Rechtskraftdurchbrechung eines Vollstreckungsbescheids nach § 826 BGB
BGH, Urteil v. 30.06.1998  - VI ZR 160/97  (Frankfurt a. M.) 


Fundstelle:

NJW 1998, 2818
Anm. Vollkommer EWiR § 826 BGB 2/98 S. 889 f



Amtl. Leitsatz:

Zu den Anforderungen, die an die Voraussetzungen eines auf § 826 BGB gestützten Anspruchs auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung aus einem rechtskräftigen Vollstreckungsbescheid zu stellen sind.



Zum Sachverhalt:

Der Kl. begehrt die Unterlassung der Zwangsvollstreckung durch die Bekl. aus einem gegen ihn erwirkten Vollstreckungsbescheid, die Herausgabe dieses Titels und die Bewilligung der Löschung einer auf der Grundlage des Vollstreckungsbescheids zu Lasten seines Hausgrundstücks eingetragenen Zwangshypothek. Die Bekl. hatte zur Durchführung eines Bauvorhabens den Inhaber H eines Bauplanungsbüros mit der Bauplanung, statischen Berechnung und Bauleitung beauftragt. Die von H, der gegenüber der Baubehörde nicht vorlageberechtigt war, gefertigten Baupläne und der Bauantrag wurden auf dessen Bitte hin vom Kl. unterschrieben, einem selbständigen Architekten, der auch als verantwortlicher Bauleiter zeichnete. Der Kl. stellte gegenüber H für "Teilbauleitung, Versicherung sowie Vorlageberechnung" 387,60 DM in Rechnung. Die Bekl. machte nach Erstellung des Gebäudes Schadensersatzansprüche gegen H und den Kl. wegen Mängel der Architektenleistung geltend. Sie führte gegen beide selbständige Beweisverfahren durch und leitete das Mahnverfahren ein. Der Mahnbescheid über eine Schadensersatzforderung von 241 568,50 DM nebst Zinsen wurde dem Kl. durch Niederlegung zugestellt. Den in derselben Weise zugestellten Vollstreckungsbescheid übergab der Kl. an H mit dem Hinweis, daß er mit dieser Sache nichts zu tun habe und H sich darum kümmern solle. Der Vollstreckungsbescheid wurde rechtskräftig. Im Rechtsstreit der Bekl. gegen H kam es zu einem Prozeßvergleich, in dem sich H verpflichtete, an die Bekl. 102000 DM zu bezahlen; eine Erlaßwirkung dieses Vergleichs gegenüber dem Kl. wurde  ausgeschlossen. Der Kl. ist der Ansicht, die Bekl. mißbrauche den gegen ihn erwirkten Vollstreckungsbescheid, dem keine berechtigte Forderung zugrunde liege, in sittenwidriger Weise; die Zwangsvollstreckung aus dem Titel sei unzulässig.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Kl. hat das OLG nach dessen Klageantrag erkannt. Die Revision war erfolgreich.

Aus den Gründen:

I. Das BerGer. hält das Klagebegehren auf der Grundlage des § 826 BGB für gerechtfertigt. Zwar sei die Anwendung dieser Vorschrift gegenüber der Vollstreckung aus rechtskräftigen Titeln auf besonders schwerwiegende und eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt. Ein solcher Fall liege jedoch hier vor.
Die Bekl. habe nicht von einem zwischen ihr und dem Kl. bestehenden Architektenvertrag ausgehen können. Sie stütze ihr Schadensersatzbegehren nur auf die "formale Rechtsposition des vom Kl. unterschriebenen Bauantrags". In Wahrheit stehe ihr keine Forderung gegen den Kl. zu. Zwar könne nicht davon ausgegangen werden, daß die Bekl. die Besonderheiten des Mahnverfahrens bewußt dazu ausgenutzt habe, um für einen materiell nicht gerechtfertigten Anspruch einen rechtskräftigen Vollstreckungsbescheid zu erwirken. Vielmehr sei der Titel auf das nachlässige, seine wirtschaftlichen Interessen gröblich vernachlässigende Verhalten des Kl. selbst zurückzuführen. Dessen nachlässige Prozeßführung sei grundsätzlich geeignet, einen Anspruch aus § 826 BGB auszuschließen. Es spreche auch nichts dafür, daß die Bekl. damit gerechnet habe, der Kl. werde die für jeden nicht ganz unerfahrenen Bürger selbstverständliche Gegenwehr im Mahnverfahren unterlassen. Der Sachverhalt sei hier anders gelagert als in den Ratenkreditfällen, in denen eine Kreditgeberin das Mahnverfahren im Hinblick auf die Ungewandtheit von Kreditnehmern im Geschäftsleben mißbrauche. Gleichwohl seien im vorliegenden Fall eindeutig als sittenwidrige Ausnutzung eines Titels einzuschätzende Umstände gegeben, so daß eine nachträgliche Korrektur aus dem Gebot der Einzelfallgerechtigkeit notwendig erscheine. Der den Vollstreckungsbescheid erlassende Rechtspfleger sei durch die Formulierung getäuscht worden, es handele sich um eine Schadensersatzforderung wegen mangelhafter  Architektenleistung. Die Bekl. habe genau gewußt, daß der Kl. nicht als Architekt für sie tätig gewesen sei; sie habe ihn nie gesehen und er sei nie auf der Baustelle gewesen. Bei dieser Sachlage sei es mit dem Gerechtigkeitsgedanken nicht vereinbar, daß die Bekl., die nur wegen der reduzierten Schlüssigkeitsprüfung im Mahnverfahren einen Titel erhalten habe, einen Betrag von nun sicherlich 300 000 DM gegen den Kl. vollstrecken könne, der ihr unter keinen Umständen zustehe.
II. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand. Die Auffassung des BerGer., dem Kl. stehe auf der Grundlage des § 826 BGB ein Anspruch auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung, Herausgabe des Titels und Einwilligung in die Löschung der Zwangshypothek zu, beruht auf durchgreifenden Rechtsfehlern.
1. Im Ansatz zutreffend geht das BerGer. davon aus, daß die Durchbrechung der Rechtskraft eines Vollstreckungstitels, auch eines Vollstreckungsbescheides, auf der Grundlage eines Anspruchs aus § 826 BGB nur in besonders schwerwiegenden, eng begrenzten Ausnahmefällen gewährt werden darf, weil sonst die Rechtskraft ausgehöhlt und die Rechtssicherheit beeinträchtigt würde. Die Rechtskraft muß nur dann zurücktreten, wenn es mit dem Gerechtigkeitsgedanken schlechthin unvereinbar wäre, daß der Titelgläubiger seine formelle Rechtsstellung unter Mißachtung der materiellen Rechtslage zu Lasten des Schuldners ausnutzt (st. Rspr., vgl. z. B. BGHZ 101, 380 [383] = NJW 1987, 3256 = LM § 700 ZPO Nr. 5; BGHZ 103, 44 [46] = NJW 1988, 971 = LM § 826 [Fa] BGB Nr. 32). Voraussetzung hierfür ist nicht nur die materielle Unrichtigkeit des Vollstreckungstitels und die Kenntnis des Gläubigers hiervon; hinzutreten müssen vielmehr besondere