Umfang der Pflicht zur Ermittlung des ausländischen Rechts (§ 293 ZPO)

BGH, Urteil v. 21.01.1991 - II ZR 50/90


Fundstellen

NJW 1991, 1418
IPRax 1992, 324 mit Anm. Kronke ebd. S. 303 ff
s. auch die Anm. zu BGH v. 23.6.2003, II ZR 305/01


Leitsatz:

Der Tatrichter genügt mit der im Regelfall zur Ermittlung ausländischen Rechts hinreichenden Einholung eines Gutachtens eines mit dem fremdem Recht vertrauten wissenschaftlichen Instituts dann nicht seiner aus § 293 ZPO folgenden Erforschungspflicht, wenn es entscheidend auf die ausländische Rechtspraxis ankommt und der Gutachter nicht über spezielle Kenntnisse derselben verfügt, vielmehr allein auf die Auswertung der ihm zugänglichen Literatur angewiesen ist.


Zum Sachverhalt:

Ein venezolanisches Schiff wurde am 21. 10. 1981 vom AG Bremen zwangsversteigert. Nach dem Verteilungsplan kommen - nach vorweg zu befriedigenden Kosten und Schiffsgläubigerrechten - die Bekl. mit ihren Rechten zum Zuge. Ihnen waren nach venezolanischem Recht sogenannte prendas navales (Schiffspfandrechte) bestellt worden, deretwegen die Bekl. zu 1 in voller Höhe und die Bekl. zu 2 teilweise aus dem Versteigerungserlös befriedigt werden sollen. Im übrigen sollen die Bekl. zu 2 und alle anderen Gläubiger - unter ihnen bis auf einen geringen Teil der angemeldeten Forderungen auch die T und ihre Schwesterfirma, die M - ausfallen. T und M haben gegen diesen Verteilungsplan Widerspruch und, da die Bekl. ihn nicht anerkannt haben, Klage nach § 115 ZVG, § 878 ZPO erhoben.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Seine in vollem Umfang eingelegte Berufung hat der Kl. hinsichtlich der Erhaltungsaufwendungen nicht begründet. Das BerGer. hat deswegen das Rechtsmittel insofern als unzulässig verworfen und es im übrigen zurückgewiesen. Die hiergegen gerichtete Revision führte - soweit die Berufung zurückgewiesen worden ist - zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das BerGer. Im übrigen blieb sie ohne Erfolg.
 

Aus den Gründen:

1. Das BerGer. hat von dem ihm eingeräumten Ermessen (st. Rspr. zuletzt Senat, NJW 1988, 647 = LM § 293 ZPO Nr. 14 m. w. Nachw.; ferner BGH, LM Art. 92 WG Nr. 1; NJW 1963, 252 = LM Art. 93 WG Nr. 2; NJW 1976, 1581 (1582 f.) = LM Art. 7 ff. EGBGB (Deutsches intern. Privatrecht) Nr. 42; NJW 1984, 2763 = LM § 293 ZPO Nr. 11 = IPrax 1985, 158 (159)), auf welche Weise es sich die Kenntnis des maßgeblichen venezolanischen Rechts über die Bestellung und den Rang von Schiffspfandrechten verschafft, nicht in verfahrensfehlerfreier Weise Gebrauch gemacht. Dies kann in der Revisionsinstanz ungeachtet der sonst bestehenden Bindung an die inhaltlichen Feststellungen des Tatsachengerichts ( §§ 549, 562 ZPO) gerügt und nachgeprüft werden (st. Rspr.; vgl. Senat, NJW 1988, 647 = LM § 293 ZPO Nr. 14).
Der Verfahrensfehler liegt darin, daß das BerGer. bei der von Amts wegen (BGHZ 77, 32 (38) = NJW 1980, 2022 = LM § 293 ZPO Nr. 9 L) vorzunehmenden Prüfung die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen über Inhalt und Rechtspraxis des venezolanischen Rechts nicht ausgeschöpft hat. Im Regelfall genügt der Tatrichter allerdings seiner aus § 293 ZPO folgenden Erforschungspflicht des ausländischen Rechts, wenn er das Gutachten eines mit den einschlägigen Fragen vertrauten wissenschaftlichen Instituts, z. B. - wie hier - des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht einholt und auf entsprechenden Antrag der Partei den Gutachter zur mündlichen Verhandlung lädt, damit dieser seine Ausführungen mündlich erläutern kann (vgl. Stein-Jonas-Leipold, ZPO, 20. Aufl., § 293 Rdnrn. 41, 43). Der vorliegende Fall weist aber Besonderheiten auf, die dem BerGer. Anlaß geben mußten, von den ihm von dem Kl. aufgezeigten weiteren Erkenntnismöglichkeiten Gebrauch zu machen.
Es geht nämlich im vorliegenden Fall nicht in erster Linie um die Feststellung der positivrechtlichen Bestimmungen des venezolanischen Schiffshypothekenrechts; vielmehr kommt es entscheidend darauf an, wie in der Rechtspraxis die prendas navales in der hier maßgeblichen Zeit zu Beginn der achtziger Jahre in Venezuela behandelt wurden. Über die erste Frage kann anhand der dem Max-Planck-Institut zur Verfügung stehenden Literatur unschwer Auskunft gegeben werden. Die Revision hat auch die von dem BerGer. übernommene Feststellung des Gutachters nicht angegriffen, daß sich in Venezuela auch vor dem Erlaß des Schiffshypothekengesetzes im Jahre 1983 die prenda naval als eine Art von Schiffspfandrecht ohne gesetzliche Grundlage entwickelt hat. Da für dieses Rechtsinstitut damals jedoch eindeutige gesetzliche Regeln fehlten, durfte sich das BerGer. nicht darauf beschränken, bestimmte Vorschriften des venezolanischen Handelsgesetzbuchs heranzuziehen. Es hätte vielmehr der Frage nachgehen müssen, wie die Rechtspraxis in Venezuela selbst war, und hätte beachten müssen, daß es zur hier einschlägigen Frage der Zulässigkeit von Mehrfachverpfändungen eines Schiffes keine Rechtsprechung gab.
Auf das Gutachten des Max-Planck-Instituts konnte es sich bei der Klärung dieser Frage nicht stützen. Der Verfasser desselben hat nämlich bei seiner Anhörung selbst angegeben, erstmals einen Fall aus dem venezolanischen Recht begutachtet zu haben und über keinerlei spezielle Kenntnisse dieses Rechts und vor allem der dort bestehenden Rechtspraxis zu verfügen. Danach hat er sich letztlich auf die Auswertung der ihm zugänglichen Literatur und die Auslegung der einschlägigen Gesetze beschränkt. Das reichte für die Ermittlung des ausländischen Rechts nicht aus. Denn der Richter der Tatsacheninstanz, den der Gutachter bei der Ermittlung des ausländischen Rechts unterstützen soll, darf sich nicht auf die naturgemäß an seinem eigenen Rechtsdenken orientierte Auslegung ausländischer Normen beschränken; er ist vielmehr gehalten, das Recht als Ganzes zu ermitteln, wie es sich in Rechtsprechung und Rechtslehre entwickelt hat und in der Praxis Anwendung findet (vgl. BGH, LM  Art. 92 WG Nr. 1; NJW 1963, 252 = LM Art. 93 WG Nr. 2; NJW 1976, 1581 (1582 f.) = LM Art. 7 ff. EGBGB (Deutsches intern. Privatrecht) Nr. 42; Stein-Jonas-Leipold, § 293 Rdnr. 58; Zöller-Geimer, ZPO, 16. Aufl., § 293 Rdnr. 20). Hier gewinnt neben dem Schweigen des Gesetzes und dem Fehlen einschlägiger Rechtsprechung besondere Bedeutung, daß sich aus dem vom Kl. vorgelegten Privatgutachten von Professorin Dr. M und der ihm beigefügten venezolanischen Literatur Hinweise darauf ergaben, daß selbst in der Rechtslehre und Rechtspraxis in Venezuela große Unsicherheit darüber bestanden hat, ob diese prendas navales internationale Anerkennung fänden und wie sie zu handhaben seien.
