NJW 1998, 2818
Anm. Vollkommer EWiR § 826 BGB 2/98
S. 889 f
Zu den Anforderungen, die an die Voraussetzungen eines auf § 826 BGB gestützten Anspruchs auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung aus einem rechtskräftigen Vollstreckungsbescheid zu stellen sind.
Der Kl. begehrt die Unterlassung der Zwangsvollstreckung
durch die Bekl. aus einem gegen ihn erwirkten Vollstreckungsbescheid, die
Herausgabe dieses Titels und die Bewilligung der Löschung einer auf
der Grundlage des Vollstreckungsbescheids zu Lasten seines Hausgrundstücks
eingetragenen Zwangshypothek. Die Bekl. hatte zur Durchführung eines
Bauvorhabens den Inhaber H eines Bauplanungsbüros mit der Bauplanung,
statischen Berechnung und Bauleitung beauftragt. Die von H, der gegenüber
der Baubehörde nicht vorlageberechtigt war, gefertigten Baupläne
und der Bauantrag wurden auf dessen Bitte hin vom Kl. unterschrieben, einem
selbständigen Architekten, der auch als verantwortlicher Bauleiter
zeichnete. Der Kl. stellte gegenüber H für "Teilbauleitung, Versicherung
sowie Vorlageberechnung" 387,60 DM in Rechnung. Die Bekl. machte nach Erstellung
des Gebäudes Schadensersatzansprüche gegen H und den Kl. wegen
Mängel der Architektenleistung geltend. Sie führte gegen beide
selbständige Beweisverfahren durch und leitete das Mahnverfahren ein.
Der Mahnbescheid über eine Schadensersatzforderung von 241 568,50
DM nebst Zinsen wurde dem Kl. durch Niederlegung zugestellt. Den in derselben
Weise zugestellten Vollstreckungsbescheid übergab der Kl. an H mit
dem Hinweis, daß er mit dieser Sache nichts zu tun habe und H sich
darum kümmern solle. Der Vollstreckungsbescheid wurde rechtskräftig.
Im Rechtsstreit der Bekl. gegen H kam es zu einem Prozeßvergleich,
in dem sich H verpflichtete, an die Bekl. 102000 DM zu bezahlen; eine Erlaßwirkung
dieses Vergleichs gegenüber dem Kl. wurde ausgeschlossen. Der
Kl. ist der Ansicht, die Bekl. mißbrauche den gegen ihn erwirkten
Vollstreckungsbescheid, dem keine berechtigte Forderung zugrunde liege,
in sittenwidriger Weise; die Zwangsvollstreckung aus dem Titel sei unzulässig.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung
des Kl. hat das OLG nach dessen Klageantrag erkannt. Die Revision war erfolgreich.
Aus den Gründen:
I. Das BerGer. hält das Klagebegehren auf
der Grundlage des § 826 BGB für gerechtfertigt. Zwar sei die
Anwendung dieser Vorschrift gegenüber der Vollstreckung aus rechtskräftigen
Titeln auf besonders schwerwiegende und eng begrenzte Ausnahmefälle
beschränkt. Ein solcher Fall liege jedoch hier vor.
Die Bekl. habe nicht von einem zwischen ihr und
dem Kl. bestehenden Architektenvertrag ausgehen können. Sie stütze
ihr Schadensersatzbegehren nur auf die "formale Rechtsposition des vom
Kl. unterschriebenen Bauantrags". In Wahrheit stehe ihr keine Forderung
gegen den Kl. zu. Zwar könne nicht davon ausgegangen werden, daß
die Bekl. die Besonderheiten des Mahnverfahrens bewußt dazu ausgenutzt
habe, um für einen materiell nicht gerechtfertigten Anspruch einen
rechtskräftigen Vollstreckungsbescheid zu erwirken. Vielmehr sei der
Titel auf das nachlässige, seine wirtschaftlichen Interessen gröblich
vernachlässigende Verhalten des Kl. selbst zurückzuführen.
