NJW 1995, 967
LM H. 4/1995 § 322 ZPO Nr. 139
WM 1995, 266
FamRZ 1995, 224
MDR 1995, 953
ZEV 1995, 108
Zur Präklusion von Tatsachen in einem Rechtsstreit
über die Auflassung von Grundstücken aufgrund einer vertraglichen
Übertragung zu Lebzeiten des Erblassers, die bereits in einem früheren
Verfahren umgekehrten Rubrums über einen Vermächtnisanspruch
aus dem gleichen Lebenssachverhalt hätten vorgebracht werden können.
Der 1987 verstorbene Erblasser setzte mit Erbvertrag
vom 6. 12. 1983 den Kl. unter endgültiger Zuwendung von ausdrücklich
genannten Grundstücken als Alleinerben ein. Den "gesetzlichen Erben"
wandte er den Grundbesitz zu, den nicht ausdrücklich der Alleinerbe
erhalten sollte. Die beiden umstrittenen Grundstücke sind im Erbvertrag
nicht erwähnt. Der Erblasser übertrug sie 1979/1981 und 1983
auf den Kl. Dieser und seine mit ihm in Gütergemeinschaft lebende
Ehefrau wurden nach dem Tod des Erblassers als Eigentümer sämtlicher
"Nachlaßgrundstücke" im Grundbuch eingetragen. Durch rechtskräftiges
Urteil vom 22. 6. 1990 wurden der Kl. und seine Ehefrau als damalige Bekl.
verpflichtet, unter anderem die beiden jetzt wieder umstrittenen Grundstücke
aufgrund eines Vermächtnisanspruches der Bekl. und damaligen Kl. an
diese aufzulassen. Die Übertragungen zu Lebzeiten des Erblassers in
den Jahren 1979/1981 und 1983 sind in diesem Verfahren von den Parteien
nicht vorgetragen worden. Im vorliegenden Verfahren verlangen die jetzigen
Kl. die Rückauflassung der beiden Grundstücke von den Bekl. "aufgrund
der vertraglichen Übertragungen" durch den Erblasser.
Das LG hat die Klage als unzulässig abgewiesen,
weil die Frage, an wen aufzulassen ist, zwischen den Parteien bereits rechtskräftig
entschieden worden sei und die Übertragungen zu Lebzeiten des Erblassers
dem Kl. bekannt gewesen seien; eine sittenwidrige Schädigung sei nicht
ersichtlich. Auf die Berufung der Kl. hat das OLG diese Entscheidung abgeändert
und die Bekl. zur Auflassung der beiden Grundstücke an die Kl. verurteilt.
Die Revision der Bekl. hatte Erfolg.
Aus den Gründen:
I. Das BerGer. ist der Auffassung, die Klage sei
zulässig und begründet. Die Rechtskraft des früheren Urteils
stehe nicht entgegen. Denn dadurch stehe lediglich fest, daß die
Kl. zur Auflassung an die Vermächtnisnehmer verpflichtet seien, nicht
aber, daß die Grundstücke auch Gegenstand des Vermächtnisses
sind. Dies sei wegen der Übertragung zu Lebzeiten des Erblassers nicht
mehr der Fall. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
II. 1. Zu Recht geht das BerGer. allerdings
davon aus, daß Urteile der Rechtskraft nach § 322 I ZPO nur
insoweit fähig sind, als über den durch die Klage oder Widerklage
erhobenen Anspruch entschieden ist. Damit sind der Rechtskraft bewußt
enge Schranken gezogen. Die Urteilselemente, die bedingenden Rechte und
Gegenrechte sollen nicht von der Rechtskraft erfaßt werden. Sie wird
vielmehr auf den unmittelbaren Gegenstand des Urteils, das heißt
auf diejenige Rechtsfolge, die aufgrund einer Klage oder Widerklage beim
Schluß der mündlichen Verhandlung den Gegenstand der Entscheidung
bildet, beschränkt. Die tatsächlichen Feststellungen als solche
erwachsen nicht in Rechtskraft. Der Gegenstand der Rechtskraft beschränkt
sich auf das Bestehen oder Nichtbestehen der geltend gemachten Rechtsfolge
aufgrund des vorgetragenen Tatsachenkomplexes (BGH, NJW 1976, 1095
m.w.Nachw. = LM § 322 ZPO Nr. 79 = FamRZ 1976, 146 m.Anm. Schwab,
S. 268). Um zu erkennen, welche Entscheidung das Gericht in einem rechtskräftigen
Urteil getroffen hat, ist zunächst von der Urteilsformel auszugehen.
Soweit sie aber allein nicht ausreicht, um den Rechtskraftgehalt der Entscheidung
zu erfassen, sind auch der Tatbestand und die Entscheidungsgründe
heranzuziehen (BGH, NJW 1976, 1095 = LM § 322 ZPO Nr. 79).