Gerade weil das BerGer. in seiner Entscheidung selbst darauf abstellt, daß zu der Rangfrage bei mehrfacher Verpfändung in Venezuela Verwirrung und Unklarheit besteht und diese zu einer Konfusion der Registerbeamten geführt hat, mußte es die weiteren ihm aufgezeigten Erkenntnismöglichkeit ausschöpfen. Es durfte nicht seine abstrakte Auslegung des ausländischen Rechts durch die von ihm festgestellten Eintragungen in einzelnen Hafenregistern bestätigt sehen. Vielmehr war es gehalten, der Frage nachzugehen, ob nicht diese Eintragungen gerade Folge der genannten Unsicherheit und Verwirrung der Registerbeamten waren und ob sie überhaupt in Venezuela rechtlich anerkannt wurden. Es liegt auf der Hand, daß z. B. die mit der venezolanischen Lehre und Rechtspraxis vertrauten Professoren der Zentraluniversität in Caracas eher als das BerGer. oder der Gutachter des Max-Planck-Instituts über die Spezialkenntnisse und Erkenntnisquellen verfügen, die erforderlich sind, um den Anwendungsbereich und die Tragweite eines der klaren positivrechtlichen Regelung entbehrenden venezolanischen Rechtsinstituts zu ermessen.
Bei sachgerechter Ausübung des ihm eingeräumten Ermessens hätte das BerGer. nach alledem im Hinblick auf die Besonderheiten des Falls nicht nur ein Obergutachten einholen, sondern auch die von dem Kl. zum Termin gestellte venezolanische Professorin Dr. M vernehmen müssen. Diese Vernehmung hätte dem BerGer. möglicherweise zusätzliche Erkenntnisse über die einschlägige Rechtspraxis in Venezuela vermittelt. Entsprechendes gilt für die Einholung eines Obergutachtens, so daß sich nicht ausschließen läßt, daß das BerGer. dann zu einem dem Kl. günstigen Ergebnis gelangt wäre. Daher kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben. Die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das BerGer. gibt ihm die Möglichkeit, das Versäumte nachzuholen.
2. Sollte das BerGer. aufgrund der ergänzenden Prüfung erneut zu dem Ergebnis gelangen, daß die besitzlosen prendas navales nach venezolanischem Recht wirksam bestellt worden sind, dann ist ihr Rang im Verhältnis zu den weiter angemeldeten Rechten im inländischen Zwangsversteigerungsverfahren nach deutschem Recht zu beurteilen (vgl. Staudinger-Stoll, 12. Aufl., Intern. SachenR, Rdnrn. 325, 334 m. w. Nachw.; Kreuzer, in: MünchKomm, 2. Aufl., Nach Art. 38 EGBGB Anh. I Rdnrn. 146, 154, 156).
Auf einen Verstoß gegen den ordre public (Art. 30 AGBGB a. F.) könnte sich der Kl. in diesem Fall nicht berufen. Ein im Ausland wirksam an einem ausländischen Schiff begründetes Schiffspfandrecht ist in Deutschland vielmehr auch dann anzuerkennen, wenn es weder in einem Register eingetragen ist, noch nach dem maßgeblichen Auslandsrecht einen bestimmten Rang hat.
Zwar hat das RG in einer vereinzelt gebliebenen Entscheidung aus dem Jahre 1912 (RGZ 80, 129) ausgesprochen, daß eine in Rußland bestellte und lediglich in dem vom Schiff mitgeführten Flaggenattest vermerkte Verpfändung dem deutschen ordre public widerspreche. Es hat gemeint, die Verpfändung entbehre der zu ihrer Wirksamkeit erforderlichen Publizität, weil weder eine Besitzübergabe stattfinde, noch statt dessen eine Eintragung in ein jedermann zugängliches Register vorgenommen werde. Demgegenüber ist in Erkenntnissen des früheren ROHG (ROHG 6, 80) und der RG (RGZ 45, 276 (278)) nach preußischem bzw. nach niederländischem Recht begründeten besitzlosen und nicht eingetragenen Schiffspfandrechten die Anerkennung nicht versagt worden. Auch das Schrifttum lehnt die Anwendung des Art. 30 EGBGB a. F. auf derartige Schiffspfandrechte einhellig ab (Abraham, Die Schiffshypothek im deutschen und ausländischen Recht, 1950, S. 313 f.; Raape, Intern. PrivatR, 5. Aufl. (1961), S. 623; Stoll, RabelsZ 1974, 450, 464, 466; Staudinger-Stoll, Rdnr. 324; Kreuzer, in: MünchKomm, Rdnr. 146). Der zu engen Auffassung des RG in der genannten Entscheidung ist nicht zu folgen. Der Senat verkennt nicht, daß die Publizitätsvorschriften, die das deutsche Recht und die internationalen Abkommen über Vorzugsrechte und Schiffshypotheken (vgl. Schaps-Abraham, SeeR, 4. Aufl., vor § 754 Rdnrn. 