Qualifikation im IPR bei Systemunterschieden ("Nachfrage"): Die "unsterbliche Blamage" des Reichsgerichts ("Tennessee-Wechsel-Fall") RG, I. Zivilsenat. Urt.v.4. Januar 1882 i.S. J. (Bekl.) W.H. (Kl.) Rep. I 636/81 Fundstelle: RGZ 7, 21 ff Zentrale Probleme: Probleme der Qualifikation
ergeben sich auch hinsichtlich des materiellen Rechts ausländischer
Rechtsordnungen, wenn es um die Reichweite einer durch das deutsche
Kollisionsrecht ausgesprochenen Verweisung geht (sog. "Nachfrage"): Durch
die unterschiedlichen Systembegriffe verschiedener Rechtsordnungen kann es
vorkommen, daß bestimmte Regelungen unterschiedlich zugeordnet werden. So
ist etwa die Frage der Verjährung im deutschen Recht dem materiellen Recht
zugeordnet. Verweist nun etwa das deutsche Recht bezüglich eines Anspruchs
auf eine bestimmte ausländische Rechtsordnung, so beinhaltet diese
Verweisung nach den Systembegriffen des deutschen Rechts, weil sie alle
materiellrechtlichen Fragen erfaßt, auch dessen Verjährung. Wenn nun aber
die verwiesene Rechtsordnung im materiellen Recht keine Verjährungsregel
enthält, weil es die Verjährung als prozeßrechtliches Rechtsinstitut
begreift, stellt sich die Frage, ob die Verweisung des deutschen
Kollisionsrecht nunmehr auch die prozeßrechtliche Regelung der verwiesenen
Rechtsordnung erfaßt, obwohl ein deutsches Gericht stets deutsches und
nicht ausländisches Prozeßrecht anwendet (lex fori-Maxime). Leitsatz: Hat der deutsche Richter, wenn die eingeklagte Forderung materiell nicht dem am Sitze des Prozeßgerichtes geltenden, sondern einem Rechte des Auslandes unterliegt, nach diesem aber die Verjährung ein lediglich prozessuales, die Forderung selbst nicht affizierendes Institut ist und der Richter stets nur sein einheimisches Recht anzuwenden hat, die Einrede der Verjährung nach deutschem Rechte zu beurteilen, oder dieselben, obwohl sie nach diesem (Art. 100 W.O.) begründet sein würde, zu verwerfen? Aus den Gründen: ..."Die in die Rede stehenden promissory notes sind sämtlich im Staate Tennessee, wo der Beklagte damals seinen Aufenthalt hatte, ausgestellt und in Ermangelung der Angabe eines anderen Zahlungsortes auch als dort (bzw. In Nashville und Hartsville) zahlbar anzusehen. Obwohl der Beklagte später seinen Wohnsitz nach Bremen verlegt hat, und hier die Klage gegen ihn erhoben ist, unterliegen sie daher nicht dem hier geltenden materiellen Rechte, sondern demjenigen des Ortes, wo die aus ihnen entstehenden Obligationen ihren Sitz hat, also im Rechte des Staates Tennessee. Nach der in Deutschland vorherrschenden Ansicht, vgl. Seuffert Archiv Bd. 13 Nr. 5 und Entsch. d. R.O.H.G’s Bd. 14 Nr. 82 S. 258 flg., Bd. 18 S. 187, welcher sich auch das Reichsgericht bereits in wiederholten Entscheidungen angeschlossen hat (vgl. Entscheidung in Zivils. Bd. 2 Nr. 6 S. 13 ffg.); ist aber die Klageverjährung nicht ein prozessualisches Institut, sondern als dem materiellen Rechte angehörig anzusehen, und ist daher auch die Einrede der Verjährung der eingeklagten Forderung nach demjenigen Rechte zu beurteilen, welches für die Obligation auch im übrigen als maßgebend erscheint. Nach der Feststellung des ersten Richters, dessen Gründen der Berufungsrichter beigetreten ist, ist nun durch das gerichtsseitig eingeholte Gutachten bewiesen, dass die Verjährungszeit für promissory notes der vorliegenden Art nach den Gesetzen von Tennessee sechs Jahre vom Verfalltage an beträgt, dass aber diese Verjährungszeit unterbrochen wird, während der Schuldner außerhalb des Staates Tennesse weilt, wobei es keinen Unterschied macht, ob der Schuldner beim Verlassen des Staates den Gläubiger von seinem zukünftigen Wohnorte in Kenntnis setzt, und ob der Wohnort des Schuldners leicht zu erfahren ist, oder ob der Gläubiger den Wohnort des Schuldners und die Möglichkeit, Klage zu erheben, stets gekannt hat. Als eine ganz richtige Folgerung aus dieser Feststellung des Bestehens und des Inhaltes jener Rechtssätze, welche für die Revision - da es sich um ausländisches Recht handelt - nach § 525 SPO an sich maßgebend ist, erscheint es aber, wenn hieran unter Bezugnahme auf die unstreitige Tatsache, dass der Beklagte schon bald nach Verfall der hier fraglichen Noten den Staat Tennessee verlassen hat und nicht wieder dorthin zurückgekehrt