Umstände, die sich aus der Art und Weise der Titelerlangung oder der beabsichtigten Vollstreckung ergeben und die das Vorgehen des Gläubigers in sittenwidriger Weise prägen, so daß es letzterem zugemutet werden muß, die ihm unverdient zugefallene Rechtsposition aufzugeben (vgl. hierzu auch Senat, LM § 826 [Fa] BGB Nr. 25 = VersR 1982, 975 [976]). Grundsätzlich muß die Durchbrechung der Rechtskraft mit Hilfe des § 826 BGB nach Erwirkung eines rechtskräftigen Titels über einen nicht schlüssigen Anspruch im Mahnverfahren auf Fälle beschränkt bleiben, die, wie dies etwa bei der Fallgruppe der Ratenkreditverträge zu bejahen sein kann, nach der Art der zugrunde liegenden Rechtsbeziehungen eine klar umrissene sittenwidrige Typik aufweisen und in denen ein besonderes Schutzbedürfnis des mit dem Mahnverfahren überzogenen Schuldners hervortritt (vgl. BGHZ 103, 44 [50] = NJW 1988, 971 = LM § 826 [Fa] BGB Nr. 32).
2. Die Revision rügt zu Recht, daß unter Berücksichtigung dieser Rechtsgrundsätze im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung des BerGer. die Voraussetzungen des vom Kl. geltend gemachten Anspruchs aus § 826 BGB nicht erfüllt sind.
a) Zwar ist im vorliegenden Revisionsverfahren davon auszugehen, daß dem von der Bekl. erwirkten Vollstreckungsbescheid materiellrechtlich kein berechtigter, auf eine mangelhafte Architektenleistung des Kl. gegründeter Schadensersatzanspruch zugrunde lag. Für die nötige Kenntnis des Titelgläubigers von der Unrichtigkeit des Vollstreckungstitels kann es ausreichen, wenn dem Gläubiger diese Kenntnis erst während des Rechtsstreits über den Anspruch aus § 826 BGB vermittelt wird (vgl. BGHZ 101, 380 [385] = NJW 1987, 3256 = LM § 700 ZPO Nr. 5); jedenfalls unter diesem Gesichtspunkt ist hier revisionsrechtlich die erforderliche Kenntnis der Bekl. bezüglich einer Unrichtigkeit des Vollstreckungsbescheids zu bejahen.
b) Dem BerGer. kann jedoch, auch wenn die von ihm getroffenen Feststellungen zugrunde gelegt werden, nicht in der rechtlichen Beurteilung gefolgt werden, es seien die für einen Anspruch aus § 826 BGB zusätzlich erforderlichen besonderen, die Sittenwidrigkeit begründenden Umstände als gegeben zu erachten.
aa) Das BerGer. geht nicht davon aus, die Bekl. habe die Besonderheiten des Mahnverfahrens bewußt dazu ausgenutzt, um für einen in der Sache nicht gerechtfertigten Anspruch einen rechtskräftigen Vollstreckungsbescheid zu erwirken. Im Berufungsurteil wird ausdrücklich festgestellt, es spreche nichts dafür, daß die Bekl. damit gerechnet habe, der Kl. werde die für jeden nicht ganz unerfahrenen Bürger selbstverständliche Gegenwehr im Rahmen des Mahnverfahrens unterlassen.
bb) Der vorliegende Fall weist auch keinerlei Merkmale typisch sittenwidriger Fallgestaltungen auf, wie sie in der Rechtsprechung etwa bei der Fallgruppe der Ausnutzung des Mahnverfahrens im Rahmen von Ratenkreditverträgen mit unerfahrenen Darlehensnehmern herausgearbeitet worden sind. Vor allem ist ein besonderes Schutzbedürfnis des Kl. nicht zu erkennen. Auch das BerGer. betont, daß der Kl. seine eigenen wirtschaftlichen Interessen gröblich vernachlässigt und dadurch in entscheidendem Maße zum Entstehen des Vollstreckungstitels selbst beigetragen hat. Der Kl., ein freiberuflich tätiger Architekt, von dem Geschäftserfahrenheit erwartet werden kann, wußte bereits aus den durchgeführten selbständigen Beweisverfahren, daß er von der Bekl. wegen behaupteter Mängel der Architekten- und Bauleistung in Anspruch genommen wird; dort hatte er sich zeitweise auch anwaltlich vertreten lassen. Er hatte im Mahnverfahren den Vollstreckungsbescheid in Händen und hat dennoch die naheliegendsten, in dieser Lage von ihm als selbstverständlich zu verlangenden Maßnahmen unterlassen. Bei diesem Sachverhalt fehlt es von vornherein an dem besonderen Schutzbedürfnis des Schuldners, das als Voraussetzung einer Rechtskraftdurchbrechung auf der Grundlage des § 826 BGB unerläßlich ist.