2. Die Auffassung des BerGer., die Rechtskraft
des Vorurteils stehe seiner Entscheidung nicht im Wege, ist nicht zutreffend.
Die Bezugnahme auf das Urteil des BGH (NJW 1976, 1095 = LM § 322 ZPO
Nr. 79) trägt im vorliegenden Fall dieses Ergebnis nicht. Denn nach
dem in dieser Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt war der Streitgegenstand
schon ein anderer, weil bereits nach den Anträgen im ersten Verfahren
eine inhaltlich anders lautende Erklärung verlangt worden war.
Im vorliegenden Fall ist dagegen davon auszugehen, daß zumindest
hinsichtlich der Anträge Identität im Sinne eines "kontradiktorischen
Gegenteils" besteht. Denn in beiden Verfahren wird für die zwei umstrittenen
Grundstücke von den Parteien jeweils die Auflassung als die in Anspruch
genommene Rechtsfolge konkretisiert und beantragt.
Eine Identität des Streitgegenstandes
liegt aber auch dann vor, wenn der frühere Bekl. nunmehr den Streit
in seiner Umkehrung erneut anhängig macht und das "kontradiktorische
Gegenteil" der im ersten Prozeß ausgesprochenen Rechtsfolgen begehrt.
Denn die rechtskräftige Feststellung einer Rechtsfolge enthält
zugleich die Feststellung, daß das "kontradiktorische Gegenteil"
nicht gegeben sei. Wird dem Kl. ein Recht zugesprochen, das wie das Eigentum
nur einer Partei zustehen kann, ist damit zugleich festgestellt, daß
der Bekl. nicht Inhaber des Rechts ist (BGH,NJW 1993, 2694 m.w.Nachw.
= LM H. 12/1993 § 322 ZPO Nr. 135 = WM 1993, 1809 (1810)). Das
gleiche gilt für den Anspruch auf Übertragung des Eigentums.
Das BerGer. stellt demgegenüber auf die Vorfrage ab, die für
das Bestehen der jeweils beanspruchten Rechtsfolgen, die hier auf Vermächtnis,
ungerechtfertigter Bereicherung oder Vertrag beruhen können, von Bedeutung
sind. Allein diese Unterscheidung ist im vorliegenden Zusammenhang nicht
maßgeblich. Ein Auflassungsanspruch aus Vermächtnis setzt voraus,
daß ein Vermächtnis vorliegt und die Grundstücke noch zum
Nachlaß gehören (vgl. §§ 2169 IV, 2288, 2149, 2087
II, 2085 BGB), ein Anspruch auf Rückauflassung nach §§ 812ff.
BGB käme bei einem unwirksamen Vermächtnis in Betracht. In beiden
Verfahren mögen diese Vorfragen als solche von Bedeutung sein, als
bloße "Urteilselemente" nehmen sie aber nicht an der Rechtskraft
teil (vgl. BGH, NJW 1993, 2694 m.w.Nachw. = LM H. 12/1993 § 322 ZPO
Nr. 135 m.w. Nachw.).
3. Das BerGer. hat nicht beachtet, daß das
vorliegende Verfahren nicht auf einen anderen, selbständigen und im
Vorprozeß nicht vorgetragenen Lebenssachverhalt gestützt ist,
aus dem die nunmehr begehrte Rechtsfolge hergeleitet wird. Auch wenn die
tatsächlichen Feststellungen in einem Urteil nicht in Rechtskraft
erwachsen, darf die Rechtskraft einer Entscheidung über den erhobenen
Anspruch nicht mit dem Vorbringen ausgehöhlt werden, das rechtskräftige
Urteil gründe sich auf unrichtige tatsächliche Feststellungen.
Zu den Rechtskraftwirkungen gehört aus diesem Grunde die Präklusion
nicht nur im ersten Prozeß vorgetragener Tatsachen, die zu einer
Abweichung von der rechtskräftig festgestellten Rechtsfolge führen
sollen, sondern auch der nicht vorgetragenen Tatsachen, sofern sie nicht
erst nach Schluß der mündlichen Verhandlung im ersten Prozeß
entstanden sind (st.Rspr., vgl. BGHZ 98, 353 (358f.) m.w.Nachw. = NJW 1987,
1201 = LM § 323 ZPO Nr. 53).
a) Maßgeblich ist insoweit das ganze einem
Klageantrag zugrundeliegende tatsächliche Geschehen, das bei natürlicher
Betrachtungsweise nach der Verkehrsauffassung zusammengehört. Ausgeschlossen
sind danach also Tatsachen, die bei einer natürlichen, vom Standpunkt
der Parteien ausgehenden Betrachtung zu dem durch ihren Sachvortrag zur
Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehört hätten (vgl.