Dessen nachlässige Prozeßführung sei grundsätzlich
geeignet, einen Anspruch aus § 826 BGB auszuschließen. Es spreche
auch nichts dafür, daß die Bekl. damit gerechnet habe, der Kl.
werde die für jeden nicht ganz unerfahrenen Bürger selbstverständliche
Gegenwehr im Mahnverfahren unterlassen. Der Sachverhalt sei hier anders
gelagert als in den Ratenkreditfällen, in denen eine Kreditgeberin
das Mahnverfahren im Hinblick auf die Ungewandtheit von Kreditnehmern im
Geschäftsleben mißbrauche. Gleichwohl seien im vorliegenden
Fall eindeutig als sittenwidrige Ausnutzung eines Titels einzuschätzende
Umstände gegeben, so daß eine nachträgliche Korrektur aus
dem Gebot der Einzelfallgerechtigkeit notwendig erscheine. Der den Vollstreckungsbescheid
erlassende Rechtspfleger sei durch die Formulierung getäuscht worden,
es handele sich um eine Schadensersatzforderung wegen mangelhafter
Architektenleistung. Die Bekl. habe genau gewußt, daß der Kl.
nicht als Architekt für sie tätig gewesen sei; sie habe ihn nie
gesehen und er sei nie auf der Baustelle gewesen. Bei dieser Sachlage sei
es mit dem Gerechtigkeitsgedanken nicht vereinbar, daß die Bekl.,
die nur wegen der reduzierten Schlüssigkeitsprüfung im Mahnverfahren
einen Titel erhalten habe, einen Betrag von nun sicherlich 300 000 DM gegen
den Kl. vollstrecken könne, der ihr unter keinen Umständen zustehe.
II. Das Berufungsurteil hält den Angriffen
der Revision nicht stand. Die Auffassung des BerGer., dem Kl. stehe auf
der Grundlage des § 826 BGB ein Anspruch auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung,
Herausgabe des Titels und Einwilligung in die Löschung der Zwangshypothek
zu, beruht auf durchgreifenden Rechtsfehlern.
1. Im Ansatz zutreffend geht das BerGer. davon
aus, daß die Durchbrechung der Rechtskraft eines Vollstreckungstitels,
auch eines Vollstreckungsbescheides, auf der Grundlage eines Anspruchs
aus § 826 BGB nur in besonders schwerwiegenden, eng begrenzten Ausnahmefällen
gewährt werden darf, weil sonst die Rechtskraft ausgehöhlt und
die Rechtssicherheit beeinträchtigt würde. Die Rechtskraft muß
nur dann zurücktreten, wenn es mit dem Gerechtigkeitsgedanken schlechthin
unvereinbar wäre, daß der Titelgläubiger seine formelle
Rechtsstellung unter Mißachtung der materiellen Rechtslage zu Lasten
des Schuldners ausnutzt (st. Rspr., vgl. z. B. BGHZ 101, 380 [383]
= NJW 1987, 3256 = LM § 700 ZPO Nr. 5; BGHZ 103, 44 [46] = NJW 1988,
971 = LM § 826 [Fa] BGB Nr. 32). Voraussetzung hierfür ist
nicht nur die materielle Unrichtigkeit des Vollstreckungstitels und die
Kenntnis des Gläubigers hiervon; hinzutreten müssen vielmehr
besondere Umstände, die sich aus der Art und Weise der Titelerlangung
oder der beabsichtigten Vollstreckung ergeben und die das Vorgehen des
Gläubigers in sittenwidriger Weise prägen, so daß es letzterem
zugemutet werden muß, die ihm unverdient zugefallene Rechtsposition
aufzugeben (vgl. hierzu auch Senat, LM § 826 [Fa] BGB Nr. 25 =
VersR 1982, 975 [976]). Grundsätzlich muß die Durchbrechung
der Rechtskraft mit Hilfe des § 826 BGB nach Erwirkung eines rechtskräftigen
Titels über einen nicht schlüssigen Anspruch im Mahnverfahren
auf Fälle beschränkt bleiben, die, wie dies etwa bei der Fallgruppe
der Ratenkreditverträge zu bejahen sein kann, nach der Art der zugrunde
liegenden Rechtsbeziehungen eine klar umrissene sittenwidrige Typik aufweisen
und in denen ein besonderes Schutzbedürfnis des mit dem Mahnverfahren
überzogenen Schuldners hervortritt (vgl. BGHZ 103, 44 [50] = NJW
1988, 971 = LM § 826 [Fa] BGB Nr. 32).