cc) Wenn das BerGer. dem Begehren des Kl. dennoch mit der Begründung stattgegeben hat, der Rechtspfleger sei beim Erlaß des Vollstreckungsbescheides durch die Formulierung getäuscht worden, es handele sich um eine Schadensersatzforderung wegen mangelhafter Architektenleistung, so kann dem nicht gefolgt werden. Das BerGer. stützt seine Beurteilung darauf, die Bekl. habe genau gewußt, daß der Kl. nicht als Architekt für sie tätig gewesen sei; sie habe ihn nie gesehen, er sei nie auf der Baustelle gewesen. Diese Überlegungen sind bereits aufgrund der im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen rechtsfehlerhaft:
(a) Der Kl. hat den an die zuständige Baubehörde gerichteten Bauantrag sowie sämtliche eingereichten Entwurfspläne unterschrieben und gegenüber dem Bauamt als verantwortlicher Bauleiter gezeichnet. Damit hat er, unabhängig davon, wie die Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten im einzelnen ausgestaltet gewesen sein mögen, Architektenleistungen erbracht, hinsichtlich derer ihn die Bekl. für einstandspflichtig halten konnte; nicht entscheidend war insoweit, ob er die Baustelle jemals besucht und mit der Bekl. zu irgendeinem Zeitpunkt verhandelt hat oder nicht. Bei dieser Sachlage kann aus der seitens der Bekl. im Mahnverfahren angegebenen Anspruchsbegründung, mag sie auch materiellrechtlich nicht zutreffend gewesen sein, bereits aus Rechtsgründen kein die besondere Sittenwidrigkeit ihres Vorgehens begründendes Merkmal hergeleitet werden. Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung sind den getroffenen Feststellungen keine relevanten Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß die Bekl. den Vollstreckungstitel "erschlichen" hat.
(b) Es kommt daher insoweit nicht auf die von der Revision zu Recht erhobene Verfahrensrüge an, mit welcher die Bekl. beanstandet, das BerGer. habe ihren durch Zeugnis des H unter Beweis gestellten Vortrag verfahrensfehlerhaft übergangen, daß der Kl. mit H eine Honorarteilung vereinbart und im Hinblick auf das Bauvorhaben der Bekl. eine Arbeitsgemeinschaft gebildet habe. Ob dies zutrifft, kann ebenso dahinstehen wie die, worauf die Revision ebenfalls hinweist, vom BerGer. unberücksichtigt gelassene Tatsache, daß der in den selbständigen Beweisverfahren zeitweilig anwaltlich vertretene Kl. seinerzeit gerade nicht geltend gemacht habe, er habe keine vertraglichen Verpflichtungen gegenüber der Bekl. gehabt.
dd) Auch die weiteren vom BerGer. angeführten Überlegungen rechtfertigen das Klagebegehren nicht. Es mag dahinstehen, ob es Extremfälle geben kann, in denen auf die - als Voraussetzung - für die Anwendung des § 826 BGB grundsätzlich zu fordernden - zusätzlichen besonderen Umstände für die Sittenwidrigkeit deshalb verzichtet werden kann, weil die materielle Unrichtigkeit des Titels bereits so eindeutig und so schwerwiegend ist, daß jede Vollstreckung allein schon deswegen das Rechtsgefühl in unerträglicher Weise verletzen würde (vgl. dazu BGHZ 112, 54 [57] = NJW 1991, 30 = LM § 607 BGB Nr. 124). Von einem derartigen Extremfall kann vorliegend unter Berücksichtigung aller Umstände nicht die Rede sein, auch nicht in Anbetracht der Höhe der titulierten Forderung.


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