Tierhalterhaftung nach § 833 S. 1 BGB bei Sturz über einen schlafenden Hund (Verwirklichung der typischen Tiergefahr); Haftung für die Verletzung von Verkehrssicherungspflichten


OLG Hamm, Urteil vom 15.02.2013 - I-19 U 96/12


Fundstelle:

noch nicht bekannt


Amtl. Leitsatz:

Gefährdungshaftung des Tierhalters für einen regungslos schlafend im Verkehrsraum liegenden Hund.


Zentrale Probleme:

Ein schöner Sachverhalt zur Tierhalterhaftung nach § 833 BGB: Eine Kundin stürzt beim Verlassen eines Geschäfts über den im Eingangsbereich liegenden Hund einer Angestellten. Da es sich nicht um ein Nutztier handelt, kommt es zu einer verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung nach § 833 S. 1 BGB. Das setzt allerdings voraus, dass sich eine typische Tiergefahr verwirklicht hat. Der Senat bejaht dies mit überzeugender Begründung. Die Klage richtete sich auch gegen die Inhaberin des Ladengeschäftes. Diese haftet nach 823 Abs. 1 BGB unter dem Gesichtspunkt der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht sowie nach §§ 280 I, 241 II BGB (wenn die Kundin beim Eintreten gestürzt wäre: §§ 311 II, 280 I, 241 II BGB). Das Verhalten ihrer Angestellten muss sie sich im Rahmen der Haftung nach §§ 280 I, 241 II nach § 278 BGB zurechnen lassen. S. dazu auch BGH v. 21.12.2010 - VI ZR 312/09 und die dort zitierten Entscheidungen.

©sl 2013


Aus den Gründen:

II. Die Berufungen sind zulässig. Die Berufung der Klägerin ist begründet, die Berufungen beider Beklagten haben keinen Erfolg.
1. Die auf Zahlung gerichteten Klageanträge zu 1. bis 4. sind zulässig und dem Grunde nach ohne Einschränkung begründet. Der Klägerin stehen gegen die Beklagten als Gesamtschuldner (§ 421 BGB) Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld zu, welche nicht durch ein Mitverschulden vermindert werden.

a) Die Beklagte zu 1. trifft als Halterin des Schäferhundes, insoweit abweichend von der Ansicht des Landgerichts, bereits die verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung nach den §§ 833 S. 1, 249 I, 253 II BGB (Tierhalterhaftung).

Es ist auf die tierimmanente Gefahr des Hundes zurückzuführen, dass die Klägerin unstreitig beim Verlassen des Ladenlokals über ihn stürzte und sich am rechten Knie verletzte. Bei der Rechtsgutverletzung der Geschädigten hat sich gerade die dem Tier typischerweise anhaftende Gefahr verwirklicht, indem der Schaden auf der Unberechenbarkeit und Selbstständigkeit tierischen Verhaltens sowie der dadurch hervorgerufenen Gefährdung beruht (vgl. BGH NJW-RR 2006, 813, 814).

Dies ist nach der Rechtsprechung auch der Fall, wenn ein Tier ein gefährliches Verkehrshindernis bildet, weil es sich eigenmächtig ohne Rücksicht auf den Verkehr in den Verkehrsraum begeben hat und dort ruht. Ein solches unbekümmertes Verhalten entspricht der tierischen Natur; in ihm wirkt sich die Gefahr aus, die die Haltung des Tieres mit sich bringt und derentwegen die besondere Tierhalterhaftung geschaffen worden ist. Demgemäß ist nicht darauf abzustellen, dass der Hund regungslos auf dem Boden lag und schlief, sondern darauf, wie das Tier in seine Lage gelangt ist (BGH VersR 1959, 853 f.; 1956, 127 f.; OLG Celle VersR 1980, 430; OLG Köln 19 U 114/10, Beschl. v. 24.8.2010 m. w. N.). Der Hund hat sich nicht etwa aufgrund irgendeiner Einwirkung durch einen Menschen, die ihm keine andere Freiheit ließ, sondern unstreitig frei und von selbst in den einzigen Zugang des Ladens begeben und schlafen gelegt, wobei er diese für den eröffneten Publikumsverkehr neuralgische Stelle aufgrund der Größenverhältnisse so gut wie versperrte, vgl. das Foto Bl. 183 oben und die Skizze Bl. 184 d. A. Der Vergleich der Beklagten mit einer beispielweise an der Stelle verkehrshinderlich abgestellten Getränkekiste ist verfehlt, weil eine solche sich nicht selbst dorthin hätte begeben und die Gefahrenlage schaffen können.