BGH,NJW 1993, 2684 = LM § 322 ZPO Nr. 135 = WM 1993, 1809 (1810);
BGH, NJW 1993, 3204 = LM § 322 ZPO Nr. 136 = BGHRZPOO § 322 Abs.
1 - Schaden 1; BGH, NJW-RR 1991, 1279 = WM 1991, 609 (610); vgl. ferner
BGHZ 93, 287ff. = NJW 1985, 1711 = LM § 322 ZPO Nr. 103 m.Anm. Hagen;
BGH, NJW 1986, 1046 = LM § 322 ZPO Nr. 109; BGH, NJW 1986, 2508 =
LM § 322 ZPO Nr. 111; BGH, LM § 322 ZPO Nr. 123; BGH, NJW 1992,
1172 = LM § 322 ZPO Nr. 133 m. Anm. Grunsky; BayObLGZ 1988, 426 (429ff.)).
So liegt der Fall hier.
b) Werden Grundstücke übertragen oder
soll dies geschehen, so gehören sämtliche die Wirksamkeit des
Rechtsgeschäfts betreffenden Vorgänge zu dem zur Entscheidung
gestellten Lebenssachverhalt, ob sie vorgetragen worden sind oder nicht.
Mit dem Rechtsfrieden stiftenden Zweck der Rechtskraft wäre es unvereinbar,
wenn eine Partei nach Rechtskraft eines Urteils dieses sogleich wieder
mit der Behauptung in Frage stellen dürfte, ein bekannt gewesener
anderer Übertragungsvorgang sei nicht vorgetragen worden. Im vorliegenden
Fall hingen die gesamten "Übertragungsvorgänge" zwischen dem
Erblasser und dem Kl. zusammen. Hinsichtlich des einen Grundstücks
wurde der Überlassungsvertrag sogar zum gleichen Zeitpunkt wie der
Erbvertrag geschlossen. Nähere Einzelheiten über die Zusammenhänge
und Motive für die Übertragungen sind dem Vortrag der Parteien
in beiden Verfahren zwar nicht genau zu entnehmen. Fest steht aber, daß
sie in den persönlichen Beziehungen zwischen dem Erblasser und dem
Kl. lagen. Damit liegt ein einheitlicher Lebenssachverhalt vor, der sich
in einem Erbvertrag und zwei weiteren Übertragungsvereinbarungen niedergeschlagen
hat.
c) Damit greifen die allgemeinen Regeln über
die aus der Rechtskraft folgende Tatsachenpräklusion ein. Danach konnten
die Übertragungsvereinbarungen, als frühere schon vorhandene
Tatsachen, die mit dem Prozeßstoff des Vorprozesses in Zusammenhang
stehen und den dortigen Tatsachenfeststellungen zum Vermächtnisanspruch
widersprechen, grundsätzlich nicht mehr mit dem Ziel vorgetragen werden,
daß das "kontradiktorische Gegenteil" der früheren festgestellten
Rechtsfolge ausgesprochen wird (vgl. BGHZ 98, 353 (358f.) = NJW 1987, 1201
= LM § 323 ZPO Nr. 53; vgl. auch BGHZ 117, 1 (4ff.) = NJW 1992, 1172
= LM § 322 ZPO Nr. 133 m. Anm. Grunsky; BGH, NJW 1993, 2694 = LM §
322 ZPO Nr. 135 = WM 1993, 1809 (1810); NJW 1993, 3204 = LM § 322
ZPO Nr. 136 = BGHRZPOO § 322 I - Schaden 1).
4. Die Nichtberücksichtigung der Übertragungsvereinbarungen
im ersten Verfahren kann von den Kl. auch nur mit einer angeblichen "Nachlässigkeit"
des damaligen Prozeßbevollmächtigten erklärt werden. Damit
steht einer Berufung der Bekl. auf die Rechtskraft der Entscheidung des
Vorprozesses auch der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht
entgegen. Besondere Umstände, die dies rechtfertigen könnten
(vgl. BGH, NJW 1993, 3204 = LM § 322 ZPO Nr. 136 = BGHRZPOO §
322 I - Schaden 1), sind jedenfalls nicht ersichtlich.
5. Das Berufungsurteil ist aufzuheben, denn es
stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig
dar. Die materielle Rechtskraft steht einer der Klage stattgebenden Entscheidung
im Wege. Eine Zurückverweisung kommt nicht in Betracht, weil der Rechtsstreit
nach dem festgestellten Sachverhalt zur Endentscheidung reif ist. Aus dem
Berufungsurteil ergibt sich ein Sachverhalt, der eine verwertbare rechtliche
Grundlage für eine rechtliche Beurteilung bietet; bei Zurückverweisung
der Sache erscheint ein anderes Ergebnis nicht möglich. Die Berufung
ist zurückzuweisen, weil die Klageabweisung des LG im Ergebnis richtig
ist.