, LM § 2258 BGB Nr. 1). Ein Widerspruch in
diesem Sinne besteht einmal, wenn die Testamente sachlich miteinander nicht
vereinbar sind, also die getroffenen testamentarischen Anordnungen nicht
nebeneinander Geltung erlangen können, sondern einander entgegengesetzt sind
und sich dadurch gegenseitig ausschließen. Aber auch wenn die einzelnen
testamentarischen Anordnungen sachlich miteinander in Einklang stehen, kann
ein Widerspruch i. S. von § 2258 I BGB gegeben sein. Das ist der Fall, wenn
die kumulative Geltung der mehreren letztwilligen Verfügungen den in einem
späteren Testament zum Ausdruck kommenden Absichten des Erblassers
zuwiderliefe, etwa weil dieser seine Erbfolge mit seinem späteren Testament
abschließend und umfassend (ausschließlich) regeln wollte (BGH, LM §
2258 BGB Nr. 1; Heinsheimer, DJZ 1906, 796). Die insoweit gebotene Prüfung,
ob ein Widerspruch in dem einen oder anderen Sinne zwischen den
verschiedenen Testamenten besteht, macht es erforderlich, daß der Tatrichter
die Testamente je für sich nach den allgemeinen hierfür maßgebenden
Grundsätzen auslegt und sodann in einem zweiten Schritt die so ermittelten,
jeweiligen Willen des Erblassers zueinander in Beziehung setzt. Den hiernach
zu stellenden Anforderungen genügt das Berufungsurteil nicht.
1. Das Berufungsurteil hat sich zwar bemüht, durch Auslegung zu ermitteln,
ob der Erblasser seine früheren Verfügungen von Todes wegen mit seinem
Testament vom 14. 12. 1965 widerrufen wollte oder nicht (§ 2254 BGB). Es hat
seine Prüfung aber nicht zu einem Ergebnis geführt, sondern abgebrochen mit
der Begründung, eine zweifelsfreie Auslegung des Testaments von 1965 sei
nicht möglich. Dieses Vorgehen ist rechtlichen nicht zu billigen. Der
Tatrichter darf sich seiner Aufgabe, eine Verfügung von Todes wegen
auszulegen, grundsätzlich nicht dadurch entledigen, daß er die
Schwierigkeiten, die der Feststellung des wirklichen Willens des Erblassers
entgegenstehen, aufzeigt und die Beseitigung der aufgekommenen Zweifel für
unmöglich erklärt. Gerade die Auflösung solcher Zweifel ist der Zweck der
Auslegung. Dabei darf der Tatrichter nicht am buchstäblichen Sinn des
Wortlauts haften, sondern hat nach dem wirklichen Willen des Erblassers zu
forschen (§ 133 BGB). Gelingt es ihm dennoch - trotz Heranziehung aller zu
Aufdeckung des Erblasserwillens möglicherweise dienlichen Umstände - nicht,
sich von dem wirklichen Willen zu überzeugen, dann muß er sich notfalls
damit begnügen, den Sinn zu ermitteln, der dem (mutmaßlichen)
Erblasserwillen am ehesten entspricht. Daß das Testament von 1965 so
widersprüchlich oder unverständlich wäre, daß es ausgeschlossen erschiene,
einen vernünftigen Sinn daraus zu gewinnen, was in ganz besonders gelagerten
Ausnahmefällen vorkommen kann, hat auch das BerGer. nicht sagen wollen (vgl.
RG, JW 1916, 405 ff.).
2. Das BerGer. ist weiter der Auffassung, die verschiedenen Testamente des
Erblassers seien sachlich miteinander vereinbar. Es hat aber nicht
hinreichend geprüft, ob der Erblasser seine Erbfolge mit dem Testament von
1965 damals abschließend und umfassend regeln wollte und ob er diesem
Testament daher in diesem Sinne einen ausschließlichen Charakter beigelegt
hat. Auch insoweit bedarf es der Auslegung des Testaments von 1965, die
das BerGer. auch hier nicht vor der Gewinnung eines rechtlich möglichen
Ergebnisses abbrechen darf. Erst recht enthält § 2258 I BGB keinen
Grundsatz, der eingriffe, wenn die Auslegung nicht gelänge. Die geltend
gemachten Vermächtnisse können der Kl. nicht zugesprochen werden, solange
offenbleibt, ob die der Klage zugrunde liegenden Testamente aufgehoben oder
widerrufen sind oder nicht. |