Da der Hund unstreitig nicht dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt der Beklagten zu 1. diente, kann sie sich nach § 833 S. 2 BGB nicht entlasten.

Entgegen ihrer Ansicht ist ihre deliktische Haftung im Außenverhältnis gegenüber der Klägerin auch durch keinerlei Auswirkungen aus ihrem Arbeitsverhältnis beschränkt.

b) Außerdem - insoweit ist dem Landgericht zuzustimmen - ergibt sich die Schadensersatzhaftung der Beklagten zu 1. aus § 823 I BGB, weil sie schuldhaft ihre Verkehrssicherungspflicht gegenüber der Klägerin verletzt hat.
Derjenige, der in seinem Verantwortungsbereich eine Gefahrenlage schafft oder andauern lässt, hat die erforderlichen und zumutbaren Vorkehrungen zur Abwendung von Gefahren zu treffen, die bei der im Einzelfall gebotenen Sorgfalt nach dem typischen, am Ort zu erwartenden Verkehr zu erwarten sind; Voraussetzung ist, dass sich vorausschauend für ein sachkundiges Urteil die naheliegende Gefahr ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden können (st. Rspr., vgl. BGH NJW 2004, 1449 f.; VersR 1959, a. a. O.; Palandt-Sprau, BGB, 72. A., § 823 Rz. 46 m. w. N.). Gemessen daran musste die Beklagte zu 1. jedenfalls eingreifen, wenn sie konkreten Anlass dafür hatte, dass es durch die Anwesenheit ihres Hundes in dem Geschäftslokal zu einer Gefährdung Anderer kommen konnte.

Einen solchen Anlass hatte sie hier nach ihrer eigenen persönlichen Darstellung gegenüber dem Senat. Danach habe sie, als sie mehrere Minuten die Klägerin an der Kasse bediente, bemerkt, dass der Hund neben der Kassentheke, wo er sich bis dahin befand, aufstand und wegging. Sie habe deshalb - zutreffend - damit gerechnet, dass er sich wie schon gewohnt und ihr bekannt auf seinem Lieblingsplatz auf der Matte im einzigen Ladenzugang ablegte. Damit lag er in Gehrichtung zum Ausgang unstreitig nur etwa 1,5 m -für einen Erwachsenen kaum zwei Schritte- unmittelbar im Rücken der Klägerin (vgl. die Fotos und Skizze wie oben), die bezahlte und das Lokal verlassen würde. Es war deshalb nicht nur objektiv vorhersehbar, sondern für die Beklagte zu 1. zu erkennen, dass die Klägerin, die erkennbar den Hund dort nicht bemerkt hatte, ihn beim Hinausgehen übersehen und über ihn stürzen konnte. Die Beklagte zu 1. hätte sie deshalb davor warnen bzw. den Hund wegschaffen müssen. Dass die Beklagte dies unstreitig nicht tat, begründet bei der gegebenen Sachlage den Vorwurf der Fahrlässigkeit, weil sie außer Acht gelassen hat, was von einem Verständigen in ihrer Lage und mit ihrer Kenntnis zu erwarten war (§ 276 II BGB).

c) Weil sie sich über § 278 BGB diese ursächliche und schuldhafte Pflichtverletzung zurechnen lassen muss, folgt die Schadensersatzhaftung der Beklagten zu 2. aus dem Unterbleiben der Verkehrssicherung durch sie als Geschäftsinhaberin, die sie als Nebenpflicht aus dem Kaufvertrag mit der Klägerin schuldete (§§ 433, 241 II, 280 I, 249 I, 253 II BGB). Die vertraglichen Verkehrssicherungspflichten decken sich mit den allgemeinen, s.o.; die Beklagte zu 1. hatte als Ladenangestellte diese Pflichten für die Beklagte zu 2. gegenüber der Klägerin wahrzunehmen (Palandt-Grüneberg, a. a. O., § 278 Rz. 13, 18 m. w. N.).

Es handelt sich nicht etwa nur um eine Pflichtverletzung der Beklagten zu 1) bei Gelegenheit der Vertragserfüllung ohne sachlichen Zusammenhang mit ihr obliegenden Aufgaben. Dagegen spricht schon, dass die Beklagte zu 2) ihr die Mitnahme des Hundes seit langer Zeit gestattet hatte.

2. Der Feststellungsantrag zu 2. (ursprgl. zu 5.) hat ebenfalls Erfolg.
Das Feststellungsinteresse (§ 256 ZPO) ist zu bejahen. Dem Einwand einer angeblich abgeschlossenen Schadensentwicklung ist die Klägerin (Bl. 170 d. A.) mit dem substantiierten, unter Sachverständigenbeweis gestellten und nicht entsprechend konkret widersprochenen Vortrag entgegengetreten, es sei zu besorgen, dass ihr als Folge des Sturzes noch ein künstliches Kniegelenk eingesetzt werden müsse. Da dies nicht nur möglich ist, sondern sich nach der Lebenserfahrung angesichts der diagnostizierten Knieverletzungen (Tibiakopffraktur, Teilruptur des vorderen Kreuzbandes, Außenmeniskusquetschung) eine gewissen Wahrscheinlichkeit nicht verneinen lässt, ist der Antrag auch begründet (vgl. BGH NJW-RR 2007, 601).

3. Ein Mitverschulden (§ 254I BGB), das der Klägerin anzulasten wäre, haben die Beklagten abweichend von der Ansicht des Landgerichts nicht bewiesen.

Nach dem aufgrund des Beweisergebnisses zugrunde zu legenden Hergang hat sie die Sorgfalt gewahrt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch in der Situation zu beachten hatte, um eigenen Schaden zu vermeiden. Aufgrund der schon dargestellten Enge im räumlichen und zeitlichen Ablauf musste sie den Hund direkt hinter ihr beim Wegwenden von der Kasse und Hinausgehen, bei dem man den Blick - über das Tier hinweg - nach vorne geradeaus richtet bzw. kurz bei der Verabschiedung den Umstehenden zuwendet, wie von der Beklagten zu 1. und der Zeugin Y geschildert, auch bei gehöriger Aufmerksamkeit ungeachtet seiner Größe nicht wahrnehmen, zumal er nach ihrer unwiderlegten Einlassung flach auf dem Boden gelegen habe. Entgegen der Ansicht der Beklagten besteht in einer derartigen Situation nach der Rechtsprechung keine Pflicht, den Blick ohne einen Anhaltspunkt sofort nach unten zu richten und den Boden vor sich auf etwaige Hindernisse zu kontrollieren. Für die Richtigkeit dieser Einschätzung der Situation spricht die Aussage der Zeugin Y, die als einzige Unbeteiligte das Geschehen direkt mit verfolgt und ihren Eindruck bekundet hat, dass sie, wäre sie an der Stelle der Klägerin gewesen, ebenfalls über den Hund gefallen wäre.
Wollte man der Klägerin überhaupt den Vorwurf eines Mitverschuldens machen, wäre dieses auf den Grad leichtester Fahrlässigkeit beschränkt und würde deshalb hinter dem schwereren Verschulden der Beklagten vollständig zurücktreten.