Objektiver Umfang der materiellen Rechtskraft: Bedeutung der Urteilsgründe, Rechtskraft des "kontradiktorischen Gegenteils"

BGH, Urteil v. 11.11.1994  - V ZR 46/93 (Nürnberg)


Fundstellen:

NJW 1995, 967
LM H. 4/1995 § 322 ZPO Nr. 139
WM 1995, 266
FamRZ 1995, 224
MDR 1995, 953
ZEV 1995, 108



Amtl. Leitsatz:

Zur Präklusion von Tatsachen in einem Rechtsstreit über die Auflassung von Grundstücken aufgrund einer vertraglichen Übertragung zu Lebzeiten des Erblassers, die bereits in einem früheren Verfahren umgekehrten Rubrums über einen Vermächtnisanspruch aus dem gleichen Lebenssachverhalt hätten vorgebracht werden können.


Zum Sachverhalt:

Der 1987 verstorbene Erblasser setzte mit Erbvertrag vom 6. 12. 1983 den Kl. unter endgültiger Zuwendung von ausdrücklich genannten Grundstücken als Alleinerben ein. Den "gesetzlichen Erben" wandte er den Grundbesitz zu, den nicht ausdrücklich der Alleinerbe erhalten sollte. Die beiden umstrittenen Grundstücke sind im Erbvertrag nicht erwähnt. Der Erblasser übertrug sie 1979/1981 und 1983 auf den Kl. Dieser und seine mit ihm in Gütergemeinschaft lebende Ehefrau wurden nach dem Tod des Erblassers als Eigentümer sämtlicher "Nachlaßgrundstücke" im Grundbuch eingetragen. Durch rechtskräftiges Urteil vom 22. 6. 1990 wurden der Kl. und seine Ehefrau als damalige Bekl. verpflichtet, unter anderem die beiden jetzt wieder umstrittenen Grundstücke aufgrund eines Vermächtnisanspruches der Bekl. und damaligen Kl. an diese aufzulassen. Die Übertragungen zu Lebzeiten des Erblassers in den Jahren 1979/1981 und 1983 sind in diesem Verfahren von den Parteien nicht vorgetragen worden. Im vorliegenden Verfahren verlangen die jetzigen Kl. die Rückauflassung der beiden Grundstücke von den Bekl. "aufgrund der vertraglichen Übertragungen" durch den Erblasser.
Das LG hat die Klage als unzulässig abgewiesen, weil die Frage, an wen aufzulassen ist, zwischen den Parteien bereits rechtskräftig entschieden worden sei und die Übertragungen zu Lebzeiten des Erblassers dem Kl. bekannt gewesen seien; eine sittenwidrige Schädigung sei nicht ersichtlich. Auf die Berufung der Kl. hat das OLG diese Entscheidung abgeändert und die Bekl. zur Auflassung der beiden Grundstücke an die Kl. verurteilt. Die Revision der Bekl. hatte Erfolg.

Aus den Gründen:

I. Das BerGer. ist der Auffassung, die Klage sei zulässig und begründet. Die Rechtskraft des früheren Urteils stehe nicht entgegen. Denn dadurch stehe lediglich fest, daß die Kl. zur Auflassung an die Vermächtnisnehmer verpflichtet seien, nicht aber, daß die Grundstücke auch Gegenstand des Vermächtnisses sind. Dies sei wegen der Übertragung zu Lebzeiten des Erblassers nicht mehr der Fall. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
II. 1. Zu Recht geht das BerGer. allerdings davon aus, daß Urteile der Rechtskraft nach § 322 I ZPO nur insoweit fähig sind, als über den durch die Klage oder Widerklage erhobenen Anspruch entschieden ist. Damit sind der Rechtskraft bewußt enge Schranken gezogen. Die Urteilselemente, die bedingenden Rechte und Gegenrechte sollen nicht von der Rechtskraft erfaßt werden. Sie wird vielmehr auf den unmittelbaren Gegenstand des Urteils, das heißt auf diejenige Rechtsfolge, die aufgrund einer Klage oder Widerklage beim Schluß der mündlichen Verhandlung den Gegenstand der Entscheidung bildet, beschränkt. Die tatsächlichen Feststellungen als solche erwachsen nicht in Rechtskraft. Der Gegenstand der Rechtskraft beschränkt sich auf das Bestehen oder Nichtbestehen der geltend gemachten Rechtsfolge aufgrund des vorgetragenen Tatsachenkomplexes (BGH, NJW 1976, 1095 m.w.Nachw. = LM § 322 ZPO Nr. 79 = FamRZ 1976, 146 m.Anm. Schwab, S. 268). Um zu erkennen, welche Entscheidung das Gericht in einem rechtskräftigen Urteil getroffen hat, ist zunächst von der Urteilsformel auszugehen. Soweit sie aber allein nicht ausreicht, um den Rechtskraftgehalt der Entscheidung zu erfassen, sind auch der Tatbestand und die Entscheidungsgründe heranzuziehen (BGH, NJW 1976, 1095 = LM § 322 ZPO Nr. 79).
2. Die Auffassung des BerGer., die Rechtskraft des Vorurteils stehe seiner Entscheidung nicht im Wege, ist nicht zutreffend. Die Bezugnahme auf das Urteil des BGH (NJW 1976, 1095 = LM § 322 ZPO Nr. 79) trägt im vorliegenden Fall dieses Ergebnis nicht. Denn nach dem in dieser Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt war der Streitgegenstand schon ein anderer, weil bereits nach den Anträgen im ersten Verfahren eine inhaltlich anders lautende Erklärung verlangt worden war. Im vorliegenden Fall ist dagegen davon auszugehen, daß zumindest hinsichtlich der Anträge Identität im Sinne eines "kontradiktorischen Gegenteils" besteht. Denn in beiden Verfahren wird für die zwei umstrittenen Grundstücke von den Parteien jeweils die Auflassung als die in Anspruch genommene Rechtsfolge konkretisiert und beantragt.
Eine Identität des Streitgegenstandes liegt aber auch dann vor, wenn der frühere Bekl. nunmehr den Streit in seiner Umkehrung erneut anhängig macht und das "kontradiktorische Gegenteil" der im ersten Prozeß ausgesprochenen Rechtsfolgen begehrt. Denn die rechtskräftige Feststellung einer Rechtsfolge enthält zugleich die Feststellung, daß das "kontradiktorische Gegenteil" nicht gegeben sei. Wird dem Kl. ein Recht zugesprochen, das wie das Eigentum nur einer Partei zustehen kann, ist damit zugleich festgestellt, daß der Bekl. nicht  Inhaber des Rechts ist (BGH,NJW 1993, 2694 m.w.Nachw. = LM H. 12/1993 § 322 ZPO Nr. 135 = WM 1993, 1809 (1810)). Das gleiche gilt für den Anspruch auf Übertragung des Eigentums. Das BerGer. stellt demgegenüber auf die Vorfrage ab, die für das Bestehen der jeweils beanspruchten Rechtsfolgen, die hier auf Vermächtnis, ungerechtfertigter Bereicherung oder Vertrag beruhen können, von Bedeutung sind. Allein diese Unterscheidung ist im vorliegenden Zusammenhang nicht maßgeblich. Ein Auflassungsanspruch aus Vermächtnis setzt voraus, daß ein Vermächtnis vorliegt und die Grundstücke noch zum Nachlaß gehören (vgl. §§ 2169 IV, 2288, 2149, 2087 II, 2085 BGB), ein Anspruch auf Rückauflassung nach §§ 812ff. BGB käme bei einem unwirksamen Vermächtnis in Betracht. In beiden Verfahren mögen diese Vorfragen als solche von Bedeutung sein, als bloße "Urteilselemente" nehmen sie aber nicht an der Rechtskraft teil (vgl. BGH, NJW 1993, 2694 m.w.Nachw. = LM H. 12/1993 § 322 ZPO Nr. 135 m.w. Nachw.).
