Streitgegenstandsbegriff im Zivilprozeß; Klageänderung im Berufungsverfahren

BGH, Urt. v. 6. 5. 1999 - IX ZR 2 50/98 (Köln)


Fundstelle:

NJW 1999, 2118


Amtl. Leitsatz:

Der Kläger kann das erstinstanzliche Urteil nicht mit der Berufung in der Weise anfechten, daß er den weiterverfolgten Klageanspruch in erster Linie auf einen neuen Lebenssachverhalt und hilfsweise auf den erstinstanzlichen Klagegrund stützt (Anschluß an BGH, NJW-RR 1996, 765 = LM H. 8/1996 § 511 ZPO Nr. 56, unter Aufgabe von BGH, NJW 1996, 320 = LM H. 3/1996 § 511 ZPO Nr. 54).


Anmerkung:

Die Entscheidung legt in für das Studium sehr lehrreicher Weise den Begriff des Streitgegenstandes und damit die Frage des Vorliegens einer Klageänderung dar. Hinsichtlich der (grundsätzlich gegebenen) Möglichkeit einer Klageänderung im Berufungsverfahren gibt der Senat seine bisher vertretene Ansicht auf. Beachten Sie insbesondere die fett markierten Passagen. In Bezug auf die Weiterverfolgung eines Hilfsantrags im Berufungsverfahren hat der BGH seine Rspr. inzwischen geändert, vgl. BGH NJW 2001, 226, 227.


Zum Sachverhalt:

Die Kl. verlangt vom bekl. Rechtsanwalt Schadensersatz wegen Schlechterfüllung eines Anwaltsvertrags. 1992 stellte die Kl. den Betrieb einer Pizzeria in gemieteten Räumen ein. 1993 führte die Kl. gegen den Vermieter ein einstweiliges Verfügungsverfahren, in dem sie vom Bekl. vertreten wurde. In diesem Verfahren wurde am 18. 3. 1993 ein Vergleich geschlossen, in dem es u. a. heißt:

    1. Die Ast. verpflichtet sich, die im Haus . . . zum Zwecke einer Pizzena gemieteten Räumlichkeiten einschließlich eines Nebenraums und eines Kellerraums spätestens bis zum 15. 5. 1993 geräumt an den Ag. herauszugeben.
    2. Der Ag. verpflichtet sich, mit einem von der Ast. zu stellenden Nachmieter zu den gleichen Bedingungen wie der bei den Gerichtsakten befindliche Mietvertrag für gewerbliche Räume mit dem vorhergehenden Nachmietinteressenten M abzuschließen ... Wird ein Nachmieter bis zum 15. 5. 1993 nicht gestellt, ist die Ast. zur Räumung unverzüglich verpflichtet.
    3. Der Ag. verpflichtet sich, der Ast. einen Schlüssel für das LadenlokaI zur Verfügung zu stellen.
    4. Zwischen den Parteien besteht Einigkeit, daß ab dem heutigen Tag eine Nutzungsentschädigung bzw. Miete geschuldet wird in Höhe der bisherigen Miete.

Die von der Kl. beabsichtigte Veräußerung des Inventars an einen Nachmieter mißlang. Das LG hat die Schadensersatzklage abgewiesen. Die rechtzeitig eingelegte und begründete Berufüng hat das OLG als unzulässig verworfen; zu Beginn der Berufungsverhandlung hatte der Bekl. Klageänderungen gerügt. Die Revision hatte keinen Erfolg.

Aus den Gründen:

I. Das BerGer. hat zu Recht die Berufung insoweit für unzulässig gehalten, als die Kl. ihren Schadensersatzanspruch gegen den Bekl. im Berufungsverfahren auf eine andere Grundlage gestützt hat als im ersten Rechtszuge.

