Taschengeld, Einwilligung, Surrogat und die "sittlichen Gefahren" des Automobils: Lotteriefall

Reichsgericht; Urt. v. 29. September 1910, IV 566/09.

Fundstelle:

RGZ 74, 235



Der Kläger, ein damals im 17. Lebensjahr stehender Schüler, hatte ohne Zustimmung seines Vaters von der verklagten Firma ein Kraftfahrzeug nebst Zubehör für 3200 M gekauft und bar bezahlt. Die Mittel hierzu stammen aus einem Lotteriegewinn von 4000 M, den der Kläger gemacht hatte. Das Gewinnlos hatte er sich mit einem Taschengelde von wöchentlich 3 M erworben, das er von seiner Großmutter gewährt und von seinem Vater zur freien Verfügung überlassen erhalten hatte. Der Kläger forderte die gezahlten 3200 M nebst Zinsen zurück. Beide Vorinstanzen verurteilten die Beklagte. Ihre Revision ist zurückgewiesen worden aus folgenden Gründen:

"§ 110 BGB enthält keine Ausnahme von dem Grundsatze des § 107, wonach der Minderjährige zu einer Willenserklärung, durch die er nicht lediglich einen rechtlichen Vorteil erlangt, der Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters bedarf. Er gestattet nur, der Sitte und dem Verkehrsbedürfnis Rechnung tragend (Begründung zu § 69 des I. Entwurfs), daß diese Einwilligung durch Überlassung gewisser Mittel an den Minderjährigen vom Vertreter im allgemeinen erklärt wird, und läßt das vom Minderjährigen geschlossene Geschäft auch ohne besondere Zustimmung sowohl nach der dinglichen wie nach der schuldrechtlichen Seite von Anfang an wirksam werden, wenn es demnächst vom Minderjährigen aus den überlassenen Mitteln erfüllt wird. Das Wesentliche bleibt also auch in den Fällen des § 110 die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters. Dafür, wieweit diese Einwilligung reicht, ist erstens maßgebend das Gesetz, das ihr in den §§ 1644, 1824, 1822 von vornherein bestimmte Grenzen zieht. Zum andern aber auch der Inhalt der Einwilligungserklärung selbst, die, wie jede Willenserklärung, eine, sei es auch nur stillschweigend ausgedrückte, mehr oder minder weitgehende Beschränkung in sich trage kann. Schon das Gesetz ergibt ("zu diesem Zwecke" ), daß die Einwilligung auf die Erfüllung eines bestimmten, vom Minderjährigen geschlossenen Vertrages beschränkt sein kann. Es darf aber nicht bezweifelt werden, daß die Überlassung "zur freien Verfügung" dem Minderjährigen nach dem Willen des Vaters oder Vormundes auch bloß ein Mehr oder Minder von Freiheit gewähren kann. Keinesfalls läßt sich sagen, daß der gesetzliche Vertreter nur die Wahl habe, entweder es bei der gesetzlichen Regel des § 107 zu belassen oder mit Einräumung der freien Verfügungsgewalt nun auch alles und jedes gutzuheißen, was der Minderjährige mit dem ihm überlassenen Mitteln anzufangen für gut findet. Es mag im einzelnen Falle nicht immer leicht sein, dabei die Grenzen der Ermächtigung so richtig abzustecken, das auch das Interesse des mit dem Minderjährigen paktierenden Dritten und damit die Verkehrssicherheit gewahrt bleibt. Im Streitfalle ist es rechtlich unbedenklich, wenn der Berufungsrichter angenommen hat, der in einfachen Verhältnissen lebende Vater sei niemals damit einverstanden gewesen, daß der 17-jährige, eine Unterrichtsanstalt besuchende Kläger den durch Ankauf eines Lotterieloses aus seinem geringen Taschengelde ihm zugefallenen großen Gewinn zum Ankaufe eines Kraftfahrzeuges und zum Betriebe eines kostspieligen, auch sittliche Gefahren aller Art mit sich bringende Sports verwende. Nach den einwandfreien Feststellungen des Berufungsrichters haben auch die Beklagten bei Abschluß des Geschäfts die beschränkte Tragweite der väterlichen Zustimmung erkannt oder doch erkennen müssen. Es kann ihnen nicht gestattet sein, aus einem ihnen zur Fahrlässigkeit gereichenden Geschäftsabschlusse  mit einem Minderjährigen durch Berufung auf § 110 BGB Vorteile zu ziehen. Sie sind deshalb mit Recht nach dem Klagantrage verurteilt."...



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