3. Das BerGer. hat nicht beachtet, daß das vorliegende Verfahren nicht auf einen anderen, selbständigen und im Vorprozeß nicht vorgetragenen Lebenssachverhalt gestützt ist, aus dem die nunmehr begehrte Rechtsfolge hergeleitet wird. Auch wenn die tatsächlichen Feststellungen in einem Urteil nicht in Rechtskraft erwachsen, darf die Rechtskraft einer Entscheidung über den erhobenen Anspruch nicht mit dem Vorbringen ausgehöhlt werden, das rechtskräftige Urteil gründe sich auf unrichtige tatsächliche Feststellungen. Zu den Rechtskraftwirkungen gehört aus diesem Grunde die Präklusion nicht nur im ersten Prozeß vorgetragener Tatsachen, die zu einer Abweichung von der rechtskräftig festgestellten Rechtsfolge führen sollen, sondern auch der nicht vorgetragenen Tatsachen, sofern sie nicht erst nach Schluß der mündlichen Verhandlung im ersten Prozeß entstanden sind (st.Rspr., vgl. BGHZ 98, 353 (358f.) m.w.Nachw. = NJW 1987, 1201 = LM § 323 ZPO Nr. 53).
a) Maßgeblich ist insoweit das ganze einem Klageantrag zugrundeliegende tatsächliche Geschehen, das bei natürlicher Betrachtungsweise nach der Verkehrsauffassung zusammengehört. Ausgeschlossen sind danach also Tatsachen, die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden Betrachtung zu dem durch ihren Sachvortrag zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehört hätten (vgl. BGH,NJW 1993, 2684 = LM § 322 ZPO Nr. 135 = WM 1993, 1809 (1810); BGH, NJW 1993, 3204 = LM § 322 ZPO Nr. 136 = BGHRZPOO § 322 Abs. 1 - Schaden 1; BGH, NJW-RR 1991, 1279 = WM 1991, 609 (610); vgl. ferner BGHZ 93, 287ff. = NJW 1985, 1711 = LM § 322 ZPO Nr. 103 m.Anm. Hagen; BGH, NJW 1986, 1046 = LM § 322 ZPO Nr. 109; BGH, NJW 1986, 2508 = LM § 322 ZPO Nr. 111; BGH, LM § 322 ZPO Nr. 123; BGH, NJW 1992, 1172 = LM § 322 ZPO Nr. 133 m. Anm. Grunsky; BayObLGZ 1988, 426 (429ff.)). So liegt der Fall hier.
b) Werden Grundstücke übertragen oder soll dies geschehen, so gehören sämtliche die Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts betreffenden Vorgänge zu dem zur Entscheidung gestellten Lebenssachverhalt, ob sie vorgetragen worden sind oder nicht. Mit dem Rechtsfrieden stiftenden Zweck der Rechtskraft wäre es unvereinbar, wenn eine Partei nach Rechtskraft eines Urteils dieses sogleich wieder mit der Behauptung in Frage stellen dürfte, ein bekannt gewesener anderer Übertragungsvorgang sei nicht vorgetragen worden. Im vorliegenden Fall hingen die gesamten "Übertragungsvorgänge" zwischen dem Erblasser und dem Kl. zusammen. Hinsichtlich des einen Grundstücks wurde der Überlassungsvertrag sogar zum gleichen Zeitpunkt wie der Erbvertrag geschlossen. Nähere Einzelheiten über die Zusammenhänge und Motive für die Übertragungen sind dem Vortrag der Parteien in beiden Verfahren zwar nicht genau zu entnehmen. Fest steht aber, daß sie in den persönlichen Beziehungen zwischen dem Erblasser und dem Kl. lagen. Damit liegt ein einheitlicher Lebenssachverhalt vor, der sich in einem Erbvertrag und zwei weiteren Übertragungsvereinbarungen niedergeschlagen hat.
c) Damit greifen die allgemeinen Regeln über die aus der Rechtskraft folgende Tatsachenpräklusion ein. Danach konnten die Übertragungsvereinbarungen, als frühere schon vorhandene Tatsachen, die mit dem Prozeßstoff des Vorprozesses in Zusammenhang stehen und den dortigen Tatsachenfeststellungen zum Vermächtnisanspruch widersprechen, grundsätzlich nicht mehr mit dem Ziel vorgetragen werden, daß das "kontradiktorische Gegenteil" der früheren festgestellten Rechtsfolge ausgesprochen wird (vgl. BGHZ 98, 353 (358f.) = NJW 1987, 1201 = LM § 323 ZPO Nr. 53; vgl. auch BGHZ 117, 1 (4ff.) = NJW 1992, 1172 = LM § 322 ZPO Nr. 133 m. Anm. Grunsky; BGH, NJW 1993, 2694 = LM § 322 ZPO Nr. 135 = WM 1993, 1809 (1810); NJW 1993, 3204 = LM § 322 ZPO Nr. 136 = BGHRZPOO § 322 I - Schaden 1).
4. Die Nichtberücksichtigung der Übertragungsvereinbarungen im ersten Verfahren kann von den Kl. auch nur mit einer angeblichen "Nachlässigkeit" des damaligen Prozeßbevollmächtigten erklärt werden. Damit steht einer Berufung der Bekl. auf die Rechtskraft der Entscheidung des Vorprozesses auch der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht entgegen. Besondere Umstände, die dies rechtfertigen könnten (vgl. BGH, NJW 1993, 3204 = LM § 322 ZPO Nr. 136 = BGHRZPOO § 322 I - Schaden 1), sind jedenfalls nicht ersichtlich.
5. Das Berufungsurteil ist aufzuheben, denn es stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar. Die materielle Rechtskraft steht einer der Klage stattgebenden Entscheidung im Wege. Eine Zurückverweisung kommt nicht in Betracht, weil der Rechtsstreit nach dem festgestellten Sachverhalt zur Endentscheidung reif ist. Aus dem Berufungsurteil ergibt sich ein Sachverhalt, der eine verwertbare rechtliche Grundlage für eine rechtliche Beurteilung bietet; bei Zurückverweisung der Sache erscheint ein anderes Ergebnis nicht möglich. Die Berufung ist zurückzuweisen, weil die Klageabweisung des LG im Ergebnis richtig ist.