1. Dazu hat das BerGer. ausgeführt: Die Berufung sei unzulässig, weil die Kl. mit dem im Berufungsverfahren in erster Linie verfolgten Anspruch nicht die Beschwer angreife, die durch das Urteil des LG begründet worden sei. Dieser Anspruch sei nicht Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens gewesen. Dort habe die Kl. ihre Klage allein darauf gestürzt, daß der Bekl. den Vergleich vom 18. 3. 1993 geschlossen habe, ohne darin eine Verpflichtung des Vermieters zur Öffnung des Rolltores aufzunehmen, und in der Folgezeit abredewidrig nichts getan habe, um ihr - notfalls durch weitere Inanspruchnahme der Gerichte - den Zugang zum Geschäftslokal zu verschaffen. Im Berufungsverfahren habe die Kl. dagegen ihren Schadensersatzanspruch vorrangig damit begründet, daß der Bekl. es pflichtwidrig unterlassen habe, dem Vermieter den Mietinteressenten B, der ihr Inventar habe kaufen wollen, rechtzeitig vor dem 15. 5. 1993 zu benennen. Damit habe die Kl. im Wege der Klageänderung einen völlig neue» Streitgegenstand in den Prozeß eingeführt.
2. Diese Beurteilung hält einer rechtlichen Nachprüfung stand.
a) Das BerGer. ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Berufung nur dann zulässig ist, wenn der Berufungskläger die Beschwer infolge des erstinstanzlichen Urteils beseitigen will. Eine Berufung ist unzulässig, wenn sie den im ersten Rechtszug erhobenen Klageanspruch nicht wenigstens teilweise weiterverfolgt, also eine erstinstanzliche Klageabweisung gar nicht in Zweifel zieht, sondern lediglich im Wege der Klageänderung einen neuen, bisher nicht geltend gemachten Anspruch zur Entscheidung stellt. Die Änderung der Klage im Berufungsverfahren (§§ 263, 523 ZPO) kann nicht allein das Ziel des Rechtsmittels sein, sondern setzt dessen Zulässigkeit voraus (BGH, NJW-RR 1994, 1404 = LM H. 2/1995 § 264 ZPO Nr. 15; NJW 1996, 320 = LM H. 3/1996 § 511 ZPO Nr. 54; NJW-RR 1996, 765 = LM H. 8/1996 § 511 ZPO Nr. 56; NJW-RR 1996, 1276; NJW-RR 1996, 1210 [1211]; NJW-RR 1998, 1006 = LM H. 6/1998 § 633 BGB Nr. 102 =WM 1998, 1141). Die gegenteilige Ansicht im Schrifttum (Grunsky, in: Stein/Jonas, ZPO, 21. Aufl., Einl. Vorb. § 511 Rdnrn. 72 f.; Altmeppen, ZIP 1992, 449 [454, 459], und ders., ZIP 1993, 65 [66 f.]; Oellers, EwiR 1992, 407 jew. m.w. Nachw.) gibt keinen Anlaß zu einer anderen Beurteilung. Prozeßwirtschaftliche Gründe haben kein solches Gewicht, als daß sie es rechtfertigen könnten, das grundlegende Erfordernis aller Rechtsmittel aufzugeben, wonach der Angriff des Rechtsmittelführers auf die Beseitigung der im vorinstanzlichen Urteil enthaltenen Beschwer gerichtet sein muß (BGH, NJW 1996, 320 = LM H. 3/1996 § 511 ZPO Nr. 54).
b) Das BerGer. hat die Berufungsbegründung dahin ausgelegt, daß die Kl. ihr Berufungsbegehren in erster Linie auf einen neuen Streitgegenstand gestützt hat. Der Senat teilt diese Wertung der Prozeßerklärung, die er selbst auslegen darf (BGH, NJW-RR 1996, 1210 [1211]). Nach der prozeßrechtlichen Auffassung vom Streitgegenstand im Zivilprozeß, der sich der BGH (BGHZ 117, 1 [Sf.] = NJW 1992, 1172 = LM H. 4/1992 § 322 ZPO Nr. 133; BGH, NJW-RR 1996, 1276; NJW 1996, 3151 [3152] = LM H. 11/1996 §549 ZPO Nr. 116) angeschlossen hat, wird mit der Klage nicht ein bestimmter materiellrechtlicher Anspruch geltend gemacht; Gegenstand des Rechtsstreits ist vielmehr der eigenständige prozessuale Anspruch. Dieser wird bestimmt durch den Klageantrag, in dem sich die vom Kläger geltend gemachte Rechtsfolge konkretisiert, und durch den Lebenssachverhalt (Anspruchsgrund), aus dem der Kläger die begehrte Rechtsfolge herleitet. Der Vortrag neuer Tatsachen, die eine andere Norm des materiellen Rechts erfüllen, verschafft dem neuen Verfahren nicht notwendig einen anderen Streitgegenstand. Zum Klagegrund sind alle Tatsachen zu rechnen, die bei einer natürlichen Betrachtungsweise aus der Sicht der Parteien zu dem Sachverhalt gehören, den der Kläger mit seinem Vortrag zur Begründung seines Begehrens der gerichtlichen Entscheidung unterbreitet.
