Sachverhalt:
Die Klägerin hatte im März 1920 der Beklagten
ein Preisverzeichnis, enthaltend ein freibleibendes Angebot über die
von ihr geführten Waren geschickt. Darin war Weinsteinsäure,
kristallisiert, mit einem Preise von 68,50 M aufgeführt. Am 20. März
telegraphierte die Beklagte der Klägerin: " Erbitten Limit über
hundert Kilo Weinsteinsäure Gries bleifrei." Die Klägerin antwortete
am 22.: "Weinsteinsäure Gries bleifrei Kilogramm 128 M Nettokasse
bei hiesiger Übernahme." Darauf telegraphierte die Beklagte:"Hundert
Kilo Weinsteinsäure Gries bleifrei geordnet, briefliche Bestätigung
unterwegs." Als die schriftliche Bestätigung erfolgte, stellte sich
heraus, daß jeder der beiden Teile hatte verkaufen wollen und demgemäß
die Gegenseite als Käufer angesehen hatte. Die Klägerin ließ
die Ware, da die Klägerin Abnahme und Zahlung verweigerte, öffentlich
versteigern. Den Unterschied zwischen dem nach ihrer Meinung vereinbarten
Kaufpreis und dem Versteigerungserlöse forderte sie als Schadensersatz.
Das Landgericht sprach der Klägerin zwei
Drittel ihres Schadens zu und wies weitere Forderungen ab. Das Berufungsgericht
gab der Klage zur vollen Höhe statt. Die Revision der Beklagten hatte
Erfolg.
Gründe:
Es liegt zutage, daß aus den von den Parteien
gewechselten Telegrammen nirgends ersichtlich war, wer kaufen und wer verkaufen
wollte. Nach den Parteibehauptungen ist die Sachlage so gewesen, daß
jeder, sowohl die Klägerin als auch die Beklagte, verkaufen wollte.
Das Berufungsgericht nimmt an, angesichts des
Umstands, daß die Klägerin der Beklagten kurze Zeit vorher in
einem Preisverzeichnis kristallisierte Weinsteinsäure unter bestimmten
Zahlungsbedingungen angeboten habe, habe die Beklagte aus dem Telegramm
der Klägerin, das die gleichen Zahlungsbedingungen enthielt, ersehen
müssen, daß die Klägerin verkaufen wollte. Diese Auslegung
des klägerischen Telegramms müsse die Beklagte gegen sich gelten
lassen; deshalb sei ein Kauf zustande gekommen und die Klage berechtigt.
Die Revision wendet ein: Da beide Parteien in
Wahrheit verschiedenes gewollt hätten, liege Einigungsmangel vor.
Dieser sei nicht durch die Erwägung aus der Welt zu schaffen, daß
der Beklagten, wie das Berufungsgericht annehme, bei der Auffassung des
klägerischen Telegramms ein Verschulden unterlaufen sei; denn trotzdem
bleibe es immer dabei, daß keine der Parteien habe kaufen wollen,
und daß deshalb ein Vertrag nicht zustande gekommen sei. Ob aus dem
angenommenen Verschulden andere Folgen herzuleiten seien, könne dahingestellt
bleiben.
Dieser Ausführung der Revision ist zwar nicht
beizutreten; denn in der Tat ist es so, wie es das Berufungsgericht annimmt.
Wenn dem klägerischen Telegramm verkehrsüblich nach den gesamten
Umständen ein über den Wortlaut hinausgehender Sinn zu entnehmen
gewesen wäre, dann müßte die Beklagte diesen gegen sich
gelten lassen; es wäre ein Vertrag zustande gekommen, und es könnte
nur noch eine Anfechtung in Frage kommen. Aber dem Berufungsgericht kann
nicht zugestimmt werden, daß nach richtigen Auslegungsgrundsätzen
aus dem klägerischen Telegramm zu entnehmen gewesen wäre, daß
die Klägerin verkaufen wollte. (wird näher ausgeführt und
dann fortgefahren:) Es liegt deshalb ein wirklicher Einigungsmangel vor.
