RG-Klassiker: Voraussetzungen der ergänzenden Testamentsauslegung


Reichsgericht, Urteil vom 22. April 1920 IV B 2/20


Fundstelle:

RGZ 99, 82


Leitsatz:

Kann in der Erbeinsetzung eines Geschwisterkindes u.U. eine stillschweigende Ersatzberufung von Abkömmlingen des Eingesetzten insbesondere auch dann gefunden werden, wenn der Erblasser bei der Testamentserrichtung an die Möglichkeit des Wegfalls des Eingesetzten nicht gedacht hat?


Die Frage ist bejaht worden aus folgenden

Gründen:

Die am 1. März 1919 im Alter von 80 Jahren gestorbene Schmiedemeisterswitwe Bi. hat in ihrem am 9. November 1916 auf dem Krankenbett errichteten Testament unter Nr. 1 bestimmt:

"Zu meinen Erben zu gleichen Rechten und Anteilen ernenne ich die verwitwete Halbbauer Bä. Wilhelmine geb. Br. und den Halbbauer Ernst Br."

Unter Nr. ohne II a – d hat die Erblasserin vier Personen je 300,- M vermacht. Die beiden eingesetzten Erben sind Kinder einer Schwester der Erblasserin. Ernst Br. hat den Erbfall nicht erlebt. Er ist am 26. Februar 1918 im Alter von 57 Jahren gestorben und hat seine Frau und 10 Kinder hinterlassen. Von diesen ist ein Sohn im Alter von 18 Jahren ebenfalls noch vor der Erblasserin gestorben. Der älteste Sohn, Arbeiter Wilhelm Br., hat einen gemeinschaftlichen Erbschein des Inhalts beantragt, daß die Erblasserin zur Hälfte von der Witwe Wilhelmine Bä. und zu je 1/18 von ihm und seinen acht noch lebenden Geschwistern beerbt worden sei. Er vertritt die Auffassung, daß gemäß dem entsprechend anwendbaren § 2069 BGB an die Stelle des von der Erblasserin berufenen Ernst Br., ihres "mit Glücksgütern wenig, mit Kindern reich gesegneten" Schwestersohnes, bei dessen vorzeitigem Tode seine die Erblasserin überleben den Kindern als Ersatzerben getreten seien.

Das Nachlaßgericht hat dem Antrag abgelehnt, da Ernst Br. kein Abkömmling der Erblasserin sei und § 2069 BGB deshalb keine Anwendung finde. Das Landgericht hat die Beschwerde des Antragstellers, nachdem dieser auf eine Zwischenverfügung erklärt hatte, über das Verhältnis der Vermächtnisnehmer zu der Erblasserin keine Angaben machen zu können, mit der Begründung zurückgewiesen: Die Anwendung der Vorschrift des § 2069 auf die Abkömmlinge anderer Personen als des Erblassers unterliege freier richterlicher Auslegung. Es müssten aber besonderer Anhaltspunkte gegeben sein, die auf dem Willen des Erblassers schließen ließen, daß der benannte Erbe nur in erster Linie bedacht sei und die Zuwendung bei seinem Wegfalle für seine Abkömmlinge gelten sollte. In der vorliegenden Sache spreche weder eine Bestimmung des Testaments noch ein sonstiger Umstand, auch nicht ein Verwandtschaftsverhältnis der Vermächtnisnehmer zu der Erblasserin, für die Annahme, daß die Erblasserin für den Fall des vorzeitigen Todes von Ernst Br. dessen Abkömmlinge habe berufen wollen.