2. Die Revision rügt zu Recht, daß
unter Berücksichtigung dieser Rechtsgrundsätze im vorliegenden
Fall entgegen der Auffassung des BerGer. die Voraussetzungen des vom Kl.
geltend gemachten Anspruchs aus § 826 BGB nicht erfüllt sind.
a) Zwar ist im vorliegenden Revisionsverfahren
davon auszugehen, daß dem von der Bekl. erwirkten Vollstreckungsbescheid
materiellrechtlich kein berechtigter, auf eine mangelhafte Architektenleistung
des Kl. gegründeter Schadensersatzanspruch zugrunde lag. Für
die nötige Kenntnis des Titelgläubigers von der Unrichtigkeit
des Vollstreckungstitels kann es ausreichen, wenn dem Gläubiger diese
Kenntnis erst während des Rechtsstreits über den Anspruch aus
§ 826 BGB vermittelt wird (vgl. BGHZ 101, 380 [385] = NJW 1987, 3256
= LM § 700 ZPO Nr. 5); jedenfalls unter diesem Gesichtspunkt ist hier
revisionsrechtlich die erforderliche Kenntnis der Bekl. bezüglich
einer Unrichtigkeit des Vollstreckungsbescheids zu bejahen.
b) Dem BerGer. kann jedoch, auch wenn die von
ihm getroffenen Feststellungen zugrunde gelegt werden, nicht in der rechtlichen
Beurteilung gefolgt werden, es seien die für einen Anspruch aus §
826 BGB zusätzlich erforderlichen besonderen, die Sittenwidrigkeit
begründenden Umstände als gegeben zu erachten.
aa) Das BerGer. geht nicht davon aus, die Bekl.
habe die Besonderheiten des Mahnverfahrens bewußt dazu ausgenutzt,
um für einen in der Sache nicht gerechtfertigten Anspruch einen rechtskräftigen
Vollstreckungsbescheid zu erwirken. Im Berufungsurteil wird ausdrücklich
festgestellt, es spreche nichts dafür, daß die Bekl. damit gerechnet
habe, der Kl. werde die für jeden nicht ganz unerfahrenen Bürger
selbstverständliche Gegenwehr im Rahmen des Mahnverfahrens unterlassen.
bb) Der vorliegende Fall weist auch keinerlei
Merkmale typisch sittenwidriger Fallgestaltungen auf, wie sie in der Rechtsprechung
etwa bei der Fallgruppe der Ausnutzung des Mahnverfahrens im Rahmen von
Ratenkreditverträgen mit unerfahrenen Darlehensnehmern herausgearbeitet
worden sind. Vor allem ist ein besonderes Schutzbedürfnis des Kl.
nicht zu erkennen. Auch das BerGer. betont, daß der Kl. seine eigenen
wirtschaftlichen Interessen gröblich vernachlässigt und dadurch
in entscheidendem Maße zum Entstehen des Vollstreckungstitels selbst
beigetragen hat. Der Kl., ein freiberuflich tätiger Architekt, von
dem Geschäftserfahrenheit erwartet werden kann, wußte bereits
aus den durchgeführten selbständigen Beweisverfahren, daß
er von der Bekl. wegen behaupteter Mängel der Architekten- und Bauleistung
in Anspruch genommen wird; dort hatte er sich zeitweise auch anwaltlich
vertreten lassen. Er hatte im Mahnverfahren den Vollstreckungsbescheid
in Händen und hat dennoch die naheliegendsten, in dieser Lage von
ihm als selbstverständlich zu verlangenden Maßnahmen unterlassen.