Beide Teile haben Worte gebraucht, die scheinbar zueinander paßten,
haben aber mit diesen Worten einen Sinn verbunden, der eine Einigung hinderte.
Ein Kaufvertrag ist daher nicht zustande gekommen.
Nun ist die Sache so, daß beide Parteien
an dem Mißverständnis Schuld tragen. Jede von ihnen hat sich,
vermutlich um Worte zu sparen, unklar ausgedrückt. Die Klägerin
hat telegraphiert: erbitten Limit über ... Weinsteinsäure." Das
Wort Limit, seiner Wortform nach aus dem Englischen stammend, bedeutet
Grenze. Es kann also nur gebraucht werden, wo irgend ein Spielraum begrenzt
werden soll, sei es, daß ein Verkaufsauftrag nach unten oder ein
Einkaufsauftrag nach oben begrenz wird. Was die Beklagte im Sinne hatte,
war: sie wollte ein äußerstes Gebot auf 100 kg Weinsteinsäure
erbitten. Hätte sie das gesagt, so wäre ein Mißverständnis
nicht möglich gewesen. Das gleiche gilt für die Klägerin.
Hätte sie statt "Weinsteinsäure 128 M" telegraphiert: " anbieten
Weinsteinsäure ... 128", so wäre jeder Zweifel ausgeschlossen
worden. Statt dessen hat keiner von ihnen verständlich gesagt, was
er wollte. Beiden von ihnen fällt also ein Versehen zur Last. Mit
dem Landgericht ist im übrigen anzunehmen, daß das Versehen
der Beklagten das größere ist; sie leitete die Verhandlungen
ein, hatte also besonderen Anlaß, sich deutlich auszudrücken.
Erfüllung kann deshalb die Klägerin
nicht fordern. Es fragt sich aber, ob bei der geschilderten Sachlage Raum
für einen Schadensersatzanspruch ist. In der Rechtslehre wird das
von einigen bejaht, von anderen verneint. Allgemein anerkannt ist, daß
wenn ein Vertrag zustande gekommen ist, Schaden für culpa in contrahendo
gefordert werden kann. Für den Fall, daß ein Vertrag nicht zustande
gekommen ist, läßt das Gesetz die Forderung des negativen Vertragsinteresses
(sog. Vertrauensschadens) für manche Sachlagen zu: so im § 122
(Anfechtung einer Willenserklärung wegen Irrtums), § 179 (mangelnde
Vertretungsbefugnis eines Vertreters), § 307 (wissentliches oder fahrlässiges
Versprechen einer unmöglichen Leistung), § 309 (Abschluß
eines gesetzwidrigen Vertrags). Ob diese Grundsätze auf ähnliche
Fälle ausgedehnt werden können, darüber herrscht Streit.
Doch haben Rechtsprechung und Rechtslehre bereits eine Ausdehnung auf ähnliche
Fälle vorgenommen. Beruht es bei einem zeitlich begrenzten Angebot
auf beiderseitigem Verschulden, daß die Annahme beim Anbietenden
nicht rechtzeitig zugeht, so daß ein Vertrag nicht zustande gekommen
ist, so ist nach BGB, Bd. 97 S. 339 der dem Annehmenden entstehende Schaden
zwischen beiden Parteien zu teilen. Antwortet ein Spediteur, der sich öffentlich
zur Versorgung von Speditionsgeschäften erboten hat, auf einen Auftrag
nicht, so kommt zwar ein Vertrag nicht zustande, aber er haftet nach §
663 BGB. (vergl. Dernburg, Bürgerl. Recht 4. Aufl. II, 1, § 295
bei Anm. 5) auf das negative Interesse. Die Erwägungen, aus denen
der Gesetzgeber zu den oben erwähnten Bestimmungen gelangt ist, lassen
sich aus den Protokollen 2. Lesung zu § 97 Entw. I, Bd. 1 S. 99 ersehen.
Bei Erörterung der Anfechtung wegen nicht ernstlich abgegebener Willenserklärung
meinte man, es entspreche der Billigkeit, dem Erklärenden als demjenigen,
der den Anlaß zu dem Rechtsgeschäft gegeben habe, die Verpflichtung
zum Schadensersatz aufzuerlegen, wenn ein Dritter, der den Mangel der Ernstlichkeit
nicht gekannt habe noch ihn habe kennen müssen, im Vertrauen auf die
Willenswirklichkeit der Erklärung zu Schaden gekommen sei. Diese Erwägungen
führten bei der Irrtumsanfechtung zur Festsetzung derselben Folgen
für den Anfechtenden. Auf S. 452 wird sodann betont, daß diese
Entschädigungspflicht aus Rücksichten auf die Verkehrssicherheit
festgesetzt sei. Dieselben Gründe, Billigkeit und Rücksicht auf
die Verkehrssicherheit, rechtfertigen es auch für den vorliegenden
Fall eines sogenannten versteckten Dissenses die gleichen Grundsätze
anzuwenden. Denn es entspricht in der Tat der Billigkeit und den Erfordernissen
der Verkehrssicherheit, demjenigen, der sich fahrlässigerweise derartig
ausdrückt, daß er bei der Gegenpartei ein Mißverständnis
hervorruft, mit der Haftung der daraus entstehenden Schadensfolgen zu belasten.
Der vorliegende Fall bietet keinen Anlaß zu einer Erörterung,
ob dasselbe zu gelten haben würde, wenn Fahrlässigkeit nicht
gegeben ist. Nun ist zwar oben schon dargelegt worden, daß nicht
nur der Beklagten, sondern auch der Klägerin ein Versehen vorzuwerfen
ist, und es könnte danach die Frage entstehen, ob der Anspruch der
Klägerin durch ihr eigenes Versehen beseitigt wird. Das ist jedoch
nicht der Fall. Der Anspruch der Klägerin würde wegfallen (ähnlich
wie in den Fällen der §§ 122, 179, 307, 309), wenn sie infolge
eines eigenen Versehens die gegnerische Erklärung falsch aufgefaßt
hätte. So ist die Sachlage aber nicht. Die Klägerin konnte sehr
wohl der Meinung sein, daß die Beklagte kaufen wollte. Das Versehen
der Klägerin beruhte vielmehr darin, daß sie nunmehr ihrerseits
sich ebenfalls mißverständlich ausdrückte und dadurch bei
der Beklagten gleichfalls einen Irrtum hervorrief. Bei einer solchen Sachlage
beseitigt das Versehen des Geschädigten selbst nicht seinen Anspruch,
weil dieser ja nicht etwa die wahre Willensmeinung des Gegners nach der
Ausdrucksweise des Gesetzes "hätte erkennen müssen", sondern
es bewirkt nur, daß der entstandene Schaden gemeinschaftlich nach
dem Grade des beiderseitigen Verschuldens zu tragen ist, weil beide an
der Entstehung des Schadens gleicherweise Schuld haben. Der Schaden,
der danach teilweise zu ersetzen ist, besteht nun aber nicht in dem Erfüllungsinteressse,
sondern in dem sogenannten negativen Vertragsinteresse. Die Billigkeit
gebietet nicht, der Klägerin den Gewinn zuzusprechen, den sie gemacht
hätte, wenn ein Vertrag zustande gekommen wäre; vielmehr soll
sie nur - ganz oder nach der Lage dieses Falls teilweise - Ersatz des Schadens
erhalten, den sie dadurch erlitten hat, daß sie gutgläubig infolge
der mißverständlichen gegnerischen Ausdrucksweise annahm, daß
die Beklagte verkaufen wollte. Nur das entspricht auch der gesetzlichen
Schadensregelung in den oben angegebenen Fällen der Irrtumsanfechtung
usw. Ein solcher negativer Vertragsschaden ist von der Klägerin geltend
gemacht worden ... Lassen sich die Behauptungen der Klägerin erweisen,
so besteht das negative Vertragsinteresse der Klägerin in dem Unterschiede
zwischen dem Eindeckungspreis und dem Marktpreis oder dem möglichen
Verkaufspreise desjenigen Tags, an dem die Klägerin erfuhr, daß
die Beklagte nicht kaufen, sondern verkaufen wollte, an welchem Tage also
die Klägerin die Ware wieder hätte abstoßen können.