aa) Im ersten Rechtszug hat die Kl. ihrem Klageanspruch auf Zahlung von 60000 DM nebst Zinsen folgendes Vorbringen zugrunde gelegt: Der Bekl. habe nicht dafür gesorgt, daß sich der Vermieter im Vergleich zur Öffnung des Rolltores des Geschäftslokals verpflichtet habe; außerdem habe der Bekl. nach Abschluß des Vergleichs ihr - der Kl. - abredewidrig nicht den Zugang zum Geschäftslokal ermöglicht. Deswegen habe sie Nachmietinteressenten nicht die Geschäftsräume zeigen können; infolgedessen seien ihr eine Nachvermietung und eine damit verbundene Veräußerung des Inventars und des Geschäftswertes nicht möglich gewesen. Dadurch sei ihr ein Schaden von 60000 DM entstanden. Die Nachmietinteressenten B und S seien bereit gewesen, diesen Betrag als "Abstandssumme" bzw. als "Kaufpreis" zu zahlen. Davon hätten diese jedoch abgesehen, weil die Besichtigung der Geschäftsräume nicht möglich gewesen sei. Danach hat die Kl. zunächst einen Schadensersatzanspruch geltend gemacht, weil ihr der Bekl. unter Verletzung einer Mandatspflicht nicht den Zugang zum Geschäftslokal verschafft habe, so daß es ihr unmöglich gewesen sei, Nachmietinteressenten die Geschäftsräume zu zeigen und bei einer Nachvermietung für das Inventar und den Wert ihres aufgegebenen Geschäfts 60000 DM zu erhalten.
bb) In ihrer Berufungsbegründung hat die Kl. den weiterverfolgten erstinstanzlichen Zahlungsanspruch auf folgenden Vortrag gestützt: Der Bekl. habe dem Vermieter den Nachmietinteressenten B nicht - gem. Nr. 2 des Vergleichs - vor dem 15. 5. 1993 benannt. Dieser hätte für die Einrichtung und den Wert des Geschäfts 60000 DM an sie - die Kl. - gezahlt, wenn der Vermieter mit ihm einen Mietvertrag zu den Bedingungen geschlossen hätte, die dem früheren Mietinteressenten M eingeräumt worden seien. B hätte bei Abschluß eines solchen Mietvertrags 60000 DM an sie - die Kl. - gezahlt, ohne sich zuvor die Geschäftsräume anzusehen; diese und die Einrichtungsgegenstände seien ihm bekannt gewesen. Das habe sie - die Kl. - dem Bekl. wenige Tage nach dem Vergleich mitgeteilt mit der Bitte, diesen Mietinteressenten dem Vermieter zu benennen und diesen aufzufordern, einen Mietvertrag mit B spätestens bis zum 15. 5. 1993 abzuschließen. Der Bekl. habe erklärt, er werde sich um alles kümmern. Dies habe der Bekl. jedoch unterlassen. Danach hat die Kl. insoweit ihr Begehren im Berufungsverfahren - anders als im ersten Rechtszug - auf eine andere Pflichtverletzung des Bekl. gegründet, die nicht mehr den fehlenden Zugang zum Geschäftslokal, sondern die unterbliebene Benennung des Mietinteressenten B betrifft.
cc) Mit ihrer Berufungsbegründung hat die Kl. zwar den erstinstanzlichen Klageantrag weiterverfolgt und damit Ersatz desselben Schadens begehrt, der nach ihrer Behauptung in der entgangenen Vergütung für die Einrichtung und den Wert des aufgegebenen Geschäfts besteht. Dennoch hat die Kl. mit ihrem hauptsächlichen Berufungsvorbringen den Klagegrund geändert (vgl. §§ 263,264 Nr. 1, 523 ZPO). Im ersten Rechtszug hat die Kl. zur Begründung ihres Schadensersatzanspruchs geltend gemacht, der Bekl. habe eine Mandatspflicht verletzt, ihr durch eine entsprechende Gestaltung des Vergleichs vom 18. 3. 