ist, die Bemerkung geknüpft wird, die Verjährung habe hiernach seitdem geruht und der Beklagte würde, wenn er in Tennessee aus den Noten in Anspruch genommen wäre, mit der Einrede der Verjährung zurückgewiesen sein. Der Verfasser des Gutachtens führt nun freilich weiter aus, jene Verjährungsgesetze (statute of limitations) berührten die Forderung selbst nicht, d.h. die Noten seinen nach sechs Jahren an sich noch ebenso gut, wie vorher; sie bezögen sich vielmehr bloß auf das Klagrecht (the remedy), so dass der Gläubiger seine Forderung behalte, sie aber nach Eintritt der Verjährung in Tennessee nicht mehr gerichtlich einziehen könne; ein jeder Staat der Union habe sein eigenes Verjährungsgesetz, und da diese Gesetze meist von einander abwichen, so habe z.B. der Gläubiger, wenn der Schuldner aus Tennessee nach dem Staate Missouri übersiedele, dessen Gesetz die Frist von zehn Jahren statuiere, das unbestreitbare Recht, seine Forderung dort noch bis zum Ablaufe von zehn Jahren gerichtlich geltend zu machen, wogegen die Forderung in Georgia nur innerhalb fünf Jahren gegen den Schuldner eingeklagt werden könne. Alle diese Gesetze seien nämlich leges fori (nicht leges loci contractus), und die Gerichte eines jeden Staates entschieden nur nach ihren eigenen Verjährungsgesetzen. Hieraus zieht der Verfasser des Gutachtens dann den Schluß, dass im vorliegenden Falle das Verjährungsgesetz von Tennessee überhaupt nicht angewendet werden könne, sondern vielmehr das etwa am Orte der Klagestellung existierende Verjährungsgesetz maßgebend sei. Dieser Schlußfolgerung ist aber, wenn sie dahin zu verstehen ist, dass die hier fragliche Forderung der deutschen, also nach Art. 100 W.O.der dreijährigen Verjährung unterliege, nicht beizutreten. Denn die Verjährung der Forderungen liegt an sich nicht in der rechtliche Natur derselben, sondern gehört dem positiven Rechte an und die desfalligen Bestimmungen des deutschen Rechtes sind weder prozessualer Natur noch sonstwie als Vorschriften von absolutem Charakter geeignet. Der deutsche Richter hat daher das einheimische Verjährungsrecht nur auf solche Forderungen anzuwenden, welche dem materiellen deutschen Rechte überhaupt unterliegen, was aber bei dem Anspruche aus den hier fraglichen promissory notes nicht der Fall ist, da vielmehr das materielle Recht des Staates Tennessee auf sie angewendet werden muß. Sollte nun die obige Ausführung des Gutachtens, nach welcher die Verjährungsgesetze des Staates Tennessee wie der übrigen Staaten der Union lediglich prozessualer Natur sind, richtig sein, so würde hieraus zwar folgen, dass nach amerikanischen Rechte nur die Klagbarkeit der Forderungen durch prozessuale Vorschriften zeitlich beschränkt ist, die Forderungen selbst aber - wie auch das Gutachten annimmt und von dem deutschen Konsul in dessen Schreiben bestätigt wird - ungeachtet des Ablaufes der Verjährungszeit unverändert fortbestehen, materiell also einer Verjährung überhaupt nicht unterliegen. Daraus ergibt sich aber für den deutschen Richter, für welchen die Verjährung ein Institut des materiellen Rechtes ist, nicht etwa die Konsequenz der Anwendbarkeit der für Forderungen, welche ihren Sitz am Orte des Prozeßgerichtes haben, geltenden Verjährungszeit, sondern vielmehr die Verwerflichkeit der Einrede der Verjährung, da die für die Gerichte in Tennessee bestehende prozessuale Bestimmung für die deutschen Gerichte nicht existiert, während andererseits die materiellrechtliche deutsche Verjährung sich nicht auf die hier fraglichen Forderungen bezieht, weil diese ihren Sitz im Auslande haben. Ein materieller Rechtssatz des in Tennesse geltenden Rechtes des Inhaltes, dass die Verjährung der in diesem Staate entstandenen Verbindlichkeiten nach den Gesetze des Ortes, wo sie eingeklagt werden, zu beurteilen sei, läßt sich, wenn der dortigen Auffassung zufolge die Verjährung ein prozessuales, die Forderung selbst unberührt lassendes Institut ist, nicht annehmen. Mit Recht haben daher auch schon die Vorinstanzen unter Bezugname auf die Entscheidung des Reichsgerichtes in Bd. 2 der Zivilsachen Nr. 6 S. 13jene Schlußfolgerung des Gutachtens aus dem Grunde reprobiert, weil die in Tennessee geltenden prozessualen Grundsätze und Auffassungen den deutschen Richter nicht binden"... |