36 f.) enthalten, wegen der Erkennbarkeit der Pfandbestellung durchaus sachgerecht sind. Dies rechtfertigt jedoch nicht, ausländischen Schiffspfandrechten die Anerkennung zu versagen, die diesen Publizitätsvorschriften nicht genügen, deren Bestehen aber in anderer Weise nachgewiesen ist. Denn eine Anwendung des Art. 30 EGBGB a. F. käme nur dann in Betracht, wenn die ausländische Regelung den Grundgedanken des deutschen Rechts und den ihm zugrundeliegenden Gerechtigkeitsvorstellungen so sehr widerspräche, daß sie untragbar erscheint (st. Rspr. zu Art. 30 EGBGB a. F., vgl. BGHZ 50, 370 (375 f.) = NJW 1969, 369 = LM Art. 22 EGBGB Nr. 2). Hiervon kann keine Rede sein. Im Gegenteil ist auch dem deutschen Recht die Anerkennung besitzloser, nicht eingetragener Pfandrechte an Schiffen nicht fremd, wie die in §§ 754 ff. HGB geregelten Schiffsgläubigerrechte zeigen, die im Falle der Zwangsvollstreckung sogar Vorrang vor früher im Schiffsregister eingetragenen Hypotheken genießen ( § 761 HGB).
Ein Verstoß gegen den ordre public läge auch dann nicht vor, wenn das BerGer. erneut zu der Auffassung gelangen würde, die nach venezolanischem Recht begründeten prendas navales der Bekl. seien ranglose Rechte. Schon im Ansatz ist der Revision nicht darin zu folgen, daß ein rangloses Pfandrecht wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widerspricht. Dabei bedarf es keiner grundsätzlichen Erörterung der Frage, ob der Rang eines Pfandrechts wegen seiner Verdrängungswirkung gegenüber konkurrierenden Rechten seinen wirtschaftlichen Wert ausmacht (vgl. dazu Staudinger-Kutter, BGB, 12. Aufl., § 879 Rdnrn. 2 f.). Denn für Pfandrechte an Schiffen könnte dieser Grundsatz keinesfalls als richtig anerkannt werden. Gegenüber dem als gesetzliches Pfandrecht entstehenden und nach § 761 HGB in jedem Fall vorrangig zu befriedigenden Schiffsgläubigerrecht des § 754 HGB versagt der Verdrängungswert einer eingetragenen Hypothek (vgl. auch Prüßmann-Rabe, SeehandelsR, 2. Aufl., § 761 B); sie kann hierdurch wirtschaftlich völlig wertlos werden.
Im übrigen kann das Zusammentreffen von ranglosen, zur pro rata-Berechtigung führenden ausländischen Schiffspfandrechten mit einem anschließend im Wege der Zwangsvollstreckung nach deutschem Recht begründeten Pfandrecht nicht zu einem Verstoß gegen  Art. 30 EGBGB a. F. führen. Wird das Schiff in Deutschland versteigert, findet deutsches Recht Anwendung. Demnach wird nicht nur die Versteigerung selbst, sondern auch die anschließende Verteilung des Erlöses nach dem Inlandsrecht (lex fori) vorgenommen (vgl. Staudinger-Stoll, Rdnr. 325; Abraham, S. 316 f.; Schaps-Abraham, SeeR, 3. Aufl., § 8 SchRG Rdnr. 119; Kreuzer, in: MünchKomm, Nach Art. 38 EGBGB Anh. I Rdnrn. 156 f.). Dabei geht - wie Raape (S. 623) als selbstverständlich voraussetzt - das in Deutschland begründete Pfändungspfandrecht dem zuvor nach ausländischem Recht bestellten Schiffspfandrecht nach. Im vorliegenden Fall behalten dann die vor der Arrestpfändung von M und T bestellten prendas navales ihren "Verdrängungswert". Untereinander mögen sie zwar entgegen den Vorstellungen, die bei ihrer Bestellung bestanden haben, nicht im Rangverhältnis, sondern auf gleicher Stufe stehen und demgemäß anteilig zu befriedigen sein. Die deutschen Arrestpfandrechte können jedoch - unabhängig davon, ob sich die prendas navales eine Rangstelle teilen oder in einem Stufenverhältnis zueinander stehen - erst dann zum Zuge kommen, wenn die angemeldeten Forderungen der Bekl. vollständig ausgeglichen sind. Daß in dieser Lage die Anerkennung der ranglosen Schiffspfandrechte zu einem dem Gerechtigkeitsgehalt deutschen Rechts widersprechenden Ergebnis führen würde, ist nicht anzuerkennen.
3. Von der Aufhebung des Berufungsurteils unberührt bleibt die angefochtene Entscheidung, soweit das Rechtsmittel des Kl. wegen fehlender Berufungsbegründung verworfen worden ist. Diese - auch von der Revision nicht gerügte - Verfahrensweise läßt Rechtsfehler nicht erkennen. Zu Unrecht meint die Revision darüber hinaus, das BerGer. habe versäumt, über den Hilfsantrag zu befinden. Zwar hat das OLG zu den Erhaltungsaufwendungen im Zusammenhang mit der Hauptforderung nicht ausdrücklich Stellung genommen. Aus dem Gesamtzusammenhang seiner Ausführungen ergibt sich aber unzweifelhaft, daß dieser Teil des Begehrens nach Meinung des BerGer. ebenso unbegründet ist wie die Hauptforderung selbst, der lediglich ein den prendas navales nachgehender Rang zuerkannt wird.