Gegen den landgerichtlichen Beschluß hat der Beschwerdeführer die weitere Beschwerde eingelegt. Das Kammergericht hält diese für unbegründet, weil das Testament neben der ohne nähere Erläuterung ausgesprochene Erbeinsetzung von Ernst Br. keine Bestimmung enthalte, die einen Anhalt dafür gewähre, daß die Erblasserin eine Ersatzberufung der Kinder des Genannten beabsichtigt habe, und weil ohne einen solchen durch den Inhalt des Testaments gegebenen Anhalt auf Grund der bloßen Erbeinsetzung des Geschwisterkindes ein Ersatzberufung von dessen Abkömmlinge auch dann nicht angenommen werden könnte, wenn ein darauf gerichteter Wille der Erblasserin aus sonstigen Umständen sollte ermittelt werden können. Das Kammergericht befindet sich mit seiner schon in früheren Entscheidungen (…) vertretenen grundsätzlichen Auffassung in Übereinstimmung mit dem auf weitere Beschwerde ergangenen Beschlüssen OLG … und mit den Urteilen …, setzt sich dagegen in Widerspruch mit dem in der Rechtsprechung des Senats insbesondere in den Urteilen vom 3. April 1911, IV 334/10 (Jur. Wochenschrift 1911 S. 544 Nr. 24) und vom 23.11.1916, IV 224/26 (Gruchot Bd. 61 S. 324) entwickelten Satze, daß auch in anderen als den von § 2069 BGB getroffenen Fälle in der Erbeinsetzung einer Person ein, wenngleich unvollkommener Ausdruck gefunden werden kann für einen unter Berücksichtigung von Umständen außerhalb des Testaments festzustellenden weitergehenden, auf die Ersatzberufung der Abkömmlinge in der Person gerichteten Willen; vgl. auch die Urteile vom 12. September 1912, IV 328/12 (Recht 1913 Nr. 700) und vom 29. September 1919, IV 156/19 (Seuff. A. Bd. 75 Nr. 37).
Wegen dieses die Voraussetzungen des § 28 Absatz 2 FGG erfüllen den Widerspruchs hat das Kammergericht die weitere Beschwerde dem Reichsgericht vorgelegt. Das Reichsgericht hat deshalb über die weitere Beschwerde zu entscheiden. Die weitere Beschwerde ist zulässig, erweist sich auch als begründet.
Nach § 2069 BGB ist, wenn der Erblasser einen seiner Abkömmlinge bedacht hat und dieser nach der Errichtung des Testaments wegfällt, im Zweifel anzunehmen, daß die Abkömmlinge des Weg gefallenen insoweit bedacht sind, als sie bei der gesetzlichen Erbfolge an seine Stelle treten würden. Damit ist für einen Sonderfall ausdrücklich vorgeschrieben, es sei die Einsetzung (als Erbe oder als Vermächtnisnehmer), wenn kein anderer Wille des Erblassers erhelle, dahin auszulegen daß sie zugleich die Ersatzberufung der Abkömmlinge des Eingesetzten enthalte. Ein in der Kommission für die zweite Lesung des Gesetzentwurfs gestellter Antrag, die Regel des § 2069 (= § 1773 Entw.) auch auf letztwillige Zuwendungen an die Abkömmlinge einer anderen Person als des Erblassers auszudehnen, ist mit der Begründung abgelehnt worden: Die Willensrichtung des Erblassers auf eine Ersatzberufung der Abkömmlinge des Bedachten lasse sich in einem solchen Falle vielleicht dann unterstellen, wenn es sich um die Kinder einer dem Erblasser sehr nahestehenden Person, etwa eines Bruders handele; bei der Zweifelhaftigkeit der Sache und Unmöglichkeit, eine Grenze zu ziehen, empfehle es sich aber, hier ohne eingehende gesetzliche Vorschriften alles der freien richterlichen Auslegung zu überlassen (Prot. Bd. 5 S. 33 ff). Danach hat das, was für den Fall des § 2069 im Gesetz anerkannt ist, daß nämlich auf dem Wege der Auslegung in der bloßen Einsetzung einer Person zugleich die Kundgebung des Willens einer Ersatzberufung gefunden werden könne, für Fälle, in denen der Bedachte ein Abkömmling des Erblassers ist, nicht ausgeschlossen werden sollen; vielmehr hat in diesen Fällen die Feststellung der Willensrichtung des Erblassers ohne jede Einschränkung durch eine positive Vorschrift der richterlichen Auslegung (§ 133 BGB) anheim gegeben werden sollen. Lassen sonstige Testamentsbestimmungen oder auch bloß Umstände außerhalb des Testaments erkennen, daß der Erblasser die Zuwendung nicht gerade nur der von ihm eingesetzten Person hat machen sondern für den ganzen Stamm hat gelten lassen wollen, also die Person nur als erste ihre Stammes benannt hat, so ist auch beim Fehlen der Voraussetzungen des § 2069 BGB eine stillschweigende Ersatzberufung anzunehmen. Die ausdehnende Auslegung der Einsetzung, die unter den Voraussetzungen des § 2069 im Zweifel, also ohne jeden weiteren innerhalb oder außerhalb des Testaments gegeben Anhalt, Platz zu greifen hat ist auch in anderen Fällen geboten, wenn anderweitig Umstände, sei es auch nur solche außerhalb des Testaments, die Auslegung als im Willen des Erblassers liegend erscheinen lassen.