1993 oder nach diesem Vergleich den Zugang zum Geschäftslokal zu verschaffen. Eine entsprechende Vertragspflicht des Bekl. kann nach dem erstinstanzlichen Vorbringen der Bekl. bestanden haben aufgrund seines Auftrags, die Interessen der Kl. im einstweiligen Verfügungsverfahren wahrzunehmen, oder aufgrund eines anschließenden neuen Mandats, der Kl. den Zugang zu den Geschäftsräumen zu ermöglichen, um diese Nachmietinteressenten zeigen zu können. In ihrer Berufungsbegründung hat die Kl. ihren aufrechterhaltenen Schadensersatzanspruch nicht auf diesen im ersten Rechtszug behaupteten Klagegrund gestützt. Vielmehr hat sie ihr Berufungsbegehren damit begründet, der Bekl. habe pflichtwidrig dem Vermieter nicht rechtzeitig den Mietinteressenten B benannt. Danach hat dem Klageanspruch ein anderer Lebenssachverhalt als im ersten Rechtszug zugrunde gelegen, nämlich ein - von der Kl. behaupteter - neuer Auftrag an den Bekl., den Mietinteressenten dem Vermieter zum Abschluß eines Mietvertrags zu benennen. Ein solcher Auftrag gehörte nicht mehr zur Betreuung der Kl. im einstweiligen Verfügungsverfahren, das mit dem Vergleich vom 18. 3. 1993 beendet worden war. Dieser bezieht sich in Nr. 2 auf einen "von der Ast. zu stellenden Nachmieter ... bis zum 15. 5. 1993"; nach ihrem Vortrag hat die Kl. den Bekl. damit betraut, ihre entsprechende eigene Vergleichspflicht wahrzunehmen. Ein solcher Auftrag, auf den sich das Schreiben des Bekl. an den Vermieter vom 10. 5. 1993 bezogen haben kann, war auch nicht mehr umfaßt von einem erstinstanzlich behaupteten Mandat, der Kl. den Zugang zu den Geschäftsräumen zu ermöglichen, um diese den Mietinteressenten zeigen zu können.
II. Das BerGer. hat zu Recht die Berufung auch insoweit für unzulässig gehalten, als die Kl. in der Berufungsbegründung ihren Schadensersatzanspruch in Höhe von 7832 DM hilfsweise darauf gestützt hat, sie hätte diesen Betrag nicht in der Zeit vom 16. 5. 1993 bis 31. 10. 1993 als Nutzungsentschädigung an den Vermieter zahlen müssen, wenn der Bekl. den Mietinteressenten B rechtzeitig dem Vermieter benannt und abredegemäß für die Öffnung des Rolltores gesorgt hätte. Auch insoweit hat die Kl. gemäß der zutreffenden Auslegung des BerGer. ihr Berufungsbegehren auf einen geänderten Klagegrund gestützt. Sie hat Ersatz eines anderen Schadens geltend gemacht, der nach ihrem Vorbringen im Zusammenhang mit dem - erstmals im Berufungsverfahren - behaupteten Auftrag an den Bekl. steht, den Mietinteressenten dem Vermieter zu benennen.
III. 1. Die Berufung ist nicht deswegen zulässig, weil die Kl. in ihrer Berufungsbegründung "vorsorglich" ihren Klageanspruch auf ihr erstinstanzliches Vorbringen gestützt hat. Dies hat das BerGer. zutreffend dahin ausgelegt, die Kl. habe damit ihr erstinstanzliches Schadensersatzbegehren hilfsweise weiterverfolgt. Es kann dahinstehen, ob diese Rechtsmittelbegründung - gemäß der Ansicht des BerGer. - § 519 III Nr. 2 ZPO nicht entspricht. Der Senat gibt seine Ansicht (BGH, NJW 1996, 320 = LM H. 3/1996 § 511 ZPO Nr. 54) auf, eine Berufung sei zulässig, wenn der Berufungskläger in erster Linie einen neuen Antrag stelle, hilfsweise aber den erstinstanzlichen Antrag weiterverfolge. Es ist nicht folgerichtig, die Zulässigkeit eines neuen Hauptantrags allein aus derjenigen eines Hilfsantrags herzuleiten, der nur für den Fall gestellt wird, daß der Hauptantrag unbegründet ist (BGH, NJW-RR 1996, 765 = LM H. 8/1996 § 511 ZPO Nr. 56). Dementsprechend konnte die Kl. das erstinstanzliche Urteil nicht mit der Berufung in der Weise anfechten, daß sie den weiterverfolgten Klageanspruch in erster Linie auf einen neuen Lebenssachverhalt und hilfsweise auf den erstinstanzlichen Klagegrund gestützt hat.
2. Die Kl. konnte die Zulässigkeit ihrer Berufung nicht mehr erreichen, soweit sie nach Ablauf der Frist zur Berufungsbegründung (§ 519 ZPO) erklärt hat, sie mache einen geänderten Klagegrund hilfsweise zum aufrechterhaltenen erstinstanzlichen Begehren oder beide Klagegründe nebeneinander geltend. Auf eine solche Weise kann nicht nachträglich die Beseitigung einer Beschwer durch das erstinstanzliche Urteil zum Gegenstand und Ziel der Berufungsbegründung gemacht werden (vgl. Thomas/Putzo, ZPO, 21. Aufl., § 519 Rdnr. 19).



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