Bei diesem Sachverhalt fehlt es von vornherein an dem besonderen Schutzbedürfnis
des Schuldners, das als Voraussetzung einer Rechtskraftdurchbrechung auf
der Grundlage des § 826 BGB unerläßlich ist.
cc) Wenn das BerGer. dem Begehren des Kl. dennoch
mit der Begründung stattgegeben hat, der Rechtspfleger sei beim Erlaß
des Vollstreckungsbescheides durch die Formulierung getäuscht worden,
es handele sich um eine Schadensersatzforderung wegen mangelhafter Architektenleistung,
so kann dem nicht gefolgt werden. Das BerGer. stützt seine Beurteilung
darauf, die Bekl. habe genau gewußt, daß der Kl. nicht als
Architekt für sie tätig gewesen sei; sie habe ihn nie gesehen,
er sei nie auf der Baustelle gewesen. Diese Überlegungen sind bereits
aufgrund der im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen rechtsfehlerhaft:
(a) Der Kl. hat den an die zuständige Baubehörde
gerichteten Bauantrag sowie sämtliche eingereichten Entwurfspläne
unterschrieben und gegenüber dem Bauamt als verantwortlicher Bauleiter
gezeichnet. Damit hat er, unabhängig davon, wie die Rechtsbeziehungen
zwischen den Beteiligten im einzelnen ausgestaltet gewesen sein mögen,
Architektenleistungen erbracht, hinsichtlich derer ihn die Bekl. für
einstandspflichtig halten konnte; nicht entscheidend war insoweit, ob er
die Baustelle jemals besucht und mit der Bekl. zu irgendeinem Zeitpunkt
verhandelt hat oder nicht. Bei dieser Sachlage kann aus der seitens der
Bekl. im Mahnverfahren angegebenen Anspruchsbegründung, mag sie auch
materiellrechtlich nicht zutreffend gewesen sein, bereits aus Rechtsgründen
kein die besondere Sittenwidrigkeit ihres Vorgehens begründendes Merkmal
hergeleitet werden. Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung sind
den getroffenen Feststellungen keine relevanten Anhaltspunkte dafür
zu entnehmen, daß die Bekl. den Vollstreckungstitel "erschlichen"
hat.
(b) Es kommt daher insoweit nicht auf die von
der Revision zu Recht erhobene Verfahrensrüge an, mit welcher die
Bekl. beanstandet, das BerGer. habe ihren durch Zeugnis des H unter Beweis
gestellten Vortrag verfahrensfehlerhaft übergangen, daß der
Kl. mit H eine Honorarteilung vereinbart und im Hinblick auf das Bauvorhaben
der Bekl. eine Arbeitsgemeinschaft gebildet habe. Ob dies zutrifft, kann
ebenso dahinstehen wie die, worauf die Revision ebenfalls hinweist, vom
BerGer. unberücksichtigt gelassene Tatsache, daß der in den
selbständigen Beweisverfahren zeitweilig anwaltlich vertretene Kl.
seinerzeit gerade nicht geltend gemacht habe, er habe keine vertraglichen
Verpflichtungen gegenüber der Bekl. gehabt.
dd) Auch die weiteren vom BerGer. angeführten
Überlegungen rechtfertigen das Klagebegehren nicht. Es mag dahinstehen,
ob es Extremfälle geben kann, in denen auf die - als Voraussetzung
- für die Anwendung des § 826 BGB grundsätzlich zu fordernden
- zusätzlichen besonderen Umstände für die Sittenwidrigkeit
deshalb verzichtet werden kann, weil die materielle Unrichtigkeit des Titels
bereits so eindeutig und so schwerwiegend ist, daß jede Vollstreckung
allein schon deswegen das Rechtsgefühl in unerträglicher Weise
verletzen würde (vgl. dazu BGHZ 112, 54 [57] = NJW 1991, 30 = LM §
607 BGB Nr. 124). Von einem derartigen Extremfall kann vorliegend unter
Berücksichtigung aller Umstände nicht die Rede sein, auch nicht
in Anbetracht der Höhe der titulierten Forderung.