Was gegen diese schon in den früheren Entscheidungen des Reichsgerichts dargelegten Gründe in dem Vorlegungsbeschluß eingewendet wird, kann nicht als durchgreifend anerkannt werden. Allerdings kann ein nicht erklärter Wille des Erblassers nicht ausgelegt werden. Das Kammergericht schließt an diesen nicht zu bezweifelnden Satz die Bemerkung: wer sich darauf beschränke, den A zum Erben zu berufen, bringe damit nicht zum Ausdrucke, daß unter Umständen ein anderer Erbe sein solle, und sagt in innerem Zusammenhange damit an anderer Stelle: in allen nicht unter § 2069 III zu bringenden Fällen, insbesondere bei der Zuwendung an einen Seitenverwandten, bilde die bloße Benennung des Bedachten für sich alleine keinen urkundlichen Ausdruck für die Ersatzberufung seiner Abkömmlinge, denn der §  2069 enthalte nicht nur eine Auslegungsregel, sondern eine gesetzlich vorgeschriebene Willensergänzung für einen bestimmten Fall und insoweit eine auf andere Fälle nicht auszudehnende Sondervorschrift. Ferner wird ausgeführt: sei der Wille der Berufung von Ersatzerben zur Zeit der Testamentserrichtung vorhanden gewesen, so werde von seiner Wiedergabe kaum jemals abgesehen sein; sei er damals nicht vorhanden, dem Erblasser nicht bewusst gewesen, so könne Geltung nicht beanspruchen; Ermittlungen darüber, was der Erblasser getan haben würde, wenn er an den Fall gedacht hätte, lägen neben der Sache.
Diese Ausführungen zeigen, daß das Kammergericht der Auslegung zu in die Grenze zieht. Wie der Senat schon in dem Urteil vom 18. Oktober 1917 angenommen hat ist für die Auslegung der letztwilligen Verfügungen in gewisser Hinsicht ein weiterer Raum als bei Rechtsgeschäften unter Lebenden. Das liegt in der Natur der Sache. Denn da die letztwillige Verfügungen nicht vor dem Erbfall wirksam wird, können in der Zwischenzeit nicht nur hinsichtlich des Gegenstandes sind Zuwendung, sondern auch hinsichtlich des Personenkreises der Bedachten Änderungen vorkommen. Das Gesetz gibt für einzelne solche Fälle Auslegungsregeln, so hinsichtlich des Gegenstandes in den §§ 2169 III, 2172 UU und 2173, hinsichtlich des Personenkreises in den §§ 2067 bis 2071. In den durch diese Regeln gewiesenen Richtungen ist auch in anderen Fällen sachlicher oder persönlicher Veränderungen durch Auslegung zu ermitteln, was nach der Willensrichtung des Erblassers zu der Zeit, da die Verfügung von ihm getroffen wurde, als von ihm gewollt anzusehen ist, sofern er vorausschauend das spätere Ereignis bedacht haben würde. So im Sinne des Erblassers ist auch eine ergänzende Auslegung möglich, durch die nach den Worten der Motive (Bd. 5 S. 44), "wenn in Ansehung eines notwendigen Punktes eine unmittelbare Willensbekundung fehlt..., der Willensinhalt aus der Erklärung im Ganzen und aus allen, auch außerhalb der Erklärung liegenden, aber für den Willen des Erklärenden schlüssigen Tatsachen vervollständigt werden und der so vervollständigte Willensinhalt zur Geltung gebracht werden darf."
Bei solcher Tragweite der Auslegung stellt sich der § 2069 BGB, trotzdem er nach seiner Zweckbestimmung und seinem umfassenden Wortlaute sich auch auf diejenigen Fälle bezieht, in denen der Erblasser an die Möglichkeit des vorzeitigen Wegfalls seines von ihm eingesetzten Abkömmlinge nicht gedacht hat, als eine reine Auslegungsregel dar, als eine gesetzliche Richtlinie für die Willenserforschung. Dies wird bestätigt durch die Fassung des Gesetzes "im Zweifel anzunehmen", die sich von der Fassung ergänzender Rechtssätze, wie des § 2066 Satz 1 (zu vgl. mit der Auslegungsregel in Satz 2 das.) und des § 2073, in sehr bezeichnender Weise unterscheidet. Ist dem aber so, sollte sich aus dem § 2069, daß nach der Anschauung des Gesetzgebers die Einsetzung einer Person ein der ausdehnenden Auslegung in dem hier in Rede stehenden Sinne fähiger Ausdruck ist, daß also, wer den A zum Erben beruft, damit unter Umständen in der Tat zum Ausdruck bringt, daß bei Wegfall des A, mag dieser Wegfall von voraus bedacht sein oder nicht, andere Personen, nämlich die zur gesetzlichen Erbfolge nach A berufenen Abkömmlinge, an dessen Stelle treten sollen. Bei diesem Standpunkt kann es auf sich beruhen, ob ein für einen bestimmten Fall die die Bilder ergänzender Rechtssatz von entsprechenden Anwendung auf andere Fälle schlechthin ausgeschlossen ist.
Der dargelegten Rechtslage werden die Vorentscheidungen nicht gerecht. Dadurch daß die Erblasserin ihren Schwestersohn Ernst Br. als Miterben einsetzte, hat sie möglicherweise zugleich den Antragsteller und seine Geschwister als Ersatzerben berufen. Dies würde zunächst dann anzunehmen sein, denn nachweisbar Umstände ergäben, daß die Erblasserin an die Möglichkeit des vorzeitigen Todes dessen Neffen gedacht und von einer Ersatz Berufung seiner Kinder nur deshalb abgesehen hat, weil sie das Einrücken der Kinder an die Stelle des Vaters für selbstverständlich hielt. Die Möglichkeit, eine stillschweigende Ersatzberufung anzunehmen ist aber auch dann gegeben, wenn die Erblasserin, was bei dem Altersunterschiede zwischen ihr und ihrem Neffen und ihrer Krankheit zur Zeit der Testamentserrichtung nicht unwahrscheinlich ist, daran, daß der Neffe vor ihr könnte, gar nicht gedacht haben sollte. Es kommt dann darauf an, ob die Erblasserin, wenn sie den eingetretenen Fall vorausbedacht hätte, nach ihrer erkennbaren Willensrichtung zur Zeit der Testamentserrichtung das Einrücken der Kinder ihres Schwester Sohnes gewollt haben würde. Aus diesen Gesichtspunkten hätte zunächst darauf Gewicht gelegt werden können, ob die beiden eingesetzten Schwesterkinder zur Zeit der Testamentserrichtung die einzigen Verwandten waren, die nach dem Gesetz erbberechtigt gewesen wäre. Träfe dies zu, so würde dadurch die Auffassung nahegelegt, daß die Erblasserin an der gesetzlichen Erbfolge nichts ändern wollte und das Testament nur richtete, um Vermächtnisse auszusetzen. Nach der gesetzlichen Erbfolge aber wären dann an die Stelle eines weggefallenen Geschwisterkindes dessen Kinder getreten. Sollte die beiden als Erben eingesetzten Geschwisterkinder zwar nicht die einzigen gesetzlichen Erben zur Zeit der Testamentserrichtung gewesen sein, aber neben ihnen dazu nur die unter Nr. II a-d des Testaments angeführten Vermächtnisnehmer, etwa als Kinder von Geschwisterkindern, gehört haben, so könnte daraus wiederum, gute Familienbeziehungen der Erblasserin zu allen Beteiligten vorausgesetzt, der Schluss gezogen werden, daß die Erblasserin, als sie andere Kinder und Geschwisterkindern oder noch entferntere Verwandte neben den als Erben eingesetzten Geschwisterkindern, deren Kindern aber nicht besonders bedachte, dies letztere nur deshalb unterließ, weil sie davon ausgehen daß diesen Kindern die für ihren Vater oder ihre Mutter ausgesetzt Erbteile entweder mittelbar oder unmittelbar zugute kommen würden.
Das Landgericht betrat da er mit seiner an den Beschwerdeführer gerichteten Zwischenverfügung den richtigen Weg. Es steckte den Rahmen der angestrebten Aufklärung in der Verfügung aber zu eng und verstieß gegen die dem Gericht im Erbscheinsverfahren nach § 2358 BGB, §§ 12,15 FGG obliegende Ermittlungspflicht, als es sich bei der Antwort des Beschwerdeführers, daß über das Verhältnis der Vermächtnisnehmer zu der Erblasserin keine Angaben machen können, ohne weiteres beruhigte und nicht z.B. die naheliegende Anhörung der Vermächtnisnehmer oder eines von ihnen über diesen Punkt veranlasste. Die erforderlichen Erhebungen werden zweckmäßigerweise vom Nachlaßgerichte vorgenommen werden. An dieses war die Sache daher unter Aufhebung der Vorentscheidungen